Nach russischem Raketenangriff: Westliche Medien wollen plötzlich Deeskalation
Von Wladimir Kornilow
Lange habe ich so einen abrupten Stimmungsumschwung in westlichen Medien nicht gesehen. Innerhalb von zwei Tagen nach der Ankündigung von ATACMS-Raketenangriffen auf russisches Territorium (wir wissen zwar, dass sie schon mehrmals Russland angegriffen haben, diesmal geht es aber um Gebiete, die auch der Westen als russisch anerkennt), verkündeten zahlreiche Zeitungen fast schon Siegesmeldungen. Und wenn sogar die Angriffe mit britischen Storm Shadow hinzukamen, nahm dieses fröhliche Getöse noch weiter zu. Besonders jubelten natürlich die britischen Medien, die Washington und London seit Langem zu solch abenteuerlichen Entscheidungen aufriefen.
Und plötzlich hat sich die Tonlage nach dem Erscheinen der ersten Gerüchte über den Einsatz einer "Interkontinentalrakete" (vor Wladimir Putins Auftritt verstand niemand im Westen, was genau auf Dnjepropetrowsk flog) abrupt verändert! Anstelle des Jubels kamen Besorgnis und sogar offenes Gejaule. Die plötzliche Transformation einiger britischer Zeitungen bringt mich regelrecht zum Staunen! So hatte etwa die Daily Mail immer dazu aufgerufen, der Ukraine zu erlauben, russisches Territorium anzugreifen. Und da erschien gestern plötzlich ein großer Artikel des Kolumnisten dieser Zeitung Stephen Glover, bei welchem allein der Titel von Panik zeugt, die plötzlich die westlichen Experten ergriffen hat:
"Mir graust es davor, dass wir an der Schwelle zu einem Nuklearkrieg stehen und diese hoffnungslose Regierung Putin provoziert, den Knopf zu drücken."
Dabei wurde der Artikel erst in der Zeitung veröffentlicht und später auf deren Webseite mehrmals korrigiert, je weiter sich die von der Ukraine verbreiteten panischen Gerüchte über eine "Interkontinentalrakete" ausbreiteten.
Ganz plötzlich erschien auf den Seiten der konservativen Zeitschrift The Spectator ein erstaunlich nüchterner Artikel des Kolumnisten Owen Matthews unter dem Titel "Bidens Raketen werden der Ukraine keinen Nutzen bringen", obwohl er schon öfter eine "Niederlage Russlands" herbeigeschrieben hatte. Im Artikel verurteilt der Autor zornerfüllt die gegenwärtige Administration des Weißen Hauses, die den möglichen Friedensprozess in der Ukraine vor Trumps Amtsantritt sabotiert.
Und am heutigen Tag hat der ständige Kommentator des Fernsehkanals BBC Simon Jenkins, der seinerseits ebenfalls dazu aufgerufen hatte, "Russland auf dem Schlachtfeld zu besiegen" bei der Zeitung The Guardian den neuen Gedanken weitergeführt:
"Die leichtsinnige Eskalation des Kriegs in der Ukraine durch den Westen wird noch mehr Leid ohne strategische Gewinne bringen."
Beachten Sie, wie aufseiten einer Labour-Partei-freundlichen Zeitung die Labour-Regierung kritisiert wird und ehrlich der Schuldige an der Eskalation genannt wird, nämlich der Westen. Erstaunlich, wie abrupt bei einigen (freilich nicht bei allen) "Falken" nach nur einem einzigen Angriff der neuen russischen Waffen die Schuppen von den Augen fallen!
Über die Waffe selbst wird bisher wenig geschrieben. Offensichtlich verdauen die westlichen Medien eine solch unerwartete und für sich schmerzhafte Information. Erst gestern zeichneten sie genüsslich Aufbauschemata der Storm Shadow und stellten Messungen an, wie weit die ATACMS fliegen kann, doch heute lautet das Hauptwort, das Informationen über die russische Oreschnik-Rakete begleitet, "Rätsel". So räumt beispielsweise der Daily Mirror ein, keine Ahnung von der Reichweite der neuen russischen Waffe zu haben, behauptet aber sogleich: Putin "droht, dass Großbritannien zum Ziel der neuen Rakete werden kann, die gegen die Ukraine abgefeuert wurde". Als hätte Russlands Präsident gesagt, dass Oreschnik ausgerechnet gegen Großbritannien eingesetzt werde.
Bisher versuchen diverse Experten zu erraten, was es denn für eine Wunderwaffe sein mag. Viele schreiben, dass es eine Kraftdemonstration gewesen sei. So vermutet beispielsweise The Times, dass der Einsatz von Oreschnik angeblich "keinen besonderen militärischen Sinn" habe und ein "Eskalationssignal" an den Westen sei. Ich erinnere daran, dass dieselbe Zeitung noch vor wenigen Tagen der Welt munter gemeldet hatte, dass die Ukraine zur Herstellung einer eigenen Atombombe für einen Angriff auf Russland bereit sei. Dabei berichteten sämtliche befragten ukrainischen Experten stolz, dass das Juschmasch-Werk in Dnjepropetrowsk ein Schlüsselbetrieb zum Erreichen dieses Ziels sein könnte. Und nun versucht dieselbe Zeitung zu behaupten, dass ein Angriff auf ebendiesen Betrieb "keinen besonderen Sinn" habe! Glaubt man der älteren Publikation, sollte die Welt Russland für die Rettung vor einem Atomkrieg sogar noch dankbar sein!
Was diese Möchtegern-Experten bisher nicht beachtet haben, sind Wladimir Putins Worte über die Unmöglichkeit, die russische Hyperschallrakete durch existierende Luftabwehrsysteme abzufangen. So versucht The Guardian, die russische Waffe zu verstehen, und sinniert darüber, welche Raketenabwehrsysteme einzukaufen seien. Dabei liegt die Antwort auf diese Frage bereits in Putins Worten: keine!
Und erst recht wird das Geständnis der USA außer Acht gelassen, dass Russland Washington im Voraus gewarnt und dass die USA die Warnung an Kiew weitergeleitet hatten. Das heißt, dass sowohl die Vereinigten Staaten als auch die Ukraine genau wussten, wann und wohin die Rakete fliegen würde, doch nichts dagegen tun konnten! Gerade diese Tatsache sollte eigentlich den westlichen Analytikern zu denken geben, wie verwundbar ihre Verteidigung ist und in welchen Abgrund sie die Abenteuer des Weißen Hauses und seiner europäischen Dienerschaft zu reißen drohen. Und wissen Sie, der abrupt gewechselte Ton der jüngsten Publikationen der westlichen Presse gibt mir die Hoffnung, dass sie endlich darüber nachdenken. Denn die Rede ist jetzt nicht nur von der Ukraine.
Übersetzt aus dem Russischen. Verfasst speziell für RT am 22. November.
Wladimir Kornilow ist ein sowjetischer, ukrainischer und russischer Politologe, Geschichtswissenschaftler, Journalist, Schriftsteller und gesellschaftlicher Aktivist. Er ist der ehemalige Leiter der ukrainischen Filiale des Instituts der GUS-Staaten in Kiew und Leiter des Zentrums für Eurasische Studien in Den Haag. Nach seiner scharfen Kritik am Euromaidan musste er aus der Ukraine flüchten und arbeitet seit 2017 als Kolumnist bei Rossija Sewodnja. Er führt eine Telegram-Kolumne zu aktuellen politischen Themen.
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