Gegen Dummheit gibt es keine Waffen – Westen hält Moskaus "Atomdrohungen" immer noch für einen Bluff
Von Wladislaw Sankin
Die Frage, ob wir und unsere Kinder und Enkelkinder noch eine sichere Zukunft auf diesem Planeten haben werden oder ob wir heute schon durch kriegerische Entwicklungen in die Nähe der tödlichen Gefahren durch eine atomare Eskalation rücken, ist unter allen wichtigen Fragen die wichtigste. Das gilt zumindest für die Staaten, die Atomwaffen besitzen oder sich in deren Reichweite befinden, zum Beispiel dort, wo es potenzielle Ziele für Angriffe mit diesen Waffen gibt.
Und wenn das Land mit dem größten Atomwaffenarsenal der Welt (5.580 atomare Sprengköpfe), ein Land im Krieg, das jeden Tag mit immer weitreichenderen Waffen angegriffen wird und selbst Angriffe durchführt, die Änderung in seiner Doktrin für nukleare Verteidigung verkündet, sollte dieses Thema für die Gegner dieses Landes von höchster Relevanz sein. Zu diesen Gegnern gehört auch Deutschland. In Deutschland befinden sich die größte US-amerikanische Luftbasis in Europa in Ramstein, das NATO-Hauptquartier für die Koordinierung der Ukraine-Politik und bald auch US-Mittelstreckenraketen, die innenpolitisch zunehmend zum parteipolitischen Thema geworden sind.
Doch eine nennenswerte Reaktion in Deutschland, die über das übliche Putin-Bashing hinausgeht, blieb bislang aus. "Putin blufft nur" – mit diesem Titel zitierte RT DE im letzten Jahr mehrere Artikel zu den Reaktionen im Westen auf Russlands nukleare Abschreckung. Seitdem hat sich im Methodik-Handbuch des Westens wenig geändert. Profilierte deutsche Politiker wie Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) schenkten den Änderungen in der russischen Nukleardoktrin nur demonstrative Nichtbeachtung und die deutschen Medien und Experten schwankten in ihren Kommentaren zwischen Gehässigkeit, küchenpsychologischen Ansätzen über angebliche kindliche Traumata Putins und demonstrativer Gelassenheit.
Obwohl, wie gesagt, nicht wirklich nennenswert, kann ich dennoch der Versuchung kaum widerstehen, hierzu einige Zitate zu liefern. So beschimpft T-Online in einem recht langen Kommentar Putin als Tyrann, Diktator und Rüpel und mutmaßt, tief in seinen Kopf blickend, ob er eher die Ratte aus einer älteren Anekdote aus seiner Kindheit ist oder der kleine verängstigte Junge, den die in die Ecke getriebene Ratte in ihrer Not angegriffen hat. Fazit: "Begegnet man dem Diktator mit Härte, läuft er weg und verschanzt sich." Folglich sollte man auch die "Drohungen" Putins nicht ernst nehmen, denn er ließ den Westen auch früher die "roten Linien" überschreiten.
Wichtig bei dieser Argumentation ist die ukrainische Invasion in das Kursker Gebiet. Wie ein "Russland-Experte" in der Berliner Zeitung anmerkt, hat Putin die Ukraine dafür mit keinem außerordentlichen Waffeneinsatz bestraft. Auch er weist auf die Diffusität der russischen Drohgebärden hin, die von Putin gezogenen Linien seien nur "scheinrot". Diese Unbestimmtheit sei bewusst gewählt und Teil der "psychologischen Kriegsführung" des Kremls. Dieser Begriff erfreut sich zunehmender Beliebtheit, fast alle Experten verwenden ihn.
Daher die einzig mögliche Reaktion darauf: Wir lachen Putin ins Gesicht und schenken dem, was er sagt, keine Beachtung. Dass Putin seinen Worten durchaus Taten folgen lässt, wie es nach der schriftlichen Aufforderung zum Gespräch mit der NATO und den USA im Dezember 2021 und dem Versprechen einer "militärisch-technischen" Antwort bei Nichtbeachtung der Fall war, ist vergessen. Und dass derselbe Putin in seiner berühmten Münchner-Rede im Jahr 2007 die NATO eindringlich vor deren Vorrücken an die russischen Grenzen gewarnt hat, auch.
