Meinung

Sanktionen gegen Deutsche: Die Wiedererfindung der Reichsacht

Je länger man über die Aufnahme von Alina Lipp und Thomas Röper auf die EU-Sanktionsliste nachdenkt, desto gravierender wird der damit vollzogene Rechtsbruch. Man muss sich die konkreten Folgen in Deutschland vorstellen, um die wahre Bedeutung zu erfassen.
Sanktionen gegen Deutsche: Die Wiedererfindung der Reichsacht© Anton von Werner, Public domain, via Wikimedia Commons

Von Dagmar Henn

"So haben wir [...] verordnet und gesetzt, dass der gemeldt Martin Luther in die Acht und Aberacht des Heiligen Römischen Reichs getan sei, und dass niemand ihn beherbergen, speisen, tränken, schützen oder helfen solle, sunder ein jeder, so ihn findet, gefangen nehmen und uns oder unseren Beamten überantworten solle, bei Verlust aller seiner Güter, Leib und Lebens."

Wormser Edikt 1521

Deutschland macht sich also wieder mal zum Vorreiter. Das ist das Erste, was man festhalten muss im Zusammenhang mit den ersten gegen EU-Bürger verhängten Sanktionen. Denn niemand wird glauben, dass der Antrieb, zwei deutsche Journalisten auf die Sanktionsliste zu setzen, aus Portugal oder Griechenland kam. Nein, da war schon das deutsche Außenministerium der Motor, mit Sicherheit noch unter Annalena Baerbock ausgekocht, aber eben letztlich beschlossen unter der Ägide des neuen Außenministers Johann Wadephul.

Genauso muss man das auch sehen. Eine deutsche Regierung nutzt die Entscheidungen der EU, um Schritte beschließen zu lassen, die nach deutschem Recht vollkommen illegal sind. Denn was da passiert, ist eine schrittweise Aufhebung der Staatsbürgerschaft: Der Eingriff in existenzielle Rechte ist so tief, dass im Grunde nur noch der formale Entzug des Passes fehlt. Und selbst das wäre nicht ausgeschlossen ‒ schließlich hat schon Frau Faeser ins Passgesetz geschrieben, dass bereits vergebene Pässe wieder entzogen werden können, und über das Bundespolizeigesetz dafür gesorgt, dass das auch an der Grenze geschehen kann, in beide Richtungen.

Der neue Außenminister Wadephul hat auch noch angekündigt, er werde dafür werben, bei weiteren Sanktionsmöglichkeiten keine Denkverbote zu haben. Eine Formulierung, über die man nicht weiter nachdenken will, wenn man sieht, was jetzt bereits vom Stapel gelassen wurde.

Schauen wir einmal genauer an, was diese Sanktionen bedeuten. In der EU-Verordnung 2024/2642 wird definiert, was alles betroffen ist. Letztlich betreffen sie alle Finanzmittel und alle Waren und Dienstleistungen, auch die Fahrkarte für den öffentlichen Nahverkehr oder eine Semmel beim Bäcker. Jeder, der mit Betroffenen einen Vertrag schließt, ihnen Geld zukommen lässt oder Leistungen erbringt (wie eine Hotelübernachtung beispielsweise), macht sich der Sanktionsumgehung schuldig. Ein Konstrukt, das eigentlich nur noch mit der mittelalterlichen Acht verglichen werden kann.

Ja, es gibt eine Ausnahme "zur Befriedigung der Grundbedürfnisse". "Einschließlich für die Bezahlung von Nahrungsmitteln, Mieten oder Hypotheken, Medikamenten und medizinischer Behandlung, Steuern, Versicherungsprämien und Gebühren öffentlicher Verwaltungseinrichtungen". Nur ‒ jede Transaktion muss genehmigt werden. Und zwar, wenn es um den Zugriff auf Geld geht, vom Servicezentrum Finanzsanktionen der Deutschen Bundesbank, und wenn es um Güter und Dienstleistungen geht, vom Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle (BAFA).

