Gedanken des Balkonisten – von Katzenprotest und gereinigter Meinungsäußerung
Eine Lesermeinung von Mikhail Balzer
Kommt dem werten Leser, wenn er Katzenliebhaber ist, nicht die folgende Szene bekannt vor? Ab und an findet unser Balkonist bei der frühmorgendlichen Inspektion der Katzentoilette im Bad eine "neben dem Katzenklo abgelegte braune Wurst", die offensichtlich nur von Kater Murr III sein konnte. Wenngleich dieser einen solchen Hergang mit einer völlig gleichgültig-unbeteiligten Miene vehement verneint, was wie im Märchen heißen soll: "Da war doch tatsächlich nachts ein gestiefelter Kater hier!"
Michael und Gertrude haben sich schon verschiedene plausibel klingende Theorien zurechtgelegt; so beispielsweise, dass Murr manchmal schlafwandele. Aber am wahrscheinlichsten erscheint ihnen, dass er damit seinen Willen oder auch seinen Protest kundtue. Zumindest sind sie sich sicher, dass auch Kater Murr III seine feste eigene Meinung besitze … auch wenn es vielleicht manchmal nur darum geht, seine Toilette etwas früher zu reinigen.
Reinigen will man im besten Deutschland aller Zeitenwenden auch etwas, nämlich die öffentliche wie individuelle Meinung. Mit erhobenem Zeigefinder, teils aus den abgehobenen Wolkenkuckucksheimen (gerne auch in Potsdam) werden gleichartige moralinsaure Worthülsen zum Besten gegeben. Meistens ist die Rede vom Kampf für eine wehrhafte Demokratie in einem freien, vielfältigen Land mit demokratischen Werten (man beachte, dass meist von "Werten" statt von demokratischen Grundrechten gesprochen wird – das ist in feiner Unterschied). Denn es sei "… die Bereitschaft, für die freiheitliche Ordnung einzustehen, für sie zu kämpfen, sie mitzugestalten" verloren gegangen. Dieses trommelnde Schwarz-Weiß-Stakkato geht noch weiter: Die freiheitliche Demokratie werde heutzutage angegriffen, von außen wie von innen.
Etwas stört hierbei unseren sensiblen Zeitgenossen: nämlich die ausgesprochen inflationäre Verwendung kämpferischer Begriffe (ein mögliches Kennzeichen von Ideologien). Auch hat der Balkonist dazugelernt: Kontinuität, Annäherung und "Politik der ruhigen Hand", ganz real und ohne hochtrabende Visionen, war früher. Heute dreht sich alles um Kriegstauglichkeit und Wehrhaftigkeit im Innen wie im Außen, passend zur postulierten Zeitenwende! Man verneint gar, dass manchmal die Historie ein wenig umformuliert wird. Selbst von den früheren politischen Leitgedanken einer SPD-Bundesregierung, von "Mehr Demokratie wagen" bis zu "Wandel durch Annäherung", hören wir heuer gar nichts mehr. Auf der anderen Seite ist genauso wenig zu vernehmen von der "geistig-moralischen Wende" der CDU der frühen 80er Jahre.
Dennoch scheint diese stereotype politmediale Dauerbeschallung (ein böswilliger Eulenspiegel würde dies womöglich als "Regierungspropaganda" bezeichnen) heute nicht mehr so gut zu greifen, wie noch zu Corona-Zeiten. Ist der Bürger gar seiner "governmental Nanni" mit dem erhobenen Zeigefinger überdrüssig geworden?! Benötigt werden daher (wie schon zu Zeiten eines "real existierenden Sozialismus") Kontrollmechanismen und zensorische Instanzen – die wohlgemerkt aber nicht den freiheitlich-demokratischen, pluralistischen Grundsätzen entsprechen. Heuer, vorgeblich zum Schutz der vermeintlich schwächelnden Demokratie, werden diverse "Meldestellen" etabliert, die auch gerne mal anonyme Anzeigen annehmen (mit freundlichen Grüßen an die denunzierenden Blockwarte!). Staatlich alimentierte Faktenfüchs*Innen und C*Orrective werden oftmals an vermeintlich neutrale NGOs angedockt. Im Rahmen des Ganzen findet eine massive Ausweitung der Überwachung des Internets, sozialer Netzwerke und auch von privaten Chats statt; wobei die hierfür juristisch rechtfertigenden Verdachtsmomente immer tiefer gehängt werden. Damit nicht immer nur der einzelne Staat an Zensur und Kontrolle schuld ist, wird der Spielball auch gerne der EU-Kommission zugespielt, also jener "demokratischsten aller demokratisch auserwählten Eliten".
Und welch feine Ironie verspürt der Leser einer "in Stein gemeierten" Rede vom 2. Oktober, wenn er dann aus demselben berufenen Munde überraschend vernimmt, dass viele gegen Ende der DDR protestiert hätten nicht nur für Reisefreiheit und demokratische Wahlen, sondern eben auch gegen Bevormundung und Bespitzelung! Weiß jener bestdeutsche Oberlehrer nicht mehr, was er ansonsten gesprochen und welche Gesetze er zum vorgeblichen Schutze der Demokratie bereits unterschrieben hat?
Solcherlei erschreckende Tendenzen hat der weise, hoch erfahrene Politiker und Staatsmann Václav Klaus als "Zeitalter des Progressivismus" beschrieben, gekennzeichnet durch eine kontrollierte, von oben administrierte Gesellschaft. Unser Balkonist möchte nur einen charakteristischen kurzen Abschnitt zitieren, welcher das Gefühl der sogenannten "normalen Menschen" ausdrückt, und wie sehr diese sich auf rationaler wie emotionaler Ebene eingeengt und bedroht fühlen: "Man kann heute wieder nicht mehr frei sprechen, man muss um seine Karriere, seine Familie, seine Freiheit, manchmal sogar um sein Leben fürchten. Wir leben in einer monoideologischen Ära der sogenannten liberalen Demokratie, in der die Freiheit nicht an der ersten Stelle steht." Deutlicher kann man den inhaltlichen Widerspruch zwischen politmedialem Nebel und der bitteren Realität kaum ausdrücken.
Unser Balkonist stellt mit einer gewissen Verbitterung fest, dass sich wohl schwerlich etwas rasch an diesem progressivistischen politischen System ändern lasse, besonders nicht in Zeiten von Kriegen und Krisen. Weshalb er sich zunächst in ironischer Analogie wieder der zugrunde liegenden Fragestellung nach der freien Meinungsäußerung seines Hauskaters zuwendet. Sein einfaches Fazit: "Heute hat Murr III wieder gegen etwas protestiert oder seine spezielle Meinung kundgetan, was wir so akzeptieren"; dabei in seriösem wissenschaftlichem Tonfall anfügend "Jedoch müssen wir noch die zugrunde liegende Fragestellung herausfinden". Gertrude regte gar in ihrer unnachahmlich trockenen Art an, man solle vielleicht doch mal das "C*Orrectiv" damit beauftragen, die politisch korrekte Wahrheit hierüber ans Licht zu bringen, zur Not im Sinne eines Auftragsgutachtens. Oder sollten sie besser eine Überwachungskamera, also quasi einen "Toiletten-Zustands-und-Verfassungs-Schutz" im Bad installieren lassen?
Fest steht nur eines: Sie konnten Murr bisher mit keiner Maßnahme seine spezielle Form der Meinungsäußerung austreiben, seien sie noch streng-sanktionierend oder pädagogisch-wertschätzend vorgegangen. Und so bleibt die Hoffnung, dass diese Wahrnehmung auch für die Menschen in Europa gilt.
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