"Putin versucht seit Tag eins der Vollinvasion, die Unterstützung der Ukraine durch nukleare Drohungen einzudämmen", sagte Militärexperte Frank Sauer bei ZDF. "Das ist die x-te Nukleardrohung Putins." Auch Der Spiegel merkt an: "Faktisch hat Putin allerdings trotz dieser Drohungen bisher alle seine selbst gezogenen roten Linien ignoriert." Und die SZ stellt fast selbstzufrieden fest: "Dabei hat der Westen Moskaus rote Linien ohnehin immer wieder überschritten." Eine Eskalationsgefahr bestehe auch jetzt nicht, beruhigt uns das ZDF.
Ähnlich argumentiert Gustav Gressel, ein anderer im ZDF beliebter Militärexperte. Da die Interpretationshoheit über die Überschreitung der roten Linien beim Kreml liege, spielten Fakten keine Rolle. "Es gibt keinen Grund zur Sorge", denn wer weiß schon, was Putin morgen über dies oder jenes denkt, schreibt er auf X. Fast genauso äußerte sich Boris Pistorius vor Kurzem, nachdem Putin den Einsatz weitreichender westlicher Langstreckensysteme gegen Russland als Einstieg in einen direkten NATO-Russland-Krieg bezeichnete: "Putins Drohungen sind Putins Drohungen – mehr muss man dazu nicht sagen."
2/ First, if he meant what he said, we would be at nuclear war already. According to 🇷🇺, 4 🇺🇦oblasts & 1 🇺🇦aut. Republic are already "Russia, and even a defensive 🇺🇦 presence there, supported by the West, would be enough to push the button.Obviously that is not the case.
— Gustav C. Gressel (@GresselGustav) September 26, 2024
Wenige Monate zuvor sagte der Minister: "Mal droht er, mal lockt er, mal zeigt er sich irritiert." Dabei bereitet er sich eifrig auf einen "russischen Angriff" auf Litauen, Moldawien, Georgien und andere kleinere Staaten in nur wenigen Jahren vor und lässt in Litauen eine deutsche Militärbasis bauen. In Litauen fühlt er sich inzwischen fast wie zuhause: Am Freitag sprach Pistorius in Vilnius vor dem litauischen Parlament und warnte wieder eindringlich vor der russischen Aggression. Er zieht sein militärisches Aufrüstungsding unbeeindruckt von Putins "Drohungen" weiter durch.
Und die deutschen Experten, die diesen Ansatz mit ihrer "Expertise" befeuern, reden sich in Rage. Während im Kursker Gebiet, wohl bemerkt im russischen Kernland, seit fast zwei Monaten die Kämpfe toben, redet beispielsweise der aus Russland stammende Sicherheitsexperte Alexander Dubowy in der Berliner Zeitung von einem "russischen Kreuzzug gegen den Westen" (wo Russland dem Westen territorial zu nahe getreten sein soll, verrät er allerdings nicht). Dubowy ruft den Westen dazu auf, alles in seiner Kraft Stehende zu tun, damit die Ukraine Russland besiegt:
"Denn ausschließlich klare Militärerfolge der Ukraine, die Befreiung von Teilen der besetzten Gebiete und ein drohender Zusammenbruch der russischen Verteidigungslinien würden eine realistische Chance auf einen nachhaltigen Waffenstillstand und Friedensverhandlungen eröffnen."
Das sagte er in einer Analyse über die (Nicht)Wahrhaftigkeit der russischen nuklearen Bedrohung. So, als ob dieser militärische Erfolg nicht auf die ständige Erhöhung der Einsätze vonseiten des Westens und die Nichtreaktion Russlands zurückgeführt werden könnte.
