
Damals die Juden – heute die Russen

Von Hans-Ueli Läppli
Ein Dirigent verliert seine Auftritte. Eine Opernsängerin wird von Spielplänen gestrichen. Sportler dürfen nicht mehr antreten, nicht weil sie gedopt haben, sondern weil sie einen russischen Pass besitzen. Wissenschaftler werden von Forschungsprojekten ausgeladen, obwohl sie in der Schweiz leben. All das passiert heute. In Europa. Im Namen von Moral, Haltung – und Solidarität mit der Ukraine.

Doch in Russland, aber auch darüber hinaus, regt sich ein unangenehmes Déjà-vu. Die kollektive Ächtung einer ganzen Nation entlang ethnischer oder nationaler Zugehörigkeit erinnert an ein düsteres Kapitel des 20. Jahrhunderts: die frühe Phase der Judenverfolgung im nationalsozialistischen Deutschland.
Natürlich ist ein solcher Vergleich heikel. Die Shoah war einzigartig – ein industriell betriebenes Vernichtungsprogramm, getragen von einem totalitären Regime. Wer diesen Zivilisationsbruch relativiert, verharmlost das Unerträgliche. Doch auch historische Einmaligkeit schließt eine Lehre nicht aus: Ausgrenzung beginnt nie mit Gaskammern. Sie beginnt mit Stigmatisierung.
Ab 1933 wurden in Deutschland jüdische Sportler aus Vereinen ausgeschlossen, jüdische Musiker durften nicht mehr auftreten, Schauspieler verloren Engagements, Professoren ihre Lehrstühle. Begründet wurde dies damals mit der "Rassenschande" und einem angeblichen "Volkswillen". Heute heißt das Schlagwort "politische Verantwortung". Doch die Muster ähneln sich: Nicht die individuelle Haltung zählt, sondern die Herkunft, die Zugehörigkeit zu einer Nation, die gerade Feindbild ist.
Anna Netrebko durfte in Berlin, New York oder Zürich nicht mehr auftreten. Der Dirigent Waleri Gergijew verlor zahlreiche Posten, weil er Putin nicht öffentlich kritisierte. Russische Athleten werden von Wettbewerben ausgeschlossen, auch wenn sie nie politische Aussagen gemacht haben. Selbst Kinder aus Russland, die in westlichen Ländern trainieren, werden zunehmend benachteiligt.
Dabei geht es längst nicht mehr um Oligarchen. Die pauschale Ausgrenzung trifft auch jene, die Russland längst verlassen haben, die im Westen leben, forschen, lehren oder auftreten. Ihnen allen haftet plötzlich ein Makel an: ihre Staatsbürgerschaft. Der russische Pass ist zur kulturellen Hypothek geworden – zum Makel, der sich nicht durch Verhalten ablegen lässt.
Die französische Philosophin Catherine Clément warnte kürzlich vor einem "zivilisatorischen Rückfall". Es sei gefährlich, wenn die Staatsangehörigkeit wieder über soziale Teilhabe entscheide – und das unabhängig von individueller Verantwortung. Man müsse sich fragen, wie weit man bereit ist, kollektive Schuld zu unterstellen.
Während russische Athleten persönliche Bekenntnisse ablegen müssen, wird von israelischen Staatsbürgern keine Distanzierung von Netanjahus Gaza-Offensive eingefordert – obwohl dort täglich Kinder sterben.
Das Internationale Olympische Komitee hat russische Teams weitgehend ausgeschlossen. Sportler dürfen nur unter neutraler Flagge antreten – wenn sie sich zuvor politisch von ihrer Regierung distanzieren. Ein Zwangsbekenntnis, das weder für andere Länder noch für andere Konflikte gilt. Nur Russen sollen bekennen – oder schweigen.
Diese doppelte Moral fördert das, was einst die frühe NS-Zeit kennzeichnete: einen moralisch begründeten Ausschluss, der nicht auf Tat, sondern auf Zugehörigkeit basiert. Der jüdische Violinist wurde nicht ausgeschlossen, weil er schlecht spielte, sondern weil er Jude war.
Ausgeladen wird nicht der Pianist, der falsch spielt, sondern jener, der den falschen Pass trägt – oder den falschen Vornamen. Für eine Disqualifikation genügt es, russisch zu sein.
Noch ist kein Pogrom in Sicht. Noch gibt es keine Lager, keine Gesetze zur Russenfrage. Doch es gibt Listen, Einreiseverbote, Ausschlusskriterien und Sippenhaft aufgrund von Herkunft. Und es gibt eine breite gesellschaftliche Akzeptanz dieser Praxis. Wer Einwände erhebt, gilt schnell als Putin-Versteher oder unsensibel gegenüber ukrainischem Leid.
Doch wer aus der Geschichte aufrichtig lernen will, sollte unbedingt auch den Anfang sehen – nicht nur das Ende. Die frühen 1930er-Jahre begannen nicht mit Auschwitz, sondern mit Auftrittsverboten, Distanzierungsforderungen und ideologischer Säuberung der Bühnen und Sportplätze. Auch damals war es von vielen "gut gemeint".
Es ist ein gefährlicher Weg, wenn die Herkunft wieder zur Schuld, politische Symbolik über persönliche Leistung gestellt und Differenzierung dem Zeitgeist geopfert wird. Denn dann hat die Geschichte nicht nur begonnen, sich zu reimen, sondern sie beginnt sich zu wiederholen.
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