Meinung

Ob Naher Osten oder Ukraine: Europa bekommt, was es verdient

Nicht nur Berlin bietet ein jämmerliches Bild in diplomatischer Hinsicht. In Paris sieht es nicht besser aus. Präsident Macron nimmt den Mund zwar gerne voll und zündelt gerne mit – so in der Ukraine, muss sich aber vom israelischen Premierminister vorführen lassen. Was wiederum symptomatisch für Europa ist.
Ob Naher Osten oder Ukraine: Europa bekommt, was es verdientQuelle: www.globallookpress.com © Panoramic/Keystone Press Agency

Von Pjotr Akopow

Europa hat keinen Einfluss mehr auf irgendetwas in der Weltpolitik, auch wenn es sich alle Mühe gibt, das Gegenteil zu beweisen. Doch je lauter die europäischen Staats- und Regierungschefs sich äußern, desto deutlicher demonstrieren sie ihre eigene Ohnmacht. Und das gilt nicht nur für die Ukraine.

Am Vorabend des Ausbruchs des Krieges im Nahen Osten fehlte es nicht an Beteuerungen westlicher Staats- und Regierungschefs, dass sie sich entschlossen für eine Politik der Verteidigung Israels einsetzen würden. Und nur manchmal waren diese verbunden mit einem Aufruf zu einer friedlichen Lösung, zum Verzicht auf Feindseligkeiten und zum Schutz der Zivilbevölkerung (nur wenige europäische Politiker können es sich leisten, von einer Aggression gegen den Libanon und einem Völkermord in Gaza zu sprechen). Vor diesem Hintergrund klang die Erklärung des französischen Präsidenten eher unerwartet. Emmanuel Macron rief dazu auf, die Lieferung von Waffen an Israel einzustellen, die bei der Operation gegen die Hamas im Gazastreifen eingesetzt werden: "Frankreich ist der Sicherheit Israels verpflichtet, dennoch versuchen wir, konsequent zu handeln. Wir können nicht zu einem Waffenstillstand aufrufen und gleichzeitig Waffen liefern."

Mit "wir" bezog sich Macron nicht auf Frankreich allein – es liefert Israel bereits jetzt nur noch Verteidigungswaffen – sondern auf den Westen insgesamt, allen voran die Vereinigten Staaten, auf die schon vor der Gaza-Operation 70 Prozent der israelischen Waffenimporte entfielen. Frankreich ist nicht das einzige Land, das Waffenlieferungen an den jüdischen Staat einschränkt – Spanien, Kanada und sogar Großbritannien (nachdem die Labour-Partei an die Macht kam) haben dies bereits getan. Macron ist jedoch der erste Regierungschef eines großen europäischen Landes, der ausdrücklich die Notwendigkeit eines Teilembargos erklärt hat, und zwar vor dem Hintergrund des Beginns der israelischen Invasion im Libanon.

Ein ernsthafter Weckruf für Israel? Denn wenn der Westen die Waffenlieferungen stoppt oder auch nur einschränkt, werden die IDF bald nichts mehr zum Kämpfen haben – die Situation unterscheidet sich nicht wesentlich von der in der Ukraine. Ja, Israel wird in der Lage sein, einen Krieg geringer Intensität auf der Grundlage der vorhandenen Bestände und dank der Produktion seines eigenen militärisch-industriellen Komplexes zu führen, aber für einen langwierigen Konflikt im Libanon und erst recht im Falle einer Eskalation des Konflikts mit Iran (selbst in Form eines Austauschs von Raketenangriffen) ist es auf die Lieferung westlicher Waffen angewiesen. Deshalb wurde auch Macrons einfacher Appell in Israel sehr schmerzhaft aufgenommen.

Premierminister Netanjahu stürzte sich geradezu auf den französischen Präsidenten: "Im Kampf Israels gegen die von Iran angeführten Kräfte der Barbarei sollten alle zivilisierten Länder fest an Israels Seite stehen. Doch Präsident Macron und andere westliche Führer fordern ein Waffenembargo. Schande über sie!"

Macron wurde auch von der Leitung des französischen Rates der jüdischen Institutionen [Conseil représentatif des institutions juives de France, Crif; Anm. d. Red.] verurteilt: Seine Äußerung "schmerzt jeden, der sich den Kampf gegen den Terrorismus zu Herzen nimmt".

