Über Kometen- und Weltendämmerung – Der Balkonist wird nachdenklich
Eine Lesermeinung von Mikhail Balzer
In den letzten Tagen herrschte bekanntlich viel Wirbel in den Nachrichten, sollte doch der Komet Tsuchinshan-ATLAS kurz nach Sonnenuntergang am Abendhimmel zu erspähen sein. Gar war schon die Rede vom "hellsten Kometen" des noch recht jungen Jahrhunderts, wie sich aus den Federn der offenbar zentral gefütterten Redaktionsstuben redundant lesen ließ.
Sogar unseren sonst so phlegmatischen Balkonisten packte eine unerklärliche Unruhe, dieses Objekt mit eigenen Augen zu erspähen – wenn das Wetter nur mitspielen würde! Kater Murr III. hielt sich gar gegen Abend auffällig lange auf dem Balkon auf; oder spürte er nur Michaels Ungeduld, den flüchtigen Himmelskörper endlich durch das westliche Fenster zu entdecken? Verstand Murr gar, dass hier etwas aus den Tiefen des Alls, uralt an unvorstellbaren Jahren, zu einem kurzen Stelldichein in Erd- und Sonnennähe herankam, nur um dann für eine halbe Ewigkeit wieder bis an die Grenzen unseres Sonnensystems zu reisen?
Endlich, Mitte der Woche gelang es beiden doch noch, einen kurzen Blick auf den Himmelswanderer zu erhaschen, als sich die Wolkenschicht in der Dämmerung etwas auflöste. Nun ja: die in der Zeitung so hochgepriesene Leuchterscheinung des Kometen imponierte allenfalls im Fernglas, wirkte er doch ansonsten recht flau – oder war dies der Licht- und Luftverschmutzung in seiner Stadt geschuldet? Dennoch, welch wunderbarer Anblick in den Farben einer herbstlichen Abenddämmerung, die oberen Himmelsareale bereits geschmückt von einzelnen Sternpünktchen! Auch Murr schien fasziniert in Richtung des beschweiften Himmelsobjektes zu schauen, was unser Balkonist und vielleicht auch seine Ehefrau durchaus für merkwürdig befanden. "Ihr beide vergeudet wertvolle Zeit mit diesem "himmlischen Leuchtkäfer, der sowieso bald verschwindet – statt zum Abendessen zu kommen", war Gertrudes säuerlicher Kommentar. "Der Tee wird kalt!"
Als ein befreundeter Fotograf ihnen später sein erstes Kometenbild via Messenger zusandte, begann Michael zu referieren: "Stellt Euch vor, diese 'schmutzigen Schneebälle' kommen aus den Tiefen des Weltraums und sind unglaublich alt, bis zu 4,5 Milliarden Jahre …" Doch diesmal kam Gertrudes sofortige Retourkutsche, hatte sie doch in einer Illustrierten folgendes Zitat aufgeschnappt:
"Kometen sind wie Katzen: Sie haben Schwänze und tun genau das, was sie wollen." (David H. Levy)
"Da haben wir die Erklärung, warum unser Murr III. deine abendlichen Allüren teilt!"
Die Gedanken des Balkonisten führten später am Abend jedoch zu anderen Assoziationen, vielleicht unterstützt vom nachdenklichen Schnurren des Katers, der wieder einmal neben ihm auf dem Balkonsessel saß. Wenn die Menschheit anders geartet wäre, könnte sie vielleicht wenigstens einen Bruchteil des kometenhaften Alters erreichen, und dabei wahrhaftige geistige wie moralische Größe erzielen. Sollte man nicht seine allzu großen Ambitionen und Bestrebungen im Lichte dieser scheinbar bedächtigen Himmelswanderers betrachten, während dessen langer Wegstrecke sich so viele Vorkommnisse und Katastrophen ereignet haben?! Leider muss man hier in Anbetracht des Ablaufs der Menschheitsgeschichte wohl skeptisch sein, scheint diese doch gekennzeichnet von einer Abfolge kriegerischer Auseinandersetzungen, nur unterbrochen von kurzen Phasen kulturellen Aufstiegs. Diese kurzen Phasen scheinen dann ebenso zu verdampfen, wie es uns der uralte Kometenstaub am Himmel vor Augen führt – nur dass dieser schon eine lange ruhige Bahn hinter sich hat.
Nicht selten zerplatzt auch ein Kometenkern bei seiner gefährlichen Annäherung an die Sonne – vielleicht ebenfalls von einer ikarusgleichen Neugier oder unglaublichen Hybris getrieben?! Vergleiche des menschlichen Wesens mit jenen rasch verblassenden Kometen und kurzlebigen Sternschnuppen ziehen sich durch die Literatur, und das nicht nur in romantisch-schwärmerischen Gedichten. Es sind die kurzen Augenblicke, in denen ein inspirierter Geist zu gerührter und besonnener Einsicht gelangt – einer Einsicht, die auch den heutigen Menschen weltweit zu wünschen wäre.
Nicht nur jene von moralinsaurer selbstzufriedener Überheblichkeit triefenden Politiker betreiben eine gefährliche Ikarusfahrt, immer näher an einen Weltenbrand heran.
Auch außerhalb von Politik und Staatsführung zeigen sich die vielfältigen Gefahren des faustischen Geistes gepaart mit einer unglaublichen Selbstüberschätzung, so in fast allen Bereichen heutiger Wissenschaft, Technik und Medizin. Und wo das exakte Wissen nicht ausreicht, kommt oftmals noch fantastische Extrapolation hinzu, wie wir es bei den statistischen Hütchenspielen "epidemiologischer Modellierungen" und sogenannter Expertengremien (nicht nur) im Rahmen der Citrona*Pandemie erleben durften; auch militärische Planspiele und waghalsige Manöver immer näher an den NATO-Außengrenzen und die zunehmend geschürten Konfrontationen in Nahost sowie in der sogenannten "Taiwanfrage" gehören hierzu.
Es fehlt ein besonnener Lehrer beim fantastischen Höhenflug, der "das Spiel des Risikos" bremst, die Menschen ermahnt, wie es einst Daedalus tat (wenngleich er Ikarus' Absturz nicht verhindern konnte, so gelangte zumindest er selbst unbeschadet ans sichere Ziel). Oder hört die Menschheit, hören jene in immer gefährlichere Spiralen hinein eskalierenden Politiker die Mahnungen des weisen Daedalus nicht mehr?
Man möchte dem sich verabschiedenden Kometen eine gute Reise wünschen; auch dass er nach fast endlos langer Zeit noch einmal zurückkehren darf. Und zuletzt, dass er dabei eine unbeschadete Erde vorfinden möge. Hoffen wir also auf eine Morgen- und nicht auf eine Abenddämmerung der Menschheit!
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