Meinung

In der Ostsee wird weiter gekapert

Eine kurze Zeit lang konnte man hoffen, die Provokationen in der Ostsee hätten ein Ende gefunden. In den vergangenen Tagen wurde aber wieder nachgelegt. Mittlerweile sind zwei Schiffe wegen ein und desselben Kabels festgesetzt.
In der Ostsee wird weiter gekapertQuelle: www.globallookpress.com © IMAGO/Antti Aimo-Koivisto

Von Dagmar Henn

Das Spiel geht weiter, immer schön mit der Begründung, es seien Kabel beschädigt worden. Inzwischen wurden für einen einzigen Schaden an einem (nur wenige Zentimeter dicken) Glasfaserkabel gleich zwei verschiedene Schiffe festgesetzt: ein norwegisches Schiff, die Silver Dania (IMO 8808604), in Norwegen, und die Vezhen (IMO 9937270) in Schweden. Erstere ist ein palettiertes Frachtschiff, letztere ein Schüttgutfrachter, also beide keine Tanker.

Wobei man hinzufügen muss, dass zumindest im neuesten Fall, dem der Silver Dania, keine Verletzung des Seerechts stattgefunden hat, da die norwegischen Behörden ein Schiff unter norwegischer Flagge jederzeit unter ihre Kontrolle bringen dürfen – es handelt sich ja gewissermaßen um schwimmendes eigenes Staatsgebiet. Anders sieht es natürlich mit der Vezhen aus, die nun schon seit drei Tagen in Karlskrona in Schweden vor Anker liegt; sie fährt unter maltesischer Flagge, geht also die schwedischen Behörden gar nichts an, sofern nicht eine der wenigen Ausnahmen zutrifft, die das internationale Seerecht dafür kennt: wie den Verdacht von Sklavenhandel oder Piraterie.

Die ganze Kabelgeschichte ist natürlich heute nicht weniger an den Haaren herbeigezogen als schon am ersten Tag. Im Gegensatz zu einer massiven Struktur wie den Nord-Stream-Pipelines – mit Beton ummantelte Stahlrohre – sind diese Kabel nicht sehr haltbar. Was nahelegt, dass die Kosten, solche Kabel von Zeit zu Zeit zu reparieren, geringer sind als die Kosten, diese Kabel in Rohren oder tiefer im Meeresgrund zu verlegen.

Nur: Die ganzen letzten Jahrzehnte über war die Beschädigung eines solchen Kabels bestenfalls eine einmalige Kurzmeldung wert. Was natürlich auch der Grund ist, warum die ganze Geschichte funktioniert. Das Publikum hat schlicht keine Vergleichswerte.

Übrigens ist die Reparatur in der Ostsee vergleichsweise einfach. Die maximale Meerestiefe beträgt 459 Meter, im Durchschnitt sind es aber nur 52 Meter. 2022 wurde ein Kabel, das die Pazifikinsel Tonga mit dem Internet verband, durch einen Vulkanausbruch gekappt; dieses Kabel lag in bis zu 3.500 Metern Tiefe. Damals berichtete die Süddeutsche darüber und führte aus: "Wird ein Unterseekabel beschädigt, bekommen die meisten Menschen davon nicht viel mit. Alle wichtigen Glasfaserstrecken wie zum Beispiel von Europa in die USA würden doppelt geführt. … Reiße eines davon, springe automatisch die Datenübertragung des Doppelgängers ein." Es gibt Karten solcher Unterwasserkabel, die zeigen, dass die wirklich zentralen Stränge nicht durch die Ostsee verlaufen, aber beispielsweise durchs Mittelmeer.

Die Vezhen ist übrigens ein neues Schiff, gebaut erst 2022, während die Silver Dania, gebaut 1989 in Papenburg, schon betagt ist. Sie fährt nicht nur unter norwegischer Flagge, sondern hat auch norwegische Eigner und – da widersprechen sich die Meldungen – entweder einer norwegischen oder einer bulgarischen Reederei und entweder einer russischen Besatzung oder Seeleuten aus Bulgarien und Myanmar.

Aber selbst die Anwesenheit russischer Seeleute hätte ganz simple Gründe. Länder, die eine große Marine unterhalten, liefern Seeleute, die bereits auf Kosten des jeweiligen Staates ausgebildet wurden, weshalb insbesondere Russland vergleichsweise viele Offiziere liefert. Allerdings scheint derzeit jeder Vorwand recht, um die Nummer mit der "Kabelsabotage" weiterzuspinnen. Schließlich wurden auch schon Schiffe festgesetzt, an denen einzig das transportierte Öl russisch war, oder der Hafen, von dem aus sie zuletzt in See gestochen sind.

