Meinung

Die richtige Seite: Aussichten

Die Konflikte im Nahen Osten und im Donbass deuten auf grundlegende Veränderungen in der Welt hin. Diese Zuspitzung führt zu Verunsicherungen und Ängsten, bei vielen aber auch zur Suche nach neuer Gewissheit. Worin bestehen diese Umwälzungen und wohin führen sie?
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Von Rüdiger Rauls

Den ersten Teil dieser Betrachtung finden Sie hier.

Die Macht der Veränderung

Selbst in den Zeiten des Systemkonflikts zwischen dem kapitalistischen Westen und dem Sozialismus sowjetischer Prägung schien die Welt stabiler als heute. Dieser Konflikt war grundsätzlicher als der heutige, und trotz der tödlichen Atomwaffenarsenale auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs schien das Handeln der Regierenden besonnener. In den 1970er-Jahren folgte die Entspannungspolitik unter dem deutschen Kanzler Willy Brandt der Erkenntnis, dass keine der beiden Seiten die andere vernichtend schlagen konnte, wie es seinerzeit mit dem Nazi-Reich gelungen war. Ein solcher Versuch würde im Untergang der Zivilisation enden. Es setzte sich die Erkenntnis durch, dass als Zweiter stirbt, wer als erster Atomwaffen gegen die andere Seite einsetzt.

Die westliche Strategie des Antikommunismus, die die Vernichtung des Sozialismus zum Ziel hatte, wurde nach den Niederlagen der USA in Südostasien und dem Zerfall des letzten Kolonialreiches, des portugiesischen in Afrika, ersetzt durch die Strategie der Menschenrechte. Diese war letztlich erfolgreicher, trug sie doch ganz erheblich zum Untergang der Sowjetunion bei. Dem Einfluss des westlichen Propaganda-Apparats, der weite Teile der nicht-sozialistischen, aber auch der sozialistischen Welt erreichte, hatte die UdSSR wenig entgegenzusetzen. Ihr fehlten damals die finanziellen, aber auch die technischen Mittel.

Die Entspannungspolitik wollte den Wandel durch Handel, politische Veränderungen sollten den Handelsbeziehungen folgen. Von Osten nach Westen durchstießen die Öl- und Gaspipelines der Sowjetunion den Eisernen Vorhang und westliche Waren, besonders Investitionsgüter, nahmen den umgekehrten Weg. Besonders China profitierte von der Entspannung zwischen Ost und West. Westliche Produktionsmittel nahmen den Weg in den gewaltigen chinesischen Markt mit anderthalb Milliarden Konsumenten. China wurde zur Werkbank der westlichen Industrie aufgebaut. Westliches Kapital wurde in den Aufbau von Produktionsstätten westlicher Unternehmen investiert. Beide Seiten hatten Vorteile von diesem Austausch. Westliche Unternehmen konnten billiger produzieren, und China konnte mit westlichem Kapital seine Wirtschaft aufbauen.

Aber China hatte andere Pläne, als ihm vom Westen zugedacht worden waren. Es wollte sich nicht als billige Werkbank benutzen lassen. Von Anfang an bestand die chinesische Führung auf Technologietransfer. Die westlichen Unternehmen sollten nicht nur die chinesische Arbeitskraft ausbeuten, sie sollten auch ihr Wissen mit den Chinesen teilen. Diese lernten schnell und erwarben einen bescheidenen Wohlstand. Heute ist das Land der Mitte dem politischen Westen in vielen Bereichen von Technik, Wissenschaft und Produktion zumindest ebenbürtig. Besonders in den Zukunftsindustrien wie Telekommunikation und regenerative Energiegewinnung ist China inzwischen weltweit führend.

Die Macht des Zweifels

Der Aufstieg Chinas veränderte die Welt. Die bisher noch unterentwickelten Länder sind nicht mehr von der Investitionsbereitschaft der westlichen Staaten und deren Bedingungen abhängig. Denn chinesische Initiativen wie die Neue Seidenstraße, die sich inzwischen als Belt-and-Road-Initiative (BRI) zu einer weltweiten Handelsinfrastruktur entwickelt hat, sowie die Gründung der BRICS mit ihrer New Development Bank stellen das westliche Entwicklungs-Monopol in Frage. Der Westen verliert zunehmend seine wirtschaftliche Vormachtstellung, die in seiner überlegenen Technik bestand und in seinem hohen Maß an investitionsbereitem Kapital.

