Marschflugkörper-Merz – mitten im innenpolitischen Selbstmord?

Von Geworg Mirsajan
Deutschland war schon immer für seine Gründlichkeit, den Hang, alles zu durchdenken, Konsequenz und seinen Pragmatismus bekannt. Zumindest ist dies das Bild, das in der russischen Kultur geprägt wurde. Das (größtenteils positive) Bild deutscher Pedanten eben – ganz anders als die Vorurteile über französische Poser oder italienische Schreihälse.
Doch das heutige Berlin ist im Begriff, dieses Bild zu zerstören.
Erst hebt Bundeskanzler Friedrich Merz die Beschränkungen der Reichweite der von Deutschland nach Kiew gelieferten Raketen auf (die zuvor eingeführt worden waren, um die Beziehungen zu Moskau nicht an den Rand eines Krieges zu bringen):
"Das heißt also, die Ukraine kann sich jetzt auch verteidigen – auch verteidigen, indem sie zum Beispiel militärische Stellungen in Russland angreift. Das konnte sie bis vor einiger Zeit nicht, das hat sie bis vor einiger Zeit bis auf ganz wenige Ausnahmen nicht getan. Das kann sie jetzt. Wir nennen das im Jargon Long-Range-Fire. Also auch mit Waffen die Ukraine auszustatten, die militärische Ziele im Hinterland angreifen."
Doch dann meldet sich der deutsche Vizekanzler Lars Klingbeil zu Wort, dementiert die Position seines Chefs und versichert stattdessen:
"Es gibt keinen neuen Stand.
Was die Reichweite angeht, will ich Ihnen auch sagen, es gibt keine neue Verabredung, die über das hinausgeht, was die bisherige Regierung gemacht hat."
Rein theoretisch könnte man jetzt natürlich vermuten, dass Kanzler und Vizekanzler beschlossen haben, die öffentliche Meinung zu einem so sensiblen Thema vorab auszuloten: Dass Merz also zunächst diese Idee einwarf, woraufhin speziell geschulte Experten die Reaktionen analysierten – sowohl aus Russland (das Angriffe mit Langstreckenwaffen als Beteiligung von Ländern betrachtet, die Raketen liefern und warten, an einem Krieg gegen sich selbst) als auch aus der deutschen Öffentlichkeit, die keinen direkten Krieg mit Moskau will. Und dass in der Phase zwei Klingbeil vorsprach und alle beruhigte. Anschließend werden andere Leute in der Form speziell geschulter Experten die Reaktionen analysieren und dem Kanzler einen Bericht darüber vorlegen, ob eine tatsächliche Aufhebung der Reichweitenbeschränkung für Raketen zeitgemäß sei oder nicht.
Gute und schöne Hergangs-Version, keine Frage – doch ist auch sie nicht ohne Mängel. Für solche Spielchen braucht man beispielsweise nicht gleich schweres Kaliber aufzufahren wie den Kanzler: Irgendein stellvertretender Minister, dessen Ruf man sorgenfrei opfern kann, hätte es auch getan; Merz aber schadet mit derlei demonstrativen Einwürfen nur seinen eigenen Umfragewerten. Außerdem benötigt man Zeit, um die Reaktion der Öffentlichkeit abzulesen – mindestens einen Tag, vielleicht auch zwei; hier jedoch ist zwischen dem Einwurf und dem Dementi nicht einmal ein halber Tag vergangen.
Und schließlich: Warum sollte man noch und nöcher die deutsche öffentliche Meinung untersuchen, wenn doch bereits reichlich Umfrageergebnisse vorliegen, denen zufolge die Unterstützung für das Kiewer Regime (und gleichzeitig die Schwere des Opfers auf diesem Altar, zu dem die Deutschen bereit sind) stetig sinkt? So sank von Februar bis Dezember 2024 der Anteil der Befürworter der Idee, die Ukraine im Krieg mit Russland bis zum Ende zu unterstützen, von 40 auf 28 Prozent. Zwar sind 54 Prozent der Deutschen der Meinung, der Westen unterstütze die Ukraine nicht ausreichend – doch nur 21 Prozent der Befragten meinen, dass Deutschland der Ukraine mehr Unterstützung gewähren sollte. Kurzum: 79 Prozent der Befragten lehnen es ab, Kiew zu erlauben, mit deutschen Waffen tief in Russland zuzuschlagen.