Die Eventin liegt immer noch vor Sassnitz. Das Zollamt Stralsund hat sich vermutlich noch nicht weit genug in die gesetzlichen Regelungen eingearbeitet, um festgestellt zu haben, dass Waren auf einem unter der Flagge von Panama fahrenden Schiff sich nicht in der EU befinden und daher auch nicht gegen EU-Recht verstoßen können. Die Eagle S liegt immer noch vor Finnland. Die finnischen Behörden hatten erklärt, das Schiff sei nicht seetüchtig. Die Yi Peng 3, der chinesische Frachter, mit dem das Kabelspiel begonnen hatte, ist zumindest inzwischen vor der vietnamesischen Küste unterwegs.

Dass nun wieder frisch nachgelegt wurde, ist ein wenig irritierend - schließlich hatte die Washington Post, der enge Kontakte zu US-Geheimdiensten nachgesagt werden, vor weniger als zwei Wochen mitgeteilt, die Kabelschäden seien auf Unfälle auf See und mitnichten auf "russische Sabotage" zurückzuführen. Was sich auch als Mitteilung an die Westeuropäer lesen lässt: "Lasst es". Und das sogar noch vor dem Amtsantritt von Donald Trump.

Allerdings erschien jetzt ein Artikel an anderer Stelle, in einer der drei führenden außenpolitischen Zeitschriften der USA, Foreign Policy, der in genau die entgegengesetzte Richtung drängt, nämlich Trump zu überzeugen, Sekundärsanktionen für die mythische "Schattenflotte" auch bezogen auf die Westroute des Öltransports zu verhängen; also beispielsweise Indien dafür zu sanktionieren, russisches Öl anlanden zu lassen, das aus einem der Ostseehäfen stammt.

Zur Begründung wird ein Vertreter der Brookings Institution zitiert, einem der älteren, den Demokraten nahestehenden Thinktanks: "Die Schattenflotte ist aus den russischen Ostseehäfen besonders aktiv, die auch der bei weitem größte Umschlagplatz für russisches Öl sind." Zusätzliche Sanktionen dort seien "der wirkungsvollste Weg, um Russland zu verletzen und westliche Entschlossenheit bei der Ukraine zu zeigen".

Immerhin gesteht auch der Autor dieses Textes ein, dass eine Blockade russischer Öllieferungen "die Preise in den Himmel schießen lassen und damit zu Inflation und langsamerem Wirtschaftswachstum führen würde".

Das wirkt wie ein Gegenzug in der US-internen Auseinandersetzung, während die EU- und NATO-Blase rund um die Ostsee zwar vorübergehend in eine Schreckstarre verfiel, weil nicht abzusehen war, in welche Richtung sich der große Bruder unter Trump bewegt, aber nun anscheinend glaubt, das gefährliche Spiel wieder aufnehmen zu können. Dass die ganze Strategie nach wie vor aus den USA gedeckt wird (von wem auch immer, womöglich auch ohne Kenntnis der Regierung Trump), zeigt sich auch daran, dass zuletzt eine verstärkte Präsenz von US-Navy-Angehörigen in Rostock gemeldet wurde; ohne dass ein Schiff der US-Marine in Rostock vor Anker lag.

Dabei spielen weit mehr Faktoren eine Rolle, als das Personal in Brüssel oder Rostock vermutlich im Blick hat. Die Enthüllung von DeepSeek, der chinesischen KI, war so etwas wie ein Schuss vor den Bug, ein deutlicher Hinweis darauf, dass sich China mit weit mehr als nur militärischen Mitteln zur Wehr setzen und unerwartete Treffer zufügen kann. Bisher bestand das wirkungsvollste nicht militärische Drohpotenzial Chinas in der Möglichkeit, den Dollar zum Absturz zu bringen, indem alle US-Staatspapiere auf einen Schlag feilgeboten werden. Seit einigen Tagen ist klar, dass es noch andere Möglichkeiten besitzen dürfte – technologische, die bisher genauso wenig enthüllt sind wie vermutlich diverse Produkte russischer Raketenentwickler. Klar ist jedenfalls, zwei oder drei Fälle wie DeepSeek auf einmal würden das internationale Finanzsystem mindestens ebenso effektiv zum Absturz bringen wie die US-Staatsanleihen.