Die Szene beim Bäcker verliefe also vermutlich so: Röper ruft von seinem Handy aus beim BAFA an und erklärt, er habe Hunger und wolle ein belegtes Brot kaufen. Was natürlich voraussetzt, dass er das während der Arbeitszeiten der Behörde tut. Woraufhin vielleicht der zuständige Mitarbeiter des BAFA bittet, mit dem Verkäufer reden zu dürfen. Röper reicht sein Handy weiter, und der Bäckereiverkäuferin wird erklärt, sie dürfe dieses eine belegte Brot jetzt verkaufen. Aber nur dieses, und keine weiteren, sonst mache sie sich strafbar. Außerdem müsse sie die Daten der Transaktion aufzeichnen und an das BAFA schicken.

Oder aber der Mitarbeiter hat schlechte Laune und hält deshalb das belegte Brot für unnötig. Nach welchen Kriterien entscheidet denn das BAFA, was nötig ist und was nicht? Entscheidet es darüber, wie teuer ein gebuchtes Hotel sein darf, oder ob eine Taxifahrt erlaubt ist? Müsste sich ein derart Sanktionierter dann bei jeder wirtschaftlichen Transaktion ausweisen, um nicht Gefahr zu laufen, sich strafbar zu machen? Also, selbst wenn die Sanktionierung nicht bedeutet, dass schon die Einreise nach Deutschland unmöglich ist, wie soll die Existenz in Deutschland möglich sein, auch nur für einen begrenzten Zeitraum? In dauerhafter Begleitung eines Anwalts, der jederzeit bereitsteht, Klage zu erheben, wenn die Semmel nicht genehmigt wird?

Übrigens finden sich die Regelungen zur Straftat Sanktionsumgehung nicht im Strafgesetzbuch, sondern im Außenwirtschaftsgesetz ‒ das die möglichen Geschäftspartner Sanktionierter verpflichtet, die zuständigen Behörden zu informieren. Und wer die oben beschriebene Szene in der Bäckerei für überzogen hält ‒ diese Regelungen kennen keine Geringfügigkeitsgrenze. Strenggenommen müsste ein Bettler auf der Straße bei der Bundesbank Meldung erstatten und eine Genehmigung erfragen, ehe er vom oben beschriebenen fiktiven Thomas Röper (der echte wäre kaum dumm genug, unter diesen Bedingungen nach Deutschland zu reisen) einen Euro entgegennimmt.

Dies eine Aberkennung der Staatsbürgerschaft zu nennen, ist untertrieben. Sobald man sich mit der konkreten Umsetzung beschäftigt, falls einer der Betroffenen das staatsbürgerliche Recht, sich im eigenen Land aufzuhalten, in Anspruch nähme, ist der Eingriff ins alltägliche Leben derart weitreichend, dass er nur noch mit der Reichsacht zu vergleichen ist. Es fehlt nur noch jener Teil der Entrechtung, der mit "vogelfrei" am passendsten umschrieben ist, nämlich dass der Geächtete von jedermann straffrei getötet werden darf. Aber der erste Teil der Acht, das Verbot "zu beherbergen, speisen, tränken, schützen oder helfen", ist vollumfänglich aus den Bestimmungen herauszulesen.

Nun kann man das bei Martin Luther nachvollziehen, gegen den diese Reichsacht im zitierten Wormser Edikt verhängt wurde. Die Reformation war eine der großen Erschütterungen der Frühen Neuzeit, in deren Gefolge der Deutsche Bauernkrieg von 1525 ebenso steht wie der Dreißigjährige Krieg von 1618 bis 1648. Man könnte also sagen, die Verhängung der Acht beruhte auf einer realistischen Einschätzung der möglichen Folgen. Außerdem war es eine etablierte rechtliche Maßnahme, die in den Jahrhunderten zuvor öfter zur Anwendung gekommen war, in einem Rechtssystem, dem bürgerliche Rechte noch fremd waren.

Letzte Reste der Acht finden sich noch im Strafrecht in Gestalt der Entziehung des aktiven und passiven Wahlrechts und des Rechts, öffentliche Ämter auszuüben. Zeitlich begrenzt für maximal fünf Jahre. Alle anderen Formen wurden in der Bundesrepublik mit der Strafrechtsreform 1969 abgeschafft. Dabei war die Abschaffung des "bürgerlichen Tods" Bestandteil der Forderung der Revolution von 1848. Der französische Code Civil enthielt bis 1854 die Möglichkeit, jemandem das Eigentum und die Geschäftsfähigkeit abzuerkennen.

