Stiller Abschied von der Ukraine
Von Rüdiger Rauls
Stürme
Seit Wochen nun schon wirbelt der ukrainische Präsident Selenskij den Westen mit seinem Plan für den Sieg über Russland durcheinander. Besonders die anfängliche Geheimniskrämerei weckte Hoffnung auf frischen Wind in der aussichtslosen Lage der Ukraine an der Front im Donbass und dem fehlgeschlagenen Abenteuer im Kusker Gebiet. Selenskij klapperte von Washington bis Brüssel die Türen der Regierungssitze ab und ging mit seinem Plan auch in den europäischen Hauptstädten hausieren.
Nach den ersten Veröffentlichungen von Teilen des ukrainischen Plans waren die Reaktionen unterschiedlich. Im Vordergrund stand die schon lange von Selenskij gestellte Forderung, die Tiefe Russlands mit den vom Westen gelieferten Waffen angreifen zu dürfen. Also eigentlich wenig Neues. Besonders die baltischen Giftzwerge waren begeistert, Zurückhaltung herrschte dagegen in Berlin und Washington.
Aber mit diesem Plan nährte Kiew den Spaltpilz, unter dem die Geschlossenheit der NATO in der Reichweitenfrage bisher schon gelitten hatte. Der Plan erweckte den Eindruck in der Öffentlichkeit, dass Selenskij etwas aus dem Hut zaubern könne, womit man die Russen entweder besiegen oder aber zumindest zu den Bedingungen des Westens an den Verhandlungstisch zwingen könnte. Jedenfalls wurde dieser Plan immer mehr zum Thema unter den NATO-Staaten und deren medialer Öffentlichkeit. Der Druck stieg, auch die Meinungsverschiedenheiten.
Aber bei Präsident Biden bekam Selenskij keine Unterstützung für diesen Plan, der zum Sieg über Russland hätte führen sollen. Den Amerikanern war das Risiko zu groß, in einen Krieg mit Moskau verwickelt zu werden. Das sagte man nicht so deutlich, stattdessen argumentierte man militärisch. Der Einsatz von US-Waffen in der Tiefe Russlands würde keine strategische Wende bringen, vielmehr stiegen nur die Risiken.
Damit dürften die Amerikaner gar nicht so Unrecht haben, denn vermutlich würden die Bestände an US-Raketen nicht ausreichen, um das erwünschte Ergebnis zu erzielen, und die Produktion an Raketen ist bereits jetzt dem Bedarf nicht gewachsen. Dennoch schien es wohl notwendig, den Sturm, der sich über der NATO zusammenbraute, zu besänftigen. Denn wichtige Bündnismitglieder wie Frankreich und Großbritannien sprachen sich für den Einsatz solcher weitreichenden Waffen aus und hatten sogar bereits ihre Erlaubnis erteilt.
Jedenfalls schien Handlungsbedarf zu bestehen. Präsident Biden kündigte für den 12. Oktober dieses Jahres ein Treffen in Ramstein an, um im Rahmen dieses Formats, einen gemeinsamen Standpunkt zu diesem Thema zu erarbeiten. Dieses Vorhaben war nicht ohne Risiko. Denn die Stimmungslage im Bündnis war nicht klar und wer weiß, ob Biden dem Druck gewachsen gewesen wäre. Zu welchen inneren Verwerfungen könnte es kommen und gelangen dann vielleicht auch noch Informationen in die Öffentlichkeit, die für diese nicht bestimmt sind? Das ist bei einer solch großen Teilnehmerzahl nicht ausgeschlossen.
Da kam ein anderer Sturm gerade recht: Hurrikan Milton kam dem Sturm in der NATO und eventuell aufbrausenden Stimmungen unter ihren Mitgliedern als Grund für eine Absage gerade gelegen. Ob diese Überlegungen hinter Bidens Absage standen, kann natürlich nur vermutet werden. Doch "das befürchtete Szenario eines Jahrhundertsturms mit horrenden Schäden und katastrophalen Verlusten blieb aber aus", so das ZDF.
Das konnte man natürlich nicht vorhersehen, ebenso wenig aber auch die Bedrohungen, die vorab an die Wand gemalt worden waren. Vielleicht dienten diese genau als Vorwand für Bidens Absage. Es wird aufschlussreich sein, wie Selenskijs Siegesplan in der Folgezeit von den NATO-Staaten und den Medien im Westen behandelt wird. Im Moment jedenfalls scheint nicht nur der Wirbelwind Milton sich gelegt zu haben, sondern auch der Wind um Selenskijs Plan.
