Meinung

Der heimliche Wahlprüfstein: Souveränität

Man müsste in der deutschen Politik eigentlich regelmäßig Sechser wegen Themaverfehlung verteilen. Denn im Grunde wird meistens um das wirkliche Thema herumgeredet, und das auch noch von so gut wie allen Beteiligten. Wie beim ‒ neben dem Frieden ‒ wichtigsten Thema: Souveränität.
Der heimliche Wahlprüfstein: SouveränitätQuelle: www.globallookpress.com © Christoph Schmidt

Von Dagmar Henn

Im Kern der meisten politischen Auseinandersetzungen dieser Bundestagswahl steht ein Thema, das kaum ausgesprochen werden darf: Souveränität. Nicht nur bei der Frage der Migration, auch bei allem, was mit EU und NATO und der ganzen Kriegstreiberei zu tun hat. Dabei ist nicht nur einfach der Begriff tabu, sondern es scheint zumindest im westlichen Teil der Republik sogar eine Wahrnehmung dafür zu fehlen, worum es dabei geht ‒ obwohl Souveränität und Demokratie nicht voneinander getrennt werden können.

Über Jahrzehnte hinweg wurde den Insassen der Bundesrepublik eingebläut, dass Grenzen im Grunde schlecht sind. Das dürfte in keinem Land Westeuropas so tief eingedrungen sein wie dort, und die Gründe dafür sind mehrfach: die immer schon starke Orientierung der Industrie auf den Export (die schon seit Beginn des vergangenen Jahrhunderts immer wieder dominiert) und die Propaganda gegen den anderen deutschen Staat, der schließlich das Gegenteil tat und seine Grenze sogar physisch sichtbar stärkte.

Grenzen sind jedoch die Grundlage jeder Art von Souveränität. Sie definieren, wo welche Gesetze gelten. In der Zeit der deutschen Kleinstaaterei definierten sie auch, welcher Konfession man angehörte, welche Maßeinheiten und Währungen galten, ja sogar, welche Uhrzeit. Ohne Grenze gibt es kein Territorium. Genau an diesem Punkt unterscheiden sich die modernen Nationalstaaten von den Feudalherrschaften früherer Jahrhunderte. Letztere wirkten schlicht so weit, wie der jeweilige Feudalherr, gleich, ob Ritter oder Kaiser, seine Macht ausdehnen konnte. Welche Hautfarbe die jeweiligen Untertanen hatten oder welche Sprache sie sprachen, spielte dabei keine Rolle.

Demokratie aber ist, unabhängig davon, wie sehr sie verwirklicht wird, von Sprache abhängig. Das Stichwort lautet "informierte Entscheidung". Ohne sprachliche Kommunikation sind bürgerliche Rechte nur Fiktion. Genau aus diesem Grund haben die bürgerlich-demokratischen Staaten auch größere Probleme mit Minderheiten, als sie die Feudalherrschaft davor hatte. Das kann man exemplarisch bei Frankreich verfolgen ‒ die Auseinandersetzungen um die Minderheitssprachen Bretonisch, Baskisch und Okzitanisch kennzeichnen die Republik, nicht das Königreich Frankreich. Die Notwendigkeit der einheitlichen Staatssprache ist also die Grundlage der Teilnahme am demokratischen Prozess und gleichzeitig eine Bedrohung der regionalen Kultur.

Solange, wie im oben erwähnten französischen Fall, diese unterschiedlichen sprachlichen Bereiche geografisch voneinander getrennt sind, lässt sich das noch, wenn auch mit beträchtlichem Aufwand, kompensieren. Wie dieser Aufwand aussieht, kann man am Muster der Sowjetunion betrachten, in der peinlich genau darauf geachtet wurde, dass jede geografische Minderheit innerhalb ihres Gebiets Entscheidungen in der eigenen Sprache treffen konnte, obwohl das Russische überall zumindest zweite Amtssprache war.

Mit vielen verschiedenen, aber räumlich nicht getrennten, Minderheiten wird das Problem aber unlösbar, und im Grunde ist die erzwungene Staatssprache die einzige Lösung. Man muss sich nur eine Elternversammlung in einem Kindergarten vorstellen, in dem Eltern aus 20 verschiedenen Nationen vertreten sind. Wir reden hier nicht von einer juristischen, sondern von einer funktionalen Rechtlosigkeit ‒ ohne gemeinsame Sprache sind Verhandlungen, Kompromisse, ist eben Verständigung unmöglich.

Das ist geradezu die Potenzierung des französischen Problems, denn die gelobte "Diversität" erfordert einen immer höheren Druck, um die Kommunikationsgrundlage zu sichern, oder die Preisgabe der Demokratie. In diesem Zusammenhang lösen auch Formulare in zehn verschiedenen Sprachen gar nichts. Wenn man schon bei der einheimischen Bevölkerung feststellt, dass die politische Bildung unterirdisch ist, wie soll das dann in dieser babylonischen Sprachverwirrung gelingen, Interessen und Bedürfnisse klar zu formulieren und in den politischen Prozess einzubringen?

