Globale Arbeitsteilung oder Fragen zukünftiger Gerechtigkeit
Von Dagmar Henn
Manchmal tauchen in den augenblicklichen geopolitischen Auseinandersetzungen Fragen auf, die womöglich einen ganz anderen Kern haben, als es auf den ersten Augenblick scheint. Ein Beispiel dafür? Die von Donald Trump angekündigten Versuche, die USA zu reindustrialisieren.
Abgesehen vom Offensichtlichen – dass nämlich Industrie die Grundlage militärischer Macht ist, und die Vereinigten Staaten sich in dieser Hinsicht selbst die Machtgrundlage entzogen haben, und dass es sich dabei um den Versuch handelt, den Aufstieg Chinas so weit möglich zu behindern – steckt dahinter noch ein ganz anderes Problem, das selbst unter idealen Bedingungen einer Lösung bedürfte. Und auf das es noch keine Antwort gibt.
Erinnern wir uns an das Beispiel Boeing. Es ist utopisch, hoch entwickelte Industrien zu halten, wenn es eine Spitze ohne Basis ist. Das liegt nicht nur an der eingeschränkten Auswahl beim verfügbaren Personal, oder an dem weitgehend übersehenen Problem, dass trotz aller Formalisierungsversuche gerade in allen irgendwie handwerklichen Bereichen große Teile des Wissens informell sind und nach wie vor nur von Person zu Person weitergegeben werden (einer der Gründe für die hohe Qualität deutscher Handwerksausbildungen besteht darin, dass das duale System auch den informellen Teil mit einschließen kann); das liegt auch an der Eigenschaft industrieller Produktion als gesellschaftliches System.
Damit sind beispielsweise viele Dinge gemeint, die früher als "deutsche Sekundärtugenden" galten, also Pünktlichkeit, Genauigkeit... Wenn man es böse formulieren will, geht es um die Einpassung des Menschen in den industriellen Apparat. Es ist nicht einfach, jemanden aus einer Subsistenzlandwirtschaft zu reißen und ihm beizubringen, dass eine Schraube von 5 Millimetern Durchmesser genau 5 und nicht 4,95 oder 5,1 Millimeter haben muss. Ohne die Vorstellung von Normung, ohne eine Internalisierung dieser Vorstellung, erweist sich komplexere Produktion als unmöglich.
Letztendlich geht das Problem noch tiefer. Industrielle Produktion bedeutet vergesellschaftete Produktion, und das bedeutet, die Vorstellung des einzelnen Beteiligten, Teil eines größeren Kollektivs zu sein, verbessert die Funktionsfähigkeit des Systems. In diesem Zusammenhang kann man in den aktuellen Gesellschaften des Westens mehrere Entwicklungen erkennen. Auf der einen Seite wurde, etwa in den Achtzigerjahren, das Konzept von "Corporate Identity" eingeführt, das versuchte, die Loyalitätsbeziehungen, von denen die japanische Industrie früher profitierte (und die, was die Struktur dieser Beziehungen anging, klassische feudale Züge von persönlichen Bindungen hatte), irgendwie zu übernehmen, ohne gleichzeitig die materielle Grundlage mitzuliefern, die beispielsweise darin bestand, dass ein Chef verpflichtet war, die Autoreparatur zu zahlen, wenn ein Mitarbeiter wegen eines kaputten Fahrzeugs nicht zur Arbeit kommen konnte.
Es blieb also nur eine Ansammlung von Werberichtlinien übrig. Zur selben Zeit gab es aber mehrere Umbrüche, die genau in die Gegenrichtung wirkten, und das massiv. Arbeitsstellen wurden zu Jobs, und das wurde gezielt gefördert; vermeintlich, um mehr Flexibilität zu erzwingen, im Kern aber, um die Gewerkschaften und die Möglichkeit organisierter Gegenwehr zu untergraben – ohne zu verstehen, dass die Aufhebung kollektiver Strukturen notwendigerweise eine Rückwirkung auf die Funktionsfähigkeit des industriellen Apparats, sprich auf die mögliche Produktivität hat.
Boeing ist das Muster dafür, wie sich in einer vollkommen individualisierten Gesellschaft mit geringer sozialer Sicherheit, geringer technisch-handwerklicher Bildung und nur noch Restbeständen von Industrie die Industriegesellschaft auflöst. Nicht mehr funktionsfähig ist. Der ganze Prozess, der in den Vereinigten Staaten spätestens in den 1860ern begann, gleichsam von vorne begonnen werden muss, aber ohne auf die Strukturen des kleinen Handwerks zurückgreifen zu können, die damals noch vorhanden waren.
Vermutlich lässt es sich sogar mithilfe entsprechender Daten berechnen, wie hoch der Anteil realer industrieller Produktion in einer Gesellschaft sein muss, damit sie ihre Fähigkeit zu ebendieser Produktion nicht verliert. Das Niveau des 18. und des beginnenden 19. Jahrhunderts ist sicher noch zu schaffen, aber Bereiche, in denen es auf spezialisierte Kenntnisse ankommt wie eben Flugzeugbau? Genau da wird es schwierig.