Chinas Wirtschaftskraft, Russlands Militärmacht und die Bodenschätze des Globalen Südens stellen nicht nur die wirtschaftliche Macht des Westens in Frage. Durch deren immer umfassendere Zusammenarbeit wird auch dessen politische Vormachtstellung angegriffen. Die Völker der Welt stellen die Rechtmäßigkeit des westlichen Anspruchs in Frage, die Geschicke der Welt alleine und eigenmächtig bestimmen zu wollen. Sie sind immer weniger bereit, sich den westlichen Interessen unterzuordnen und sich deren sogenannter regelbasierter Ordnung zu unterwerfen.

Die Völker der Welt bestehen auf der Gleichwertigkeit ihrer wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Bedürfnisse und Interessen. Es zählen nicht mehr alleine die des Westens. Die internationale Ordnung ist im Wandel, auch wenn man das in Washington und Brüssel nicht wahrhaben will. Die westliche Vorherrschaft ist im Zerfallen begriffen. Die Welt will multipolar werden. Der westliche Exzeptionalismus, die Vorstellung eigener Überlegenheit, gehört der Vergangenheit an, da helfen keine Sanktionen, keine Regime-Changes und keine Kriege mehr.

Es ist ein neuer Geist eingezogen in der Welt. Die westlichen Traumfabriken können die Menschen immer weniger beeinflussen mit den Weltbildern, die sie zeichnen, und mit ihrer Propaganda gegenüber ihren Gegnern. Das Internet hat die Monopolstellung der westlichen Einflussnahme gebrochen. Übersetzungsprogramme machen den Menschen auf dem gesamten Erdball die Informationen, Meinungen und Weltbilder in allen Sprachen zugänglich, auch in den Sprachen der Gegner.

Den westlichen Medienmogulen sind mächtige Gegner erwachsen. Mächtig sind sie, weil sie überzeugendere Sichtweisen in die Welt tragen und die Vorgänge in der Welt verständlicher machen. Es sind nicht mehr alleine die Ansichten und Interessen des politischen Westens, die sich auf dem Planeten verbreiten. Der Einfluss von russischen und chinesischen Medien nimmt weltweit zu – zum Leidwesen westlicher Meinungsmacher. Die Verbreitung von Informationen, Erklärungen und Meinungen können nicht mehr nach ihren Interessen alleine gefiltert werden. Die Macht des Zweifels zersetzt Lügen und Manipulationen.

Zweifel alleine aber schaffen keine neue Welt. Das Kopfschütteln über die herrschenden Zustände bringt keine neue Orientierung. Der Zweifel zersetzt zwar die Lügen, aber er schafft kein neues politisches Bewusstsein. Doch ohne dieses führt der Zweifel in Verzweiflung, in Nihilismus, Häme und Gehässigkeit. Das ist die Fäulnis, die uns aus vielen Kommentarspalten auch der alternativen Medien entgegenweht. Man lehnt den Mainstream ab, man zweifelt an allem, was von dort kommt. Aber die Ablehnung metastasiert. Sie lässt auch nicht mehr an den guten Willen der meisten Menschen glauben, das Richtige tun zu wollen, und an ihren Wunsch, dem Menschen ein Freund zu sein.

Die Macht des Bewusstseins

Der Zweifel hat vieles zerfressen, wenig Gutes übrig gelassen und noch weniger Zukunftsweisendes geschaffen. Der Zweifel, so willkommen und unumgänglich er auch sein mag, darf also nur der erste Schritt sein, um Lüge von Wahrheit zu trennen, das Falsche vom Richtigen. Der zweite muss darin bestehen, zu benennen, was das Richtige ist. Das ist der schwierigere Teil der Bewusstwerdung. Dazu bedarf es keiner Visionen, wie so viele Propheten und Volkstribune glauben machen wollen, die meinen, sich selbst und ihrem Publikum eine Zukunft ausmalen zu können.

Um das richtig zu benennen, dazu bedarf es gerade des Gegenteils: Zu sagen, was ist, wie es Rosa Luxemburg einmal als die "revolutionärste Tat" bezeichnet hat. Es geht darum, die Wirklichkeit der Gegenwart deutlich zu machen, denn aus ihr heraus entsteht die Zukunft, nicht aus den Fantasien irgendwelcher Weissager. Wer zur Deutung der Gegenwart nicht in der Lage ist oder gar darin schon falschliegt, wie sollte der eine richtige Zukunft voraussagen können? Doch auch die Gegenwart wird nicht richtig verstehen, wer die Vergangenheit nicht berücksichtigt und die Gegenwart nicht als Ergebnis einer Entwicklung sieht.