Die Frage, ob es beliebig sein kann, welche Menschen auf einem bestimmten Staatsgebiet leben, tangiert also nicht nur das Sozial- oder das Bildungssystem, sondern die Möglichkeit eines demokratischen Prozesses. Die Voraussetzung einer demokratischen Entscheidung innerhalb einer jeden Gruppe ist eine klare Trennung zwischen drinnen und draußen. Niemand käme auf den Gedanken, die Linienführung einer Buslinie in Stadt A von den Bürgern von Stadt B entscheiden zu lassen. Wenn es aber um den Nationalstaat Deutschland geht, gilt es inzwischen schon als "fremdenfeindlich", überhaupt zu erwähnen, dass es Fremde gibt.

Jedes Recht ist abgeleitet aus der Souveränität. Bezogen auf das Migrationsrecht und die Rolle der EU existiert ein eigenartiger Zwischenzustand ‒ die Grundlage des ganzen "EU-Rechts" ist der Lissabon-Vertrag, dem auch von deutschen Gerichten Verfassungsrang zuerkannt wird, obwohl er keine Verfassung ist. Er sollte einmal eine werden, scheiterte in den Volksentscheiden in Frankreich und Irland und wurde dann ohne Beteiligung der Bevölkerungen beschlossen. Die ganze Existenz des angeblich höherrangigen "EU-Rechts" leitet sich aus Ermächtigungen ab, die auf diesem Vertrag beruhen. Wenn man betrachtet, in welchen Maßen Souveränität inzwischen an Brüssel abgetreten ist, ein rechtlich sehr fragwürdiger Zustand.

In der Migrationspolitik beruht das Brüsseler Konstrukt auf der Behauptung, die Außengrenzen der EU seien entscheidend. Allerdings sind diese Außengrenzen eben keine der EU, sondern diejenigen einzelner Mitgliedsstaaten. Was das Problem massenhafter Migration schon deshalb fast unlösbar macht, weil Länder wie Polen oder Frankreich wenig Interesse daran haben, eigene Mittel in eben diese Grenzsicherung zu investieren, solange sie einfach nur bis Deutschland durchmarschieren lassen können.

Der Grund, warum dieser halbgare Zustand aus Brüssel noch forciert wird, ist wieder einmal das Brüsseler Eigeninteresse: Wenn man die Notwendigkeit einer wirklich europäischen Grenzsicherung schafft (beispielsweise an der polnischen Grenze), dann ist das ein weiterer deutlicher Machtzuwachs für die Brüsseler Bürokratie, die sich damit einen Schritt weiter einer Staatlichkeit annähert, die nur unter Preisgabe der nationalen Souveränitäten möglich ist.

Der EU-Struktur fehlen aber alle Voraussetzungen, demokratisch sein zu können. Nicht nur, dass das EU-Parlament eben keines ist, weil es das "EU-Recht" bestenfalls abnicken darf, und dass die zu einer demokratischen Entscheidung gehörende Öffentlichkeit nicht existiert, weil die wirkliche politische Debatte nach wie vor national ist ‒ wirkliche demokratische Prozesse leiden selbst unter der Größe. Die Rechtfertigung, die gern für diese supranationale Struktur gegeben wird, ist, dass nur ein vereintes Europa im Chor der Großmächte mitsingen könne. Aber die Bürger dieses Monstrums wurden nie gefragt, ob ihnen nicht die Demokratie wichtiger wäre als Großmachtambitionen.

Die Deutschen wurden ganz besonders nicht gefragt. Nicht einmal zur "Wiedervereinigung", schon gar nicht bezüglich der NATO-Mitgliedschaft. Die wurde für die Bundesrepublik zusammen mit der Wiederbewaffnung in der ersten Hälfte der 1950er, unter Preisgabe der Option der Einheit, mit Brachialgewalt durchgesetzt (das Ausmaß politischer Verfolgung in jenen Jahren wird erst jetzt wieder erreicht), und 1990 wurde sie von Bundeskanzler Kohl gegenüber dem damaligen US-Präsidenten George Bush schlicht unter der Hand zugesagt. In der ganzen Zeit dazwischen wurde so getan, als sei die Stationierung fremder Truppen ein völlig natürlicher Zustand. Er hätte spätestens mit dem Abzug der sowjetischen Armee auch auf Westseite beendet werden müssen. Aber inzwischen fehlt bei vielen bereits die Wahrnehmung dafür, dass so etwas der Souveränität widerspricht. Was wiederum Anlass als auch Wirkung dessen sein könnte, dass es nicht erlaubt ist, "Fremde" wahrzunehmen.

Das Völkerrecht ist übrigens in dieser Hinsicht ziemlich erbarmungslos. Angehörige fremder Armeen können nur auf zweierlei Weise auf einem Staatsgebiet anwesend sein: durch einen völkerrechtlichen Vertrag genehmigt oder als kriegerische Handlung. Da gibt es keinen Zwischenzustand, keine Halbtöne. Das ist ein Punkt, der in Deutschland bewusst in der Grauzone gehalten wird. Sind die US-Truppen, die nach wie vor stationiert sind, nun Verbündete oder Besatzungsmacht? Ist ihre Anwesenheit das Ergebnis einer Übereinkunft zwischen zwei souveränen Staaten oder als Besatzung die Fortführung einer Kriegshandlung?