Es gibt also einen durchaus legitimen Kern in den Forderungen, die Trump stellt. Er lautet: Wir brauchen genug Industrie, um unser gesellschaftliches Entwicklungsniveau halten zu können. Das ist eine Tatsache, die selbst, wenn alle Auseinandersetzungen um das Imperium gelöst wären, selbst, wenn alle globalen Beziehungen auf Grundsätzen der Gleichheit beruhten und sogar die private Aneignung ein Phänomen der Vergangenheit wäre, nicht verschwindet.
Und es ist noch ein gutes Stück komplizierter. Es ist auffällig, dass der nächste anstehende Entwicklungsschritt in der Produktion von Gütern, die weitgehend vollständige Automatisierung, die bereits lange als "Industrie 4.0" im Gespräch war, nach wie vor kaum realisiert wurde. Stattdessen gibt es haufenweise Bestrebungen, die Entwicklung der Produktivkräfte auszubremsen oder gar zurückzudrehen, wie beispielsweise durch die Klimaideologie (die in logischer Konsequenz irgendwann bei der Tretmühle enden würde). Nehmen wir doch einfach mal an, all das gäbe es nicht, und die Projektionen einer automatisierten Produktion (mit all dem, was hintendran hängt, wie automatisiertem Transport etc.) würden Realität.
Als erstes gäbe es wieder das Boeing-Problem. Selbst die perfektesten Maschinen müssen gebaut und gewartet werden. Menschen, die derartige Maschinen warten, müssen sie verstehen. Gesetzt den Fall, jede Fabrik wäre nur noch mit Robotern besetzt – auf welche Weise könnte sichergestellt werden, dass dauerhaft das Personal zur Wartung vorhanden ist? Vor allem, wenn man berücksichtigt, dass es eben nicht genügt, irgendjemanden mit ein paar technischen Kenntnissen zu versehen. Und auf welche Weise wäre sichergestellt, dass, selbst wenn auch das automatisierbar wäre, die Gesellschaft dann nicht zu einem Haufen blubbernder Idioten degeneriert, die irgendwann die göttlichen Automaten anbeten, statt sie zu beherrschen?
Wohlgemerkt, wir reden hier von jenen idealen Bedingungen, die theoretisch mittlerweile möglich wären. Die Befriedigung aller grundlegenden Bedürfnisse durch fortgeschrittene industrielle Produktion (voll automatisierte Landwirtschaft inklusive). Das wäre kein ganz so einfacher Zustand, wie man sich das vor zweihundert Jahren vorstellte, und es stellen sich neue Fragen der Gerechtigkeit.
Die derzeitige industrielle Struktur tendiert zu einigen sehr dichten industriellen Zentren und weiten Teilen des Globus, die von der Industriegesellschaft nach wie vor abgekoppelt sind. Es wäre jetzt schon schwierig, jenen übersehenen Teilen der Welt, wie großen Teilen Afrikas, industrielle Entwicklung zu ermöglichen, ohne andernorts ein Absinken unter die (wahrscheinliche) Minimalschwelle auszulösen, die kulturelle Voraussetzung für eine Industriegesellschaft ist. Wenn die projizierte Automatisierung umgesetzt würde, wird das noch schwieriger.
Aber selbst unter den angenommenen idealen Voraussetzungen (dem, was Marxisten die klassenlose Gesellschaft nennen) bliebe diese Frage bestehen. Denn wenn die Verteilung der industriellen Produktion nicht vorgenommen wird, entstünde selbst unter den Voraussetzungen der Bedürfnisbefriedigung aus der Arbeitsteilung zwischen jenen Gebieten/Ländern, in denen das technische Niveau gehalten wird, und jenen, die bezogen auf höhere technische Entwicklungen nur Empfänger sind, eine neue Hierarchie.
Wenn man die Theorie ernst nimmt, die David Graeber in seinem Buch "Bullshit Jobs" vor einigen Jahren aufgestellt hat (und für die einiges zu sprechen scheint), dass letztlich bereits in der Weltwirtschaftskrise vor bald einhundert Jahren unzählige produktive Arbeitsplätze verschwanden und seitdem diese Lücke durch die Erfindung unzähliger weitgehend überflüssiger Tätigkeiten kompensiert wurde (die EU ist übrigens Meisterin dieser Disziplin), um zu verhindern, dass das ganze System aus Mangel an zahlungsfähigen Konsumenten zusammenbricht, wird klar, dass dieses Problem schon längst den Alltag bestimmt. Die Folgen zeigen sich sowohl im US-amerikanischen Rust Belt als auch im deutschen Ruhrgebiet, das im Grunde seit dem ersten Einschlag bei der Kohleförderung bereits Ende der 1960er nie mehr wirklich auf die Beine kam, als gesamte Region.