Gegenwind
Aber angesichts des Wirbels, den Selenskijs Ideen in der westlichen Öffentlichkeit, unter den NATO-Staaten, aber auch in Moskau verursacht hatte, schien doch Klärungsbedarf zu bestehen und die Einigkeit, einen Plan erstellen zu müssen, wie weiter zu verfahren ist. Dazu traf man sich im kleinen Kreis am Freitag, dem 18.10., in Berlin. Dass dieses Treffen angeblich schon lange geplant war, klingt unwahrscheinlich, sollte aber wohl auf jeden Fall den Eindruck vermeiden, dass hier kopflos gehandelt und irgendwelchem fremden Druck nachgegeben wird. Aber ein "Ereignis, das seit fast 40 Jahren nicht mehr stattgefunden hat", so Euractiv.de, und dann so kurzfristig anberaumt? Schwer zu glauben, aber sei’s drum!
Geladen zu diesem Treffen waren nur wenige Vertreter von NATO-Staaten: Die USA und Deutschland, Großbritannien und Frankreich sowie der Präsident der Ukraine. Bei diesen Gästen handelt es sich einerseits um die Atommächte der NATO, USA, Frankreich und Großbritannien. Mit Deutschland zusammen waren auch jene Staaten vertreten, die über eine eigene Herstellung von Raketen und sonstigen weitreichenden Waffen verfügen.
Es ist also wahrscheinlich, dass es um eine Klärung und Absprache in der Frage ging, wie mit der Forderung Kiews nach Raketen verfahren werden soll, die das Innere Russlands erreichen können. Denn das Thema sollte wohl aus der Öffentlichkeit genommen werden. Da die USA und Deutschland die ukrainische Forderung ablehnten, Frankreich und Großbritannien diese jedoch unterstützen, bestand in dieser existenziellen Frage die Gefahr einer Schwächung des Bündnisses.
Zudem hatte Selenskijs Werbetour für seinen Plan in den europäischen Hauptstädten zu öffentlichen Diskussionen und Meinungsverschiedenheiten auch unter den Mitgliedern des Bündnisses geführt. Es fällt den Regierenden ohnehin schon schwer genug, bei den eigenen Bürgern die Stimmung zugunsten der Ukraine weiterhin aufrechtzuerhalten und noch Verständnis für Waffenlieferungen und Hilfszahlungen zu finden. Es sollen nun nicht auch noch neue Ängste vor einer weiteren Eskalation durch Kiews Forderungen hervorgerufen werden. Die Taurus-Debatte war gerade erst aus der Öffentlichkeit verschwunden.
Vermutlich wurde auch aus diesem Grund Selenskij zu dem Gespräch dazu gebeten. Man wird ihm wohl zu verstehen gegeben haben, dass in dieser Frage keine weiteren Vorstöße von seiner Seite erwünscht sind. Ob diese Vermutung richtig ist, werden die kommenden Stellungnahmen vonseiten der Politik und die Kommentare in den Medien zeigen. Erste Anzeichen für eine abgesprochene Haltung in dieser Frage waren schon nach dem Gespräch zwischen Biden und Scholz zu erkennen. Denn "den Siegesplan des ukrainischen Präsidenten erwähnten die beiden mit keinem Wort", so die FAZ.
Windstille
Ohnehin scheinen die NATO-Staaten zunehmend das Interesse an der Auseinandersetzung im Osten Europas zu verlieren. Der Krieg ist teuer, und angesichts der Fortschritte der russischen Armee scheint der Sieg der Ukrainer immer unwahrscheinlicher zu werden. Nicht umsonst hat Kanzler Scholz nun zum wiederholten Male angedeutet, dass er den Kontakt zu Putin wieder aufzunehmen beabsichtige. Es mehren sich auch die Feststellungen, dass die Ukraine sich mit Gebietsabtretungen abfinden werden muss, wenn sie endlich ein Ende des Krieges erreichen will.
Hatten zu Beginn des Krieges die Erklärungen aus dem Westen noch gelautet, dass die Ukraine den Krieg gewinnen und Putin verlieren müsse, so war man zwischenzeitlich bei der Sprachregelung angekommen, dass Russland den Krieg nicht gewinnen dürfe. Inzwischen backt man noch kleinere Brötchen. Zwar wird das Mantra wiederholt, dass man die Ukraine so lange wie nötig unterstützen werde, aber die Siegesgewissheit ist dahin. Heute spricht Scholz nur noch davon, dass Putin sich verrechnet habe, "er könne diesen Krieg nicht aussitzen", berichtete die FAZ. Danach sieht es auch nicht aus.
