Meinung

Neue, schwimmende Mini-KKWs oder doch lieber alte, abgeschaltete?

Während der Wertewesten Putin immer mehr des nuklearen Säbelrasselns bezichtigt, ist es ausgerechnet Moskau, das in dieser energiepolitischen Domäne neue, friedliche Innovationen vorantreibt. Was Russland potenziell mit seiner Technik bespielt, ist ein wahrhaft globaler Absatzmarkt.
Neue, schwimmende Mini-KKWs oder doch lieber alte, abgeschaltete?Quelle: Sputnik © Ramil Sitdikow

Von Elem Chintsky

Mehrfach haben wir auf diesen Seiten den kolossalen wissenschaftlichen, technologischen und weltwirtschaftlichen Vorsprung erläutert, den die Föderale Agentur für Atomenergie Russlands (Rosatom) sich in den letzten Jahrzehnten erarbeitet hat. Jüngst meldete das Staatsunternehmen, das Projekt für ein sogenanntes "schwimmendes" Kernkraftwerk (KKW) auf der Grundlage des hauseigenen RITM-200M-Reaktors bis Ende 2024 abzuschließen. "Für den ausländischen Markt schließen wir in diesem Jahr die Konstruktion eines schwimmenden Kraftwerks mit zwei Reaktoren der Serie RITM-200M mit einer Gesamtleistung von bis zu 100 MW ab", heißt es konkreter.

Dieses Unterfangen ist bereits mit großen Erwartungen behaftet, da dutzende Länder an diesem Prototyp und an vielen weiteren russischen Produkten dieser Art interessiert sind.

Jeder dieser neuen Reaktoren des Typs RITM-200 hat also eine elektrische Leistung von bis zu 50 Megawatt. Aufgrund der Mobilität und Flexibilität solcher schwimmender KKWs sind die Anwendungsbereiche ausgesprochen uneingeschränkt und im vernünftigen Ermessen des Kunden. Moskau selbst besitzt bereits ein solches schwimmendes KKW – das "Akademik Lomonossow". Es versorgt die russische, fernöstliche Hafenstadt Pewek in Tschukotka (4.230 Einwohner) mit Strom.

Zum Vergleich: Ein mittleres, stationäres Kernkraftwerk (wie sie in Deutschland mittlerweile abgeschaltet wurden) hat eine Leistung von etwa 1.400 Megawatt und kann jährlich elf Milliarden Kilowattstunden Strom erzeugen. So wurden einst bis zu 3,5 Millionen Haushalte mit Elektrizität versorgt. Von den zwölf historisch leistungsstärksten Kernkraftwerken Europas waren noch bis vor kurzem neun in Deutschland betrieben worden. Die Megawatt-Nettoleistung variierte zwischen 1.360 und 640 Megawatt und ließ die Bundesrepublik von den 1970er Jahren bis tief in die 1990er Jahre in diesem Bereich klar dominieren. Mitte April 2023 wurden die letzten drei deutschen Reaktoren schließlich abgeschaltet. 

Es schadet nicht daran zu erinnern, dass ein KKW im Durchschnitt einen Kapazitätsfaktor von 92 Prozent hat. Das heißt, ein KKW ist fast doppelt so zuverlässig bei der jährlichen Bereitstellung von verwendbarem Strom wie ein mit Kohlekraft oder Erdgas betriebenes Kraftwerk. Hinzu kommt das fast Dreifache an Zuverlässigkeit gegenüber einem Solar- oder Windkraftwerk.

Rosatom darf in dieser neuen Kooperationsphase darauf hoffen, Kunden von weither zu akquirieren. Nämlich Staaten mit langen Küstenlinien oder einer dominierenden Insel-Infrastruktur. Damit sind Länder wie Argentinien und Brasilien in Südamerika gemeint, beziehungsweise Malaysia und Indonesien in Südostasien. Wenn diese bilateralen Projekte erst einmal implementiert sind, wird sich das energiepolitische Gleichgewicht und die einst aus anderen Gründen einfach projizierbare Macht des Wertewestens im globalen Süden dramatisch verschieben. Das hatte auch schon die Financial Times besorgt unterstrichen, als sie die Fakten leicht verzerrte, um zu suggerieren, dass "Russland nukleare Energie benutzt, um globalen Einfluss zu gewinnen."

Jedenfalls planen die Russen bis 2030 einen "Mikroreaktor" auf den Markt zu bringen, der bis zu 10 Megawatt generieren kann. Rosatom-Chef Lichatschow erklärte, dass die Inbetriebnahme eines solchen Reaktors vom Typ "Shelf-M" folgendermaßen funktionieren würde:

"Im Wesentlichen handelt es sich um eine Kapsel, die an den richtigen Ort geliefert und an das lokale Netz angeschlossen werden kann. Und wir haben bereits einen Industriekunden für dieses Projekt."