Es gibt ein Detail, das eher auf Letzteres verweist: zwei US-Kommandos in Deutschland, die mit Deutschland nichts zu tun haben, CENTCOM und AFRICOM. Die Anwesenheit von EUCOM, des europäischen Kommandos, ließe sich noch über ein Bündnis rechtfertigen. Die Anwesenheit der anderen beiden nicht. Sie agieren exklusiv im US-Interesse, lenken US-Militär im Nahen Osten und eben in Afrika, haben also eigentlich auf deutschem Boden nichts verloren. Außer...

Nun, der faktische Souveränitätsverlust seit der "Wiedervereinigung" und dem Abzug der sowjetischen Truppen ist ein weiteres Argument für die Variante "Besatzung". Und es gibt einen ebenfalls völkerrechtlichen Grund dafür, warum das nicht wahrgenommen werden soll (der womöglich die eigentliche Ursache dafür ist, warum bezogen auf Palästina so gern gelogen wird) ‒ gegen eine Besatzung gibt es ein Widerstandsrecht. Ja, da wird es wirklich fies, wenn man das Völkerrecht beim Wort nimmt. Achtzig Jahre sind eine verdammt lange Zeit, und um die Demokratisierung Deutschlands kann es dabei ebenso wenig gehen wie um den "Schutz vor dem Kommunismus". Im Gegenteil: Das, was in der BRD einmal an Demokratisierung erreicht wurde, wird ja nun eifrigst entsorgt.

Widerstandsrecht gegen eine Besatzung, das heißt nicht nur, dass man vor Kasernen demonstrieren darf. Nein, das Widerstandsrecht schließt militärische Handlungen gegen die Besatzer mit ein. So sieht es das Völkerrecht. Eine klare Wahrnehmung der Tatsache, dass die Anwesenheit der US-Truppen die deutsche Souveränität verletzt, muss deshalb mit allen Mitteln verhindert werden. Denn wie es andernfalls zugehen würde, wären sich die Deutschen bewusst, was Souveränität bedeutet, kann man in den Geschichtsbüchern unter der französischen Besetzung des Ruhrgebiets nachlesen (die übrigens von den Kommunisten ebenso bekämpft wurde wie von den Nationalisten).

Heikel, oder? Noch heikler wird das, wenn man hinzufügt, dass eben diese Besatzungsmacht mit der Sprengung von Nord Stream Deutschland de facto den Krieg erklärt hat. Dass die überwiegende Mehrheit des politischen Personals so tut, als sei da nichts gewesen, und zumindest unter der Biden-Regierung nicht schnell genug den US-Offiziellen auf den Schoß springen (oder sich eher rückwärtig annähern) konnte, ändert nichts an diesem Sachverhalt.

Würde man diese beiden Punkte zusammenführen, müsste man zumindest auf der Ebene der abstrakten völkerrechtlichen Betrachtung zu dem Schluss kommen, dass jede Form des Angriffs gegen US-Einrichtungen in Deutschland durch Deutsche vom Völkerrecht gedeckt ist. Praktisch hätte das zwar keine Folgen, weil schließlich die deutsche Polizei den Vorgaben der deutschen Politik folgt, aber es sollte zumindest einmal gesagt werden, um klarzumachen, wie weit die aktuelle Wirklichkeit von dem entfernt ist, was aus dem Konzept der Souveränität folgen würde.

Womit wir uns dem letzten Begriff nähern, der ebenfalls aus der Vorstellung der Souveränität entspringt ‒ der Frage des Verrats. Die man sich an vielen Punkten der jüngeren deutschen Geschichte stellen muss, beispielsweise bei Kohls Gestaltung der Annexion oder bei der Abgabe von Teilen der Souveränität an Brüssel, aber in den letzten Jahren in stetig steigendem Ausmaß. Bundeskanzler Olaf Scholz, Wirtschaftsminister Robert Habeck, Außenministerin Annalena Baerbock agieren und agierten mit Sicherheit in jemandes Interesse, aber nicht im deutschen. Das ist, was mit dem Begriff "Verrat" gemeint ist (und nicht Fotografien von Grafenwöhr). Das Verhältnis nicht nur zu Russland, sondern auch zu den Vereinigten Staaten und zu Brüssel im Sinne einer deutschen Souveränität zu definieren, wäre die vordringliche Aufgabe der deutschen Politik. Die (möglichen) Verräter sind zum Glück einfach zu erkennen: Sie betonen überdeutlich, wie europäisch und transatlantisch sie doch sind.

Wie auch immer die Wahl ausgeht, die Chancen auf eine souveräne Entwicklung sind gering. Dazu müssten die Deutschen erst wieder erkennen, wie wichtig Souveränität ist. Aber vielleicht schwindet zumindest der Nebel etwas, der über diese Frage gebreitet wurde.

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