Aber wer sagt, dass der DeepSeek-Zug nur mit den Drohungen von Zöllen zu tun hatte und nicht auch mit den Versuchen, die Lieferung russischen Öls nach China zu behindern? China dürfte das – zurecht – als einen Angriff auf seine Entwicklungsmöglichkeiten sehen und darauf bei weitem nicht so freundlich reagieren wie Deutschland auf die Nord Stream Sprengung. Weil die Chinesen aber die Chinesen sind, werden sie das nicht über eine Pressemeldung mitteilen.

Und Indien? Das wird von den USA seit Jahren umgarnt, nicht erst seitens der Biden-Regierung; aber auch hier würde ein Kappen der russischen Ölversorgung nicht als freundliche Handlung aufgenommen und letztlich die strategischen Aussichten der USA eher verschlechtern. Schließlich machen indische Raffinerien dank der Sanktionen gute Geschäfte mit der Umwandlung russischen Rohöls in indisches Benzin. Wären die Ukraine, die den Krieg so oder so verloren hat, und die Eitelkeit der Europäer es wert, dafür in Asien weiter Einfluss zu verlieren?

Die Lunte in der Ostsee ist nicht allzu lang. Nachdem wohl weiter Schiffe festgesetzt werden, bleiben als Gegenmaßnahmen genau zwei Schritte übrig – Fahrten im Konvoi unter militärischer Begleitung, was angesichts der Tatsache, dass dann die beiden Seiten sofort unmittelbar aufeinanderstießen, eher unwahrscheinlich ist; oder aber das Auftauchen bewaffneter Begleitung auf den Schiffen, die aus russischen Ostseehäfen kommen.

Da Schiffe rechtlich als exterritorial gelten, ist so etwas möglich; die Reedereien können bewaffnetes Personal anheuern, um Schiffe vor Kaperung zu schützen. So wurde schon vielfach vor Somalia oder in der Straße von Malakka verfahren. Damit wäre es für die Behörden der NATO-Länder deutlich riskanter, Schiffe entern oder festsetzen zu wollen, aber es käme eben noch nicht zu unmittelbaren Kriegshandlungen.

Letztlich wird die Entscheidung in Washington fallen, ob man die Balten und ihre Freunde (die schon davon träumen, die Ostsee zu einem gebührenpflichtigen NATO-Binnenmeer zu machen) zur Vernunft ruft oder ob das ganze Theater doch so weit getrieben wird, bis zwei Staaten aufeinanderstoßen. Bisher wurde jedenfalls tunlichst vermieden, eines der – durchaus vorhandenen – unter russischer Flagge fahrenden Schiffe anzutasten. Die für die illegalen Übergriffe gewählten Ziele wirken allesamt so, als müsse sich der Propagandaapparat erst weiter warmlaufen.

Nun, der anstehende Regierungswechsel in Deutschland wäre eine gute Gelegenheit, diesen Kurs zu korrigieren. Schließlich ist es auf diesem Gebiet so, dass auch die Deutschen etwas im Feuer haben. Viele große Containerschiffe nämlich, die vor allem Routen von und nach China bedienen, und die bei einer eskalierenden Auseinandersetzung auch bei der Verrichtung ihrer Geschäfte gestört werden könnten (vielleicht ist dieser Zusammenhang ja der Grund, warum in der Ostsee Tanker gekapert wurden, die nach Indien unterwegs waren, nicht nach China). Selbstverständlich fahren auch diese Schiffe nicht unter deutscher Flagge, und auch die Eigentümer sind nicht auf den ersten Blick zu erkennen, aber die Huthi haben bewiesen, dass es nicht allzu schwer ist, an diese Informationen zu kommen.

Vor diesem Hintergrund ist schon erstaunlich, dass nicht schon Bundeskanzler Scholz mit seinen engen Verbindungen zu Hamburger Pfeffersäcken die Reißleine gezogen hat und Außenministerin Baerbock ungehemmt weiter hetzen ließ. Das lässt sich fast nur durch die arrogante Erwartung erklären, dass das diplomatisch übliche Wie-du-mir-so-ich-dir in diesem Zusammenhang nicht gilt, weil da doch der große Bruder in Washington ist; aber diese blinde Zuversicht könnte schwinden, denn für den großen Bruder wäre es vernünftiger, den Vorschlägen in Foreign Policy nicht zu folgen. Dann wird es eine Neubesetzung im Auswärtigen Amt in Berlin meistern müssen, den fast schon angefachten Brand wieder zu löschen.

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