Feige, wie die regierende Berliner Bande nun einmal ist, vollzieht sie diesen Zeitsprung zurück nicht auf der eigentlich dafür vorgesehenen Bühne, dem Bundestag, und gießt ihren Angriff auf die bürgerliche Freiheit in die Gestalt eines Gesetzes, mit ordentlicher Debatte und Öffentlichkeit. Nein, sie nutzt eine EU-Verordnung, um ihre Hände in Unschuld zu waschen, während sie einen Rechtszustand aus finsterster Vergangenheit wiederbelebt und dabei so tut, als ginge es gar nicht um Rechte eigener Staatsbürger.

Das sind dieselben, die sich andernorts, etwa im Gutachten des Bundesamts für Verfassungsschutz über die AfD, so verhalten, als wäre das Recht, sich ohne jede Beschränkung in Deutschland aufzuhalten, ein Menschenrecht und kein Staatsbürgerprivileg. Das Ergebnis dieser Mischung nennt sich Willkür, und das ist womöglich auch das Ziel. Deutsche Staatsbürger für die Ausübung ihrer bürgerlichen Rechte in Deutschland in einen Zustand völliger Rechtlosigkeit zu versetzen, also den Rechtsanspruch eines jeden auf bestenfalls "Schutz" einzudampfen, eine Angleichung nach unten.

Das Argument, man könne schließlich rechtlich dagegen vorgehen, und die Sanktionen sähen es ja sogar vor, einen Anwalt bezahlen zu können, ist eine leere Hülse. Wie viele Anwälte gibt es noch in Deutschland, die es wagen, Prozesse um die Meinungsfreiheit zu führen und Angeklagte zu verteidigen, die im Visier der staatlichen Verfolgung stehen? Fünf? Zehn? Das Risiko ist hoch. Wer solche Fälle annimmt, muss wirtschaftlich auf festen Beinen stehen. Der Zustand ist inzwischen auch im Bereich des politischen Rechts so, wie er sich im Sozialrecht in den letzten 20 Jahren entwickelt hat: Theoretisch gibt es einen Anspruch auf einen Anwalt, praktisch muss man erst einmal einen finden und den dann auch noch bezahlen können. Im Gegensatz zu Flüchtlingen, die für ihre Vertretung inzwischen auf ein ganzes Netz an Juristen und Hilfsorganisationen zurückgreifen können, müssen Verfechter der Meinungsfreiheit ihre Unterstützung auf dem freien Markt suchen.

"Soweit nach diesem Grundgesetz ein Grundrecht durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes eingeschränkt werden kann, muss das Gesetz allgemein und nicht nur für den Einzelfall gelten. Außerdem muss das Gesetz das Grundrecht unter Angabe des Artikels nennen. [...] Wird jemand durch die öffentliche Gewalt in seinen Rechten verletzt, so steht ihm der Rechtsweg offen." Das ist Artikel 19 Grundgesetz. Zusammen mit Artikel 20 (3) ist das die Kernformulierung des Rechtsstaatsgebots: "Die Gesetzgebung ist an die verfassungsmäßige Ordnung, die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung sind an Gesetz und Recht gebunden."

Das ist der wahre Grund, warum diese wiederbelebte Reichsacht gewissermaßen exterritorial verhängt wurde. Was in dieser EU-Verordnung beschlossen wurde, wäre nach deutschem Recht als Umgang mit eigenen Staatsbürgern nicht legal. Man will Schritte unternehmen, wie sie zuletzt zwischen 1933 und 1945 üblich waren, aber dabei vorgeben können, als hätte man nichts damit zu tun. Und die anderen EU-Staaten blicken auf diese Überschreitung und planen vermutlich bereits, ihr gleichzutun.

Nein, da kann man nicht mehr darüber debattieren, ob das mehr oder weniger gerechtfertigt ist. Die Neuerfindung der Reichsacht ist mit der UN-Erklärung der Menschenrechte inkompatibel. Grundsätzlich und für immer. Das ist Unrecht, das nur als abschreckendes Beispiel für künftige Juristengenerationen zu gebrauchen ist. Da tritt selbst die Tatsache, dass die Vorwürfe Lappalien sind, im Verhältnis zum Charakter der Maßnahme weit in den Hintergrund. Wer auch immer das ausgekocht hat ‒ jedem davon müsste das Recht entzogen werden, je wieder in irgendeiner Weise mit Rechtsetzung oder Rechtsprechung zu tun zu haben.

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