Das heißt, Frankreich und sein Präsident wurden als unzivilisiert bezeichnet, weil sie zum Frieden aufriefen und nicht bereit waren, den Verlust von Menschenleben im Gazastreifen und im Libanon sowie die Millionen von Flüchtlingen schweigend hinzunehmen. Was war die Antwort von Paris? Es bedauerte Netanjahus "übertriebene" Äußerungen und versicherte, dass Frankreich Israels "treuer Freund" sei. Und am Sonntag telefonierten Netanjahu und Macron miteinander – und der israelische Premierminister sagte dem französischen Präsidenten, dass er seine Unterstützung erwarte, "keine Einschränkungen". Paris ist also in die Enge getrieben worden? Ja, obwohl Macron es geschafft hat, Netanjahu zu sagen, dass Frankreich neben einem "unerschütterlichen Engagement" für die Sicherheit Israels auch einen dringenden Waffenstillstand im Gazastreifen und im Libanon für notwendig hält.

Und wie reagierte man auf Macrons Aufruf in den USA? Gar nicht. Sie liefern nicht nur weiterhin Waffen an Israel, sondern erörtern auch mit dessen Führung Optionen für einen Schlag gegen Iran. Sie raten davon ab, Atomanlagen anzugreifen (was ohne amerikanische Beteiligung unmöglich ist), scheinen aber einen Angriff auf den iranischen Energiesektor zuzulassen. Die Folgen eines solchen Schlags – wenn er in großem Umfang erfolgt – lassen sich schon jetzt vorhersagen: Iran wird mit einem erneuten Raketenangriff auf Israel zurückschlagen, bei dem seine Energieanlagen getroffen werden, was im Falle eines Treffers eine echte ökologische Katastrophe darstellen könnte. Und der nächste Schritt könnte die wütende israelische Führung dazu bringen, Atomwaffen gegen Iran einzusetzen.

Das heißt, die Welt (zumindest der Nahe Osten) wird in eine Katastrophe getrieben – und Europa ist sich dessen bewusst. Gleichzeitig ist es möglich, Netanjahu, der bereits jedes Maß verloren hat, zu stoppen, wenn der Westen ihm geschlossen die Unterstützung verweigert und ihm unter anderem mit einem Waffenembargo droht. Es ist klar, dass die USA dazu nicht bereit sind, aber Europa hat formell das Recht, in Weltangelegenheiten mitzubestimmen. Der gemeinsame Standpunkt der EU zu Israel könnte sich auch auf die Position der Vereinigten Staaten auswirken und zeigen, dass die Alte Welt kategorisch dagegen ist, weiter mit dem Feuer zu spielen, und den Teil der amerikanischen Elite unterstützen, der sich Sorgen um den Brand im Nahen Osten macht, der zunehmend außer Kontrolle gerät.

Aber Europa ist dazu nicht in der Lage. Nicht nur, dass es nicht in der Lage ist, eine konsequente Haltung zur Verteidigung seiner Interessen einzunehmen (denen eindeutig damit gedient ist, Netanjahus Eskalationsspiel zu stoppen), Frankreich gibt auch lautstarke Erklärungen ab, ohne zu glauben, dass sie gehört werden. Der israelische Premierminister schikaniert Macron ganz offen – und dieser antwortet nur mit Ausreden. Und das zu einer Zeit, in der die israelische Armee versucht, den Südlibanon einzunehmen, ein Land, zu dem Frankreich besondere Beziehungen hat (wie Paris gerne betont) und für das es besondere Verantwortung trägt. Eine Million Flüchtlinge und Tausende Tote im Libanon zeigen deutlich den Einfluss Frankreichs und Europas auf die Weltpolitik.

Dieser Einfluss hat negative Werte erreicht, aber wenn sich Europa im wichtigen und immer noch einzigen benachbarten Nahen Osten auf leere Worte über die Notwendigkeit, das Blutvergießen zu stoppen, beschränkt, ist seine Politik auf dem eigenen Kontinent einfach selbstmörderisch. Hier ist es nicht einmal in der Lage, lautstark die Abkehr vom Kurs des NATO-Beitritts der Ukraine zu verkünden und sich so immer mehr in einen direkten Konflikt mit Russland hineinziehen zu lassen.

Macron kann von einem Waffenembargo gegen Israel sprechen (wohl wissend, dass seine Worte nichts bewirken werden), aber er bekommt nicht einmal den leisesten Mucks heraus, keine Waffen an die Ukraine zu liefern – im Gegenteil, er lässt gelegentlich sogar zu, dass französische Truppen dorthin geschickt werden. Ein wahrer Friedensstifter.

Übersetzt aus dem Russischen. Der Artikel ist zuerst am 8. Oktober 2024 auf RIA Nowosti erschienen.

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