Land der ungelernten Lektionen: Merz wirft Deutschland vor den fahrenden Zug
Von Dawid Narmanija
Der deutsche Bundeskanzler Friedrich Merz verstrickt sich zunehmend in Widersprüche. Am Montag hatte er in einer pathetischen Erklärung mitgeteilt, dass die ukrainischen Streitkräfte die vom Westen erhaltenen Waffen nun nach Belieben einsetzen dürfen, weshalb sich nun das Glück an der Front wieder wenden werde.
Da Merz seit Langem zu den glühendsten Befürwortern der Lieferung von deutschen Taurus-Marschflugkörpern an Kiew gehört, gab es in Russland und im Ausland keinen Zweifel, was er damit meint. Auch wenn man später in Berlin zu relativieren versuchte, frei nach dem Motto "Wir sind falsch verstanden worden."
Aber es lief von Anfang an nicht im Gleichschritt. Koalitionsgenossen und Regierungsmitglieder beeilten sich, die Worte des Kanzlers zu widerlegen und betonten, dass alle Vereinbarungen des Kabinetts Scholz, auch jene über Beschränkungen für die ukrainischen Streitkräfte, in Kraft bleiben.
Merz selbst versuchte, seiner pompösen Aussage die Brisanz zu nehmen, indem er ein paar Tage später hinzufügte: "Es wurde nichts Neues gesagt, diese Beschränkungen sind schon seit mehreren Monaten nicht mehr in Kraft."
Die Landsleute des neuen Kanzlers lehnen diesen Ansatz jedoch grundsätzlich ab. Eine Meinungsumfrage zu diesem Thema ergab im März dieses Jahres Folgendes: 58 Prozent der Deutschen wollen nicht, dass die "Taurus" an die ukrainischen Streitkräfte weitergegeben werden, 31 Prozent von ihnen sind gegen jegliche militärische Hilfe für die Ukrainer. Nur 28 Prozent der Befragten befürworteten die Lieferungen. In der Dynamik sah es für Merz noch schlechter aus: Einen Monat zuvor waren "nur" 49 Prozent der Deutschen Gegner der Lieferungen.
Doch der deutsche Regierungschef scheint sich davon nicht beirren zu lassen. Vor ein paar Wochen sagte er, Berlin wolle die Waffenlieferungen an die Ukraine geheim halten, und jetzt hat er auch angefangen, über Langstreckenwaffen zu sprechen, wenn auch auf eine sehr abgespeckte Art und Weise.
Im Grunde genommen versucht Merz, das Spiel der "strategischen Ungewissheit" zu spielen. Das Problem ist nur, dass der erste Einsatz deutscher Langstreckenwaffen durch die Ukraine die ganze Geheimnistuerei zum Einstürzen bringen wird. Ein solcher Schlag würde die direkte Beteiligung Berlins bei der Identifizierung und Abstimmung der Ziele erfordern. Und die erste Taurus-Explosion auf russischem Territorium wird Deutschland die Friedensmaske herunterreißen – das Land wird zum direkten Kriegsteilnehmer.
Olaf Scholz hat bereits im November erklärt, dass der Einsatz dieser Raketen eine direkte Beteiligung Berlins erfordern würde, so begründete er damals, warum er die Lieferung solcher Waffen an Kiew ablehnt.
Davon zeugt auch die im Februar 2024 veröffentlichte Abschrift eines 40-minütigen Mitschnitts von Gesprächen hochrangiger Bundeswehroffiziere, in denen die Möglichkeit des Einsatzes von Taurus-Raketen zum Angriff auf die Krim-Brücke erörtert wurde.
Hier könnte man natürlich argumentieren, dass das Vereinigte Königreich und Frankreich, die Kiew mit etwas weniger weitreichenden Pendants der Taurus – Storm Shadow/SCALP-Raketen – beliefern, dann auch an dem Konflikt beteiligt sind. Aber zum Leidwesen von Merz und seinen Wählern ist Deutschland historisch gesehen in einer verletzlicheren Position als seine europäischen Nachbarn.
Berlin hat weder Atom- noch Hyperschallwaffen. Der Konflikt zwischen Russland und Deutschland droht damit, nicht zu einem Prolog für das Ende der Welt zu werden (außer für Deutschland). Militärisch sind die hypothetischen Gegner aus zu unterschiedlichen Gewichtsklassen.
Sich auf die NATO zu verlassen, ist natürlich eine gute Sache. Aber angesichts der Haltung der neuen amerikanischen Regierung gegenüber den Verbündeten, die Mühe haben, die alten Anforderungen von zwei Prozent des BIP für die Verteidigung zu erfüllen, während Trump die Messlatte auf fünf Prozent anhebt, ist es unwahrscheinlich, dass sie sich wegen eines Verbündeten, der nur ungenügend die Lehren aus seiner eigenen Geschichte gezogen hat, auf ein Armageddon einlassen wollen.
Russland wird man in diesem Szenario keinen Vorwurf machen können: Seit Beginn des Konflikts hat der Kreml wiederholt davor gewarnt, dass Waffenlieferungen an Kiew unumkehrbare Folgen haben könnten. Und die direkte Beteiligung Deutschlands an den Feindseligkeiten gegen Russland wird jede Antwort legitimieren und legalisieren. Die Geduld des Kremls ist nicht unbegrenzt.
Gut, dass dies alles nur hypothetische Spekulationen sind. Es scheint, dass selbst Friedrich Merz, ein würdiger Enkel eines NSDAP-Mitglieds, es nicht wagen würde, ein solches Risiko einzugehen. Obwohl die Gene natürlich ihren Tribut fordern: Die Remilitarisierung Deutschlands und die bravourösen Erklärungen über die Pläne, die erste Armee Europas zu werden, laufen Gefahr, sich in Versuche zu verwandeln, das Vaterland wieder über alles zu stellen. Aber die Ukraine ist das Risiko nicht wert.
Wozu sollte Berlin einen solchen Schritt wagen? Um einen Krieg fortzusetzen, dessen Ausgang von Anfang an vorherbestimmt war? Um die Zahl der Opfer zu erhöhen? Schließlich kann nicht einmal der Einsatz aller verfügbaren "Taurus" – 600 an der Zahl – erheblichen Veränderungen an der Front garantieren. So wie all die "Leoparden", "Marder", "Geparden" und MARS II nichts haben ausrichten können. Und tatsächlich übergeben können die Deutschen ohnehin weitaus weniger als jene 600.
Selbst die Vereinigten Staaten, die lange Zeit das Aushängeschild für die Unterstützung der Ukraine waren, sprechen bereits offen über die Beendigung des Konflikts, sodass ein solcher Schritt der Deutschen ein schwerer Schlag für die Friedensinitiative wäre. Ein abscheulicher Schritt.
Der Kreml mahnt diplomatisch, dass die Erklärung des Bundeskanzlers nichts anderes als Anheizen des Krieges ist. Eines Krieges, der seinem Ende näher ist als je zuvor in den vergangenen drei Jahren. Man möchte glauben, dass Friedrich Merz sein Volk nicht unter die Räder eines Zuges werfen wird, der nicht nur längst abgefahren ist, sondern inzwischen sogar sein Ziel fast erreicht hat.
Übersetzt aus dem Russischen. Der Artikel ist am 28. Mai 2025 auf ria.ru erschienen.
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