Meinung

Realitätsfern – Sigmar Gabriels Vorschlag, Russland erneut die Abrüstungsfalle zu stellen

Jüngste Vorschläge des Ex-Außenministers zur gemeinsamen Abrüstung bodengestützter Mittelstreckenraketen der USA und Russlands in Europa sollen Russland seine fortschrittlichsten Abschreckungswaffen rauben – deren Einsatz zudem nicht zwingend zum Atomkrieg führt.
Realitätsfern – Sigmar Gabriels Vorschlag, Russland erneut die Abrüstungsfalle zu stellen© US Army Photo

Von Sergei Strokan

In der deutschen Politik, die mit dem Amtsantritt des künftigen Bundeskanzlers Friedrich Merz Gefahr läuft, alle Rekorde der Russophobie seit dem Zweiten Weltkrieg zu brechen, wurde plötzlich eine ganz unerwartete Stimme aus der jüngsten Vergangenheit laut. Diese Stimme ist die des ehemaligen deutschen Außenministers Sigmar Gabriel von den Sozialdemokraten.

Diese machen derzeit schwere Zeiten durch. Und Persönlichkeiten in der Lage eines Gabriel – der momentan, nach dem Fiasko um Olaf Scholz, zusammen mit seinen Parteigenossen die Fähigkeit verloren hat, die Politik Berlins mitzubestimmen – geben von Zeit zu Zeit eindringliche und publikumswirksame Erklärungen ab. So erinnern sie die Menschen an sich selbst und deuten ihnen an, dass sie das Recht behalten, öffentlich darüber zu sprechen, wie das heutige Deutschland, das sich an einem historischen Scheideweg befindet, organisiert und wie seine Sicherheit gewährleistet werden sollte – zumal vor dem Hintergrund, dass diese Aufgabe heute zu einer Gleichung mit vielen Unbekannten geworden ist.

Diese Unbekannten sind unter anderem der Ukraine-Konflikt, die Spaltung der EU, die Krise der NATO, die da verschiedene Wege zum Bekämpfen der "russischen Bedrohung" ausprobiert, und schließlich der Test der transatlantischen Solidarität durch US-Präsident Donald Trump.

Und nun tut uns also ein prominenter Berliner Polit-Rentner kund, was seiner Meinung nach getan werden müsse, um die Angst vor russischen Raketen zu überwinden, die auf Deutschland gezielt sind. Um dies zu erreichen, müsse Russland entwaffnet werden, findet der ehemalige Chef des deutschen Außenministeriums. Doch wie soll das nur vonstattengehen?

Gabriel schlägt vor, auf die Erfahrungen der Abrüstungsära in der zweiten Hälfte der 1980er-Jahre zurückzugreifen. Damals war der Kalte Krieg noch in vollem Gange, aber gleichzeitig lag in Europa bereits ein Hauch großer Veränderungen in der Luft: Die Berliner Mauer fristete ihre letzten Jahre, und die UdSSR des letzten sowjetischen Generalsekretärs Michail Gorbatschow spielte zusammen (so dachten viele Bürger des Landes. Anm. d. Red.) mit dem Westen enthusiastisch so spannende Spiele wie "neues Denken" und die Schaffung einer "gewaltfreien, atomwaffenfreien Welt".

Wenn er an die Erfahrungen der Vergangenheit erinnert, bietet Gabriel deutschen Politikern und Militärstrategen natürlich eine für unsere neue Ära relevante Lesart dieser Erfahrungen. Gabriels Rezept besteht nämlich darin, zunächst mehr US-amerikanische bodengestützte Mittelstreckenraketen und gegebenenfalls Marschflugkörper in Europa stationieren zu lassen – und anschließend Russland Abrüstungsmaßnahmen anzubieten.

"Ich würde mir wünschen, dass die Stationierungsentscheidung für neue Mittelstreckenraketen erstens nicht nur in Deutschland erfolgt und uns damit zum einzigen Zielland macht.

Und außerdem würde ich mir wie in den 1980er-Jahren ein paralleles Abrüstungsangebot an Russland wünschen: Wenn Russland bereit ist, seine bereits stationierten Mittelstreckenraketen abzuziehen, dann können wir im Gegenzug auf die Stationierung verzichten.