Einige inländische Projekte laufen ebenfalls auf Hochtouren, wobei Mikroreaktoren des Typs "Shelf-M" in Russlands entferntesten Nordosten, in Jakutien und in Tschukotka, installiert werden sollen.

Ferner erläuterte Lichatschow, dass sein Unternehmen potenziellen Partnern im Ausland ebenfalls "ein Geschäftsmodell mit 'Kernbatterien'" anbietet werde. "Das bedeutet, dass der Kunde nur Strom von uns kauft, Eigentümer und Betreiber der schwimmenden Kraftwerke wird die Staatsfirma Rosatom sein", erklärte der studierte Wirtschaftswissenschafter.

Um ein besseres makroanalytisches Bild zu erhalten, sei auch erwähnt, dass Rosatom die einzige nuklear-betriebene Eisbrecherflotte der Erde verwaltet. Besonders für die Erschließung und Nutzung des Nördlichen Seeweges (NSR) ist diese Leistung entscheidend. Zumal der NSR seinen Marktanteil im Vergleich zu den anderen globalen Handelsrouten (wie entlang des instabilen und riskanter werdenden Suezkanals) dank der überzeugenden Kosten-Nutzen-Rechnung rasant vergrößern wird. Außerdem stellt das Unternehmen nahezu 20 Prozent der gesamten Stromerzeugung im russischen Inland und gilt als unangefochtener internationaler Marktführer in Bezug auf die Anzahl der gleichzeitig durchgeführten Kernreaktor-Bauprojekte. Dazu gehören gegenwärtig drei Projekte in Russland selbst sowie 39 Projekte im Ausland, darunter sechs sogenannte Small Modular Reactors (SMRs) in verschiedenen Stadien der Realisierung. Ein Small Modular Reactor ist praktisch der oben im Text von Lichatschow für 2030 angekündigte "Mikroreaktor".

Umso mehr ist es bezeichnend, wie die BRD sich in den letzten zwei Jahren so greifbar und zudem freiwillig selbst aus der Atomenergie entlassen hat. Das Abschalten eines Kernkraftwerks – wenn erst einmal technisch finalisiert – ist geradezu irreversibel. Ändert man seine Meinung erneut, kann derselbe Einschaltknopf nicht einfach wieder gedrückt werden – man muss geradezu bei null anfangen. Ein neues KKW zu bauen dauert über fünf Jahre, und die Europäer brauchen dafür wahrscheinlich noch einmal 25 Prozent der Zeit zusätzlich. Egal wie man es nimmt, solch ein Unterfangen übersteigt die volle Legislaturperiode einer Bundesregierung. Selbst wenn die AfD im Jahr 2025 oder 2029 die Regierungsverantwortung übernehmen würde und sofort am ersten Tag mit der Grund-Restaurierung mehrerer deutscher KKWs begänne, würde eine darauf folgende Kamikaze-Regierung es schaffen, diese Projekte wieder klimaneutral im Keime zu ersticken, bevor sie überhaupt in Betrieb genommen werden könnten.

Neben der passiv-freundlichen Genehmigung Berlins für die Sprengung der Nord-Stream-Pipelines im September 2022 ist die chirurgische Abkehr von der Atomkraft eine der wichtigsten deutschen Entscheidungen, im Zuge derer die – unter der Berliner Ampel unmissverständlich vorsätzlich eingeleitete – Deindustrialisierung Mitteleuropas  nunmehr barrierefrei entfaltet werden kann. War die BRD zuvor der ratternde, ökonomische Motor des alten Kontinents, wird sie nun rasant zum Treibsand-Becken, das alle Willigen und Perplexen mit seinen Sirenenrufen in das zwar schön ausgeschmückte, aber bodenlose Loch hineinlockt.

Mit dem kürzlich neu eingeleiteten wirtschaftspolitischen Zeitalter der BRICS bietet sich Russland eine neuartige, effektive Weltbühne, um mit den großen Vorteilen der eigenen Nukleartechnologie – auf freiwilliger Basis und zum gegenseitigen Vorteil – neue, lange währende, geopolitische Verbundenheiten zu etablieren. Rosatom spielt dabei die entscheidende Rolle.

Elem Chintsky ist ein deutsch-polnischer Journalist, der zu geopolitischen, historischen, finanziellen und kulturellen Themen schreibt. Die fruchtbare Zusammenarbeit mit RT DE besteht seit 2017. Seit Anfang 2020 lebt und arbeitet der freischaffende Autor im russischen Sankt Petersburg. Der ursprünglich als Filmregisseur und Drehbuchautor ausgebildete Chintsky betreibt außerdem einen eigenen Kanal auf Telegram, auf dem man noch mehr von ihm lesen kann.

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