Daher erscheinen zwei andere Erklärungen viel wahrscheinlicher. Und es ist auch möglich, dass beide zutreffen.
Die erste ist, dass das Hin und Her von Merz und seinen Mitstreitern ein Beweis für die völlige Verwirrung der westlichen Eliten im Nachgang zu den Verhandlungen zwischen Wladimir Putin und Donald Trump ist. Verhandlungen, in denen der US-Präsident die westliche Koalition faktisch im Stich gelassen hat: Er weigerte sich, Moskau ein Ultimatum zu stellen oder antirussische Sanktionen zu verhängen.
Darüber hinaus habe sich Washington laut einigen westlichen Medien aus der Abstimmung der antirussischen Sanktionspolitik mit der EU zurückgezogen und stehe kurz davor, dem Kiewer Regime auch die Finanzierung zu verweigern.
Daher ist Europa bei seinen Initiativen zur Ukraine jetzt auf sich allein gestellt. Es versucht, reges Handeln vorzutäuschen und gleichzeitig den Einsatz so weit wie möglich zu erhöhen, um seine eigene Bedeutung zu demonstrieren. Dazu gehört auch das öffentliche Überschreiten der von Wladimir Putin gesetzten roten Linien, in der Hoffnung, dass Washington aus Angst vor "unkontrollierten europäischen Verrückten" zur Koalition zurückkehrt – oder gar Wladimir Putin darauf anhaut, der Europäischen Union doch noch einen Platz am Verhandlungstisch zu gewähren. Na ja, einfach damit sie keinen Aufstand macht und Unfug treibt.
Die zweite Erklärung liefert uns das Durcheinander, das wir innerhalb der deutschen Regierungskoalition beobachten. Viele haben bereits gesagt, dass der Versuch, den Elefanten mit dem Wal zu kreuzen, also rechte Christdemokraten und linke Sozialisten in einer Regierung zu vereinen, unter den gegenwärtigen Bedingungen ein Fehler wäre – zumal in einem radikalisierten europäischen politischen Umfeld, in dem die Rechte in ihrer Agenda eher nochmals nach rechts und die Linke eher nochmals nach links tendiert. Dies würde zu einer allgemeinen Lähmung der Macht führen, da Christdemokraten und Sozialdemokraten nicht in der Lage wären, einen gemeinsamen politischen Ansatz für eine ganze Reihe von Themen zu entwickeln – Steuern, Migration, Ukraine.
Und wer sagt’s denn: Tatsächlich ist genau das passiert. Nachdem der Bundeskanzler seine persönliche Position geäußert hatte (die er und seine CDU bereits vor der Wahl vertreten hatten), äußerte Vizekanzler Lars Klingbeil, der auch als Co-Vorsitzender der SPD fungiert, eine andere. Die Tatsache aber, dass beide widersprüchlichen Aussagen öffentlich gemacht wurden, zeigt, dass auch Verhandlungen hinter den Kulissen nicht zu Ergebnissen führen. Und wenn es genügend solcher öffentlichen Dementis und Meinungsverschiedenheiten gibt, dann drohen vorgezogene Parlamentswahlen. Und wenn unter Merz der Kanzlersessel schließlich zusammenbricht, wird dies für Moskau das beste Ergebnis sein: Friedrich Merz ist derzeit Russlands Gegner, der sich weigert, die neuen Realitäten des Ukraine-Konflikts zu akzeptieren und sich ihnen anzupassen. Sollten also die Fantasien und Wünsche des Kanzlers seine politische Karriere begraben, dann wird dies vielleicht ein abschreckendes Beispiel für andere europäische Politiker sein – für Politiker, die ihre Länder sorgfältig, umsichtig, konsequent und pragmatisch regieren wollen.
Übersetzt aus dem Russischen.
Geworg Mirsajan ist außerordentlicher Professor an der Finanzuniversität der Regierung der Russischen Föderation, Politikwissenschaftler und eine Persönlichkeit des öffentlichen Lebens. Geboren wurde er 1984 in Taschkent. Er erwarb seinen Abschluss an der Staatlichen Universität Kuban und promovierte in Politikwissenschaft mit dem Schwerpunkt USA. Er war von 2005 bis 2016 Forscher am Institut für die Vereinigten Staaten und Kanada an der Russischen Akademie der Wissenschaften.
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