Es liegt in Russlands Hand, ob wir in Europa weiter einen Kurs der Aufrüstung haben oder nicht."

Diese Vorschläge verweisen auf Vereinbarungen zur Stärkung der US-Militärpräsenz in Deutschland, die in der Endphase der Amtszeit von Präsident Joe Biden erzielt wurden, und bauen auf ihnen auf: Im vergangenen Juli veröffentlichten Washington und Berlin eine gemeinsame Erklärung, in der es hieß, die USA würden "episodisch" mit der Stationierung neuer Waffen mit größerer Reichweite in Deutschland beginnen, darunter auch Hyperschallwaffen. Als Reaktion auf diese Entscheidung erklärte der stellvertretende Leiter des russischen Außenministeriums Sergei Rjabkow, Moskau habe lange vorausschauend mit der Arbeit an Gegenmaßnahmen gegen die Entscheidung zur Stationierung US-amerikanischer Mittel- und Kurzstreckenraketen in Deutschland begonnen.

Was der ehemalige Chef des deutschen Außenministeriums vorschlägt, ist dem Wesen nach eine Rückkehr zu den Erfahrungen des US-sowjetischen Vertrags über nukleare Mittelstreckensysteme (INF), den Ronald Reagan und Gorbatschow 1987 unterzeichneten. Damals ermöglichte der INF-Vertrag erstmals in der Geschichte die Liquidierung einer ganzen Waffenklasse – nämlich aller bodengestützten ballistischen Raketen- und Marschflugkörpersysteme mittlerer und kürzerer Reichweite. Gemäß dem INF-Vertrag sollten die in Europa stationierten US-amerikanischen ballistischen Raketen vom Typ Pershing und Marschflugkörper vom Typ Tomahawk zerstört werden, während die UdSSR neben anderen Raketenarsenalen auch ihre brandneuen RSD-10 Pionier vernichtete, im NATO-Jargon als SS-20 Saber und in Deutschland zumindest laut dem Spiegel als "Schrecken Europas" bekannt.

Während seiner ersten Amtszeit als Präsident im Jahr 2019 setzte Trump den Vertrag aufgrund falscher Verstoßvorwürfe gegen Russland aus, Moskau reagierte entsprechend, und somit war der INF-Vertrag Geschichte.

Und da hatte jetzt also ein deutscher Politiker im De-facto-Ruhestand eine Vision davon, wie das Gespenst des INF-Vertrags aus der Perestroika-Ära durch Europa geistert.

Plötzlich halluzinierte er, es sei möglich, mit Moskau (nicht mehr dem Moskau Gorbatschows, sondern dem Wladimir Putins) ein neues Spiel mit der "Option Null" nach Reagan zu beginnen, das auf der gleichen Logik wie der Kalte Krieg basieren würde. Nur jetzt eben der des heutigen Kalter Kriegs 2.0.

Gabriel positionierte sich einst als Friedenstaube und forderte eine neue Abrüstungsära. Er befürwortete dabei den Dialog mit Russland und nahm sogar persönlich daran teil – was für die derzeit herrschende Klasse in Deutschland schlicht undenkbar ist. Das ändert allerdings nichts an der heutigen Sachlage – zumal auch er heute von der "russischen Bedrohung" spricht und dabei wie eine "Taube im Stahlgefieder" wirkt. Was Gabriel da vorschlägt, ist lediglich ein Nullsummenspiel, an dessen Ende Moskau in eine Abrüstungsfalle gelockt und gezwungen werden soll, seine Iskander und vor allem die mächtigen Oreschnik aufzugeben. Auf so etwas kann allerdings nur ein Mensch kommen, der jeglichen Realitätssinn endgültig verloren hat.

Übersetzt aus dem Russischen.

Sergei Strokan ist Beobachter für internationale Politik mit 25-jähriger Erfahrung. Heute ist er in dieser Eigenschaft im russischen Verlagshaus Kommersant tätig. Diesen Kommentar verfasste er exklusiv für RT.

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