Doch genug der Zitate. Werfen wir nun den Blick nach Russland, auf die russische Expertise. Hier stellen wir fest, dass die Anpassung der russischen Nukleardoktrin nicht allein die Tat Putins war, sondern das Werk einer Expertengemeinschaft, die von Medienvertretern bis zu Spezialisten in den maßgeblichen Ministerien und Einrichtungen reichte. Putins Ankündigung wurde von vielen als längst überfälliger Schritt bejubelt. Ein bekannter Militärkorrespondent etwa lobt:
"Ich habe auf ein Dokument gewartet, das den Westen und Kiew zu einem neuen Verständnis der Vorschläge von Wladimir Putin vom Dezember 2021 zurückführt. Diese Vorschläge wurden im Westen als 'Putins Ultimatum' bezeichnet, aber in Wirklichkeit wurde ein echter Weg zur Schaffung eines neuen Weltsicherheitssystems aufgezeigt. Und nur die Militäroperation, nur Russlands Wille, sich selbst und seine Verbündeten zu verteidigen, sogar unter Einsatz von Atomwaffen (laut der neuen Doktrin), kann die Bestrebungen der NATO-Länder, die ganze Welt zu kolonisieren, aufhalten", schreibt Alexander Sladkow in einem Artikel für RT.
Der bekannte Politikwissenschaftler Sergei Karaganow, der seit Jahren für die Rückkehr zu einer offensiveren atomaren Abschreckung als Garant für die russische Sicherheit und den Weltfrieden plädiert und im aktuellen Konflikt sogar einen präventiven Atomwaffeneinsatz in Erwägung zieht – RT DE hat seine Artikel auch veröffentlicht –, hat sich abwartend zu den verkündeten Änderungen geäußert. Er begrüßte den Schritt, kritisierte ihn aber als sehr verspätet und sagte, dass den Worten Taten folgen müssten, etwa die Verlegung strategischer Atomwaffen an die westlichen Grenzen, die verstärkte Produktion bestimmter Waffentypen und der Übergang zu atomaren Tests.
Aber wenn der Westen meint – und das zeigen die ersten Reaktionen –, Putins "rote Linien" blieben auch nach der Sitzung des Russischen Sicherheitsrates am 25. September zu diffus, dann bleibt der für Russland nicht zufriedenstellende Status quo im Wesentlichen bestehen.
In einem Interview mit Kommersant (RT DE berichtete), das erst vor wenigen Wochen veröffentlicht wurde, wies Karaganow noch einmal darauf hin, dass Russland mit der aktuellen Doktrin bereit sei, Atomwaffen als Reaktion auf einen nuklearen Angriff eines anderen Landes oder einen konventionellen Angriff einzusetzen, der die "Existenz des Staates" bedroht. Diese Doktrin sei jedoch unverantwortlich und sogar selbstmörderisch, so Karaganow, da sie die Feinde Russlands nicht ausreichend abschrecke und sie glauben lasse, es gebe kaum Bedingungen, unter denen Moskau seine Atomwaffen einsetzen würde.
Da nur der Präsident des Landes definieren kann, wann die Bedrohung für die Existenz des Staates eintritt, sei die Verwendung dieses Begriffs wegen seiner Unbestimmtheit völlig nutzlos und sogar schädlich. Auch die Behauptungen verschiedener westlicher Regierungs- und regierungsnaher Experten, dass sich die meisten Länder der Welt von Russland abwenden würden, wenn es sein Vorgehen im nuklearen Bereich verschärft, hält der Experte für illusorisch.
"Wir haben es so weit gebracht, dass unsere Gegner glauben, dass wir unter nahezu keinen Umständen Atomwaffen einsetzen werden. Atomwaffen zu besitzen und den Gegner nicht davon überzeugen zu können, sie einzusetzen, ist Selbstmord", so Karaganow.
Ich muss ehrlich gestehen: Je mehr ich mich mit der westlichen Reaktion auf die immer unmissverständlicher werdenden Warnungen aus Russland befasse, desto logischer scheinen mir die Ausführungen dieses für seine Radikalität vielfach kritisierten Experten. Nach der Theorie der nuklearen Eskalation hätten wir ihm zufolge derzeit auf zehn bestehenden Stufen bereits die fünfte erreicht.