Ein Teil dieses augenblicklichen Zustands ist ein Ergebnis der kapitalistischen Produktion. Ein Teil ist auch, wenn man Graebers Annahmen ernst nimmt, das Resultat der Tatsachen, dass das, was Marxisten die gesellschaftlich notwendige Arbeit nennen, also jene Menge an Arbeit, die für die nötige Produktion und die für die Erhaltung der Gesellschaft erforderlichen Tätigkeiten aufgewandt werden muss, bereits seit langem weit unter den Arbeitszeiten liegt, die gesellschaftlich üblich sind. Graeber geht von mindestens einem Drittel aus. Wollte man das über die Gesellschaft verteilen, ergäbe das nur noch ungefähr fünf Stunden täglich. Die Berechnungen, die im Zusammenhang mit Industrie 4.0 vorgenommen wurden, ergaben eine weitere Reduzierung um die Hälfte. Wenn man diese Zeit nicht so verteilen würde, dass große Teile der Gesellschaft einfach für überflüssig erklärt würden (was das kapitalistische Modell wäre), blieben also täglich zweieinhalb Stunden Arbeitszeit für die Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter übrig. Das, nebenbei bemerkt, auf Grundlage dessen, was heute bereits möglich wäre.
Sicher, das klingt erst einmal als völlige Utopie, aber es könnte in einer Dystopie enden (übrigens, eines der vielen Themen, die bereits in Science-Fiction-Romanen der 1950er teilweise durchgespielt wurden). Einen Ansatz einer Lösungsmöglichkeit findet man in den chinesischen Programmen zur Armutsbekämpfung, die auf der einen Seite zwar auf Industrialisierung setzen, auf der anderen Seite aber etwas völlig Unerwartetes tun - beispielsweise traditionelle Formen örtlichen Kunsthandwerks wiederzubeleben.
Die Möglichkeit, die materiellen Grundbedürfnisse durch hoch automatisierte Produktion zu befriedigen, selbst im Weltmaßstab, kann zwar eine Voraussetzung des Glücks schaffen, ist aus sich heraus jedoch keine Garantie dafür. Menschen haben einige Grundbedürfnisse, die auf diese Weise nicht gedeckt werden können. Gemeinsame Tätigkeit, beispielsweise. Das Bedürfnis, schöpferisch tätig zu sein. Das sind zwei Momente, die Glück konstituieren. Die aber beispielsweise, wenn die Bedürfnisdeckung gesichert ist, zur Voraussetzung haben, dass Kultur nicht als Produkt, sondern als Tätigkeit begriffen wird. Dass auch manuelle Tätigkeit erlernt wird; ein Punkt, der dem derzeitigen Bildungssystem völlig fremd ist. Welche Art der Bildung bräuchte es, um aus der Möglichkeit des Glücks die Wirklichkeit des Glücks entstehen zu lassen?
Die Frage, wie die gigantischen Länder Afrikas die für ihre eigene Entwicklung nötige Industrie aufbauen können, wenn das Volumen der Industriearbeit gerade kollabiert, wird dadurch verdeutlicht, dass selbst hoch entwickelte Staaten wie die USA an einem Punkt angekommen sind, an dem die industrielle Gesellschaft in technische Schwierigkeiten gerät. Welche Lösungsmöglichkeiten gäbe es? Spezialisierung auf bestimmte Branchen, also eine Art Geografisierung der gesellschaftlichen Arbeitsteilung?
Die gab es bisher auch, derart, dass manche Länder eben nur Rohstofflieferanten und nur begrenzt Konsumenten sein durften, aber das kann ja nicht das Konzept einer global gerechten Entwicklung sein. Es geht schließlich nicht nur darum, die Entwicklungsmöglichkeiten zu eröffnen. Es geht, wenn man den ganzen Komplex aus Automatisierung und künstlicher Intelligenz betrachtet, auch darum, wie gesichert werden kann, dass die Menschheit auf Grundlage der technischen Entwicklung wirklich eine größere Entscheidungsfähigkeit über ihr Schicksal erhält, statt sie preiszugeben.
Das ist erst einmal ein großer Berg Fragen, die weitgehend unbeantwortet bleiben. Und ja, es mag absurd wirken, sie in einem Moment zu stellen, in dem die vorhandene, alte Struktur droht, die Menschheit in die Steinzeit zurückzubefördern. Das ändert allerdings nichts an der Tatsache, dass sie gestellt werden müssen und es günstig wäre, jetzt mit dem Nachdenken anzufangen. Das Reich der Freiheit entsteht nicht automatisch, selbst dann nicht, wenn seine materiellen Voraussetzungen geschaffen sind. Die Auseinandersetzung um die Verteilung von Industrie, die sich in der erwartbaren Politik Donald Trumps in dieser Form erstmalig manifestieren wird, ist eine Andeutung dieser zukünftigen Probleme.
Mehr zum Thema - Energie, Industrie und Zusammenbruch – ein Blick in eine mögliche Zukunft, Teil 1
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