Der Krieg in der Ukraine ist nicht zu verstehen, wenn man die Vorgeschichte nicht kennt oder gar ausblendet beziehungsweise umdeutet. Entwicklungen werden erst deutlich und verständlich, wenn sie in den Lauf der Geschichte und das Wirken von Interessen eingeordnet werden können. Die Zukunft ist aus der Gegenwart heraus nicht vorstellbar, wenn die Gegenwart aus der Vergangenheit herausgelöst und isoliert betrachtet wird. Entwicklung ist die Betrachtung der Gegenwart vor dem Hintergrund der Vergangenheit, verlängert in den Raum, der vor uns liegt.

Die Entwicklung des Menschen geht vom Tier zum Menschen und derzeit wissen wir noch nicht, wie weit er auf diesem Weg der Menschwerdung vorangeschritten ist. Aber in der meisten Zeit seiner Existenz war er mehr Tier als Mensch. Sein Leben bestand über die Jahrtausende aus Armut, Hunger und Schutzlosigkeit in einer feindlichen Umwelt. Er wurde Sammler, Jäger, Viehhirte und Ackerbauer, Handwerker und Wissenschaftler. Und mit jedem dieser Entwicklungsschritte überwand er einen Teil seiner Armut, seines Hungers und seiner Schutzlosigkeit, wurde immer mehr Mensch, dafür immer weniger Tier.

All diese Schritte waren auch verbunden mit dem Erwerb neuer Tätigkeiten und einem Bewusstsein, das über das eines Tieres hinausging. Er wurde sich seiner Fähigkeiten bewusst und setzte diese ein zur Verbesserung seiner Lebensumstände. Sie wurden Allgemeingut der gesamten Menschheit. Dieser Weg führte über verschiedene Gesellschaftsformen, die sich die Menschheit selbst schuf. Sie gestalteten das Zusammenleben untereinander und verbesserten das Leben der Menschheit allgemein, machten es sicherer, satter und auch länger.

In diesem Rückblick ist also erkennbar, dass der Mensch trotz aller Rückschritte wie dem Faschismus auf dem Weg ist in eine Zukunft, die sein Leben reicher und freier macht. Der Mensch ist auf dem Weg, jener Gott zu werden, von dem er über Jahrtausende dachte, dass er über sein Schicksal bestimmte. Dieser Gott aber ist nicht im Himmel zu suchen. Er ist in ihm selbst, in seiner eigenen Schaffenskraft, in seiner eigenen Genialität und in seiner Brüderlichkeit.

Auch wenn die blutigen Konflikte dieser Tage einen anderen Eindruck erwecken, so sind sie doch Bestandteil dieses Ringens, den die Menschheit seit Anbeginn ihrer Zeit mit sich selbst und ihrer Umwelt austrägt. Bei den derzeitigen Kämpfen geht es, wie die Chinesen sagen, um die Schicksalsgemeinschaft der Menschheit. Hier toben die Kämpfe um das Bewusstsein, dass allen Staaten und Gesellschaften das gleiche Recht auf eine Entwicklung zusteht nach den eigenen Wertmaßstäben, den eigenen Grundsätzen, den eigenen geschichtlichen und kulturellen Erfahrungen.

Da gibt es keine höheren und niedrigeren Rechte, keine wichtigeren und weniger bedeutenden Interessen. Alle Völker des Menschengeschlechts haben dieselben Anrechte auf ein Leben in Wohlstand und Würde und nicht nur die goldene Milliarde. Den Religionen ist das nicht gelungen, trotz ihrer Appelle an die Nächstenliebe. Auch der sowjetische Sozialismus scheiterte mit seiner Vorstellung von der Überwindung der Klassengesellschaft. Heute scheint die Zeit gekommen, mit der westlichen Vorherrschaft jegliche Vorherrschaft zu überwinden. Das ist es, worum es derzeit geht, und diesen Prozess zu unterstützen bedeutet, auf der richtigen Seite zu stehen.

Rüdiger Rauls ist Reprofotograf und Buchautor. Er betreibt den Blog Politische Analyse.

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