Auch der ehemalige ukrainische Diplomat und seit 2014 in Moskau ansässige Experte für internationale Politik Rostislaw Ischtschenko ist der Meinung, dass, da Russland einen Zermürbungskrieg mit konventionellen Waffen gegen 50 gegen Russland vereinigte Staaten angesichts ökonomischer, demographischer und technisch-militärischer Unterlegenheit auf Dauer nicht standhalten kann, es den Ausweg in der Verschärfung seiner nuklearen Doktrin suchen müsse. Russland könne sich nicht leisten, mit dem Westen ein Spiel der spiegelbildlichen Maßnahmen zu spielen, betont der Experte. In einem solchen Spiel wären die russischen Ressourcen, vor allem die demographischen, schneller erschöpft als die des Westens.
Das Problem bestehe allerdings nicht nur darin, dass Russland seine Bereitschaft, Atomwaffen einzusetzen, nicht hinreichend glaubhaft macht, sondern auch in der Unfähigkeit der US-Amerikaner, solche Signale angemessen wahrzunehmen. "Das Konzept der nuklearen Abschreckung hat aufgehört zu funktionieren, weil eine neue Generation amerikanischer Politiker glaubt, dass es möglich und notwendig ist, in der Praxis herauszufinden, wo die Grenze überschritten wird, die den Abschuss russischer Interkontinentalraketen auslösen würde", meint Ischtschenko. Er stellt weiter fest:
"Auch wenn wir den USA selbst sagen, wann eine nukleare Reaktion unvermeidlich wird, werden sie uns immer noch des Bluffs verdächtigen."
Er sei sich nicht sicher, ob die USA in ihrem Streben, um jeden Preis zu gewinnen, prinzipiell gestoppt werden können, selbst wenn sie hundertprozentig zuverlässige Informationen darüber erhalten, dass in der nächsten Runde der Erhöhung des Einsatzes eine nukleare Antwort auf sie warten wird. Es sei zu schwierig, die USA zur Vernunft zu bringen und den Krieg zu beenden, denn die Politiker in Washington seien einfach zu optimistisch. "Sie verhalten sich in der realen Welt wie in der virtuellen Realität, als ob sie zehn Menschenleben zur Verfügung haben und das Spiel jederzeit von Neuem beginnen können", so Ischtschenko.
Die Psychologie ist Experten zufolge also entscheidend. Kommen wir also zurück zur "psychologischen Kriegsführung", die Putin angeblich praktiziert. Vielleicht ist es doch nicht verkehrt, nur noch diese zu führen und nicht diejenige mit Atomwaffen? Dass der Westen bislang nicht mit dem angemessenen Ernst auf Warnsignale aus Moskau reagiert hat, lag laut Ischtschenko auch daran, dass die russische Gesellschaft sich selbst bislang in dieser Frage nicht entschlossen genug gezeigt hat. Viele Russen, die mit Westlern sprechen, denken selbst noch in veralteten Denkstrukturen, ein Atomkrieg sei unter keinen Umständen möglich, und senden ihren Kontrahenten entsprechende Signale. Auch in Russland müsse ein Umdenken stattfinden, meint der Experte. Von der russischen Gesellschaft erwartet er nun mehr Entschlossenheit.
"Unsere Gesellschaft muss nun das gefestigte Vertrauen zeigen, dass die nächste Provokation des Westens nicht nur eine nukleare Antwort auslösen kann, sondern diese nahezu garantiert ist, und die Behörden müssen eine solche Entscheidung voll unterstützen."
Soweit ich es beurteilen kann, wächst in Russland die Bereitschaft, eine deutlich härtere Gangart in der Atomwaffenpolitik zu führen. Putin ist nur derjenige, der auf diese Signale reagiert, sie in der Sprache der Staatspolitik umformuliert und an den Westen weitergibt. Wie es aussieht, war es möglicherweise nicht das letzte Mal, dass Putin in einer Sitzung des russischen Sicherheitsrates eine Änderung in der russischen Nukleardoktrin verkündet hat. Wenn die Empfänger die ausgesendete Botschaft nicht vernehmen, muss man eben lauter rufen.
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