Zudem werden die Zusagen, zu denen sich die Staaten des politischen Westens verpflichtet haben, immer unwilliger und zögerlicher umgesetzt. Die Ukraine wartet noch immer auf die Luftverteidigungssysteme, die ihnen auf dem NATO-Gipfel im Juli dieses Jahres in Aussicht gestellt worden waren. Damals hatten "Italien und die Niederlande, zusammen mit Partnern, weitere Luftverteidigungssysteme zugesagt", so die FAZ. Während die USA Israel ein Luftverteidigungssystem übergeben haben, lässt die "historische Spende einer weiteren Patriot-Feuereinheit, die Biden angekündigt hatte", für die Ukraine weiter auf sich warten, schrieb die FAZ weiter.
Der in Aussicht gestellte Kredit in Höhe von 50 Milliarden Euro, der aus den russischen Zinsen bedient werden sollte, ist ein weiteres Projekt westlicher Selbstüberschätzung. Ursprünglich sollten davon 17 Milliarden als Zuschuss gewährt werden, den die Ukraine nicht zurückzahlen müsste. Offensichtlich sind aber den Finanzen der EU engere Grenzen gesetzt als ihren hochtrabenden Plänen. Wie die FAZ berichtete, erhält die Ukraine nur noch einen Kredit, "den sie definitiv zurückzahlen kann, … weil es im gemeinsamen [EU-]Haushalt an Geld mangelt und die [EU-]Staaten nicht noch einmal welches nachschießen wollen".
Auch die 40 Milliarden Militärhilfe, die man der Ukraine in Washington für das nächste Jahr versprochen hatte, sind unsicher. Bisher konnten in der ersten Hälfte dieses Jahres erst 20,7 Mrd. zugesagt werden. Frankreich hat mit einer Milliarde erst ein Drittel dessen bereitgestellt, was vereinbart worden war. "Die Beiträge Italiens und Spaniens lagen noch niedriger – so niedrig, dass die Allianz die genaue Aufschlüsselung lieber für sich behielt", so die FAZ.
Auch in der Frage seiner NATO-Mitgliedschaft scheinen die Aussichten für die Ukraine schon besser gewesen zu sein. Den bisherigen Lippenbekenntnissen ist bisher aus Brüssel keine Einladung gefolgt. Eher hat man den Eindruck, dass Washington in dieser Frage stärker zurückrudert. Laut FAZ wird der Verzicht auf diese Mitgliedschaft in den Augen einiger NATO-Mitglieder inzwischen sogar als "einzige echte Verhandlungsmasse" der Ukraine gegenüber Putin angesehen. Ein unverblümter Hinweis, nicht weiter auf dieser Mitgliedschaft zu bestehen.
Wenn auch die Verbündeten immer wieder betonen, sie stünden "an der Seite der Ukraine, so lange wie das nötig ist"(FAZ), so sollte man sich in Kiew vielleicht allmählich die Frage stellen, wie lange der Westen seine Unterstützung noch als nötig ansieht. Denn darüber wird nicht am Dnjepr entschieden. Im Moment sieht es doch eher danach aus, dass man im Westen immer weniger Gründe für diese Unterstützung zu sehen scheint. Es sieht so aus, als ereile die Ukraine dasselbe Schicksal wie Afghanistan, den Irak und viele andere Staaten und politische Kräfte. Man lässt sie fallen wie eine heiße Kartoffel.
Vielleicht ging es in Berlin nicht nur um eine Abstimmung unter den vier NATO-Staaten über den Einsatz der von ihnen gelieferten Distanzwaffen. Vielleicht ging es auch schon darum, der Ukraine klarzumachen, dass sie diese Genehmigung nicht bekommen wird und dass es an der Zeit ist, mit Russland handelseinig zu werden. Allerdings darf es dann nicht so aussehen, als hätte der Westen Kiew hängen lassen. Was in Berlin hinter verschlossenen Türen tatsächlich verhandelt wurde, werden die Entscheidungen, Entwicklungen und Verlautbarungen der nächsten Zeit zeigen.
Rüdiger Rauls ist Reprofotograf und Buchautor. Er betreibt den Blog Politische Analyse.
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