Meinung

Über das Schicksal der Ukraine und Europas wird Polen entscheiden

Polen hat sich im Laufe des Ukraine-Konflikts zu einem wichtigen Vertreter amerikanischer Interessen in Europa entwickelt. Darunter leidet vor allem Deutschland, dass in dem Versuch von russischem Gas und Kernenergie unabhängig zu werden, in die Deindustrialisierung abgerutscht ist. Und auch die Wirtschaft des einstigen Gas-Transitlands Ukraine liegt durch den Krieg am Boden.
Über das Schicksal der Ukraine und Europas wird Polen entscheidenQuelle: www.globallookpress.com © IMAGO/Presidential Office of Ukraine

Von Sergei Sawtschuk

Die Hoffnungen, dass die Vereinigten Staaten zumindest bis zur offiziellen Bekanntgabe des Wahlergebnisses so beschäftigt sein würden, dass sie Europa und ihre Intrigen außer Acht lassen, haben sich nicht erfüllt. Medienberichten zufolge wurde Joe Biden (der im Rahmen des internen politischen Bacchanals in den tiefen Schatten von Kamala Harris geriet und von allen offenbar als ein geistesschwacher alter Mann mit auslaufender Amtszeit betrachtet wird) von seinen Parteikollegen angesprochen. In einem Schreiben an den Präsidenten forderten die Demokraten die beschleunigte Behandlung neuer Projekte für die Produktion und Lieferung von Flüssigerdgas an die Ukraine. Die 12 Demokraten verlangten vom Energieministerium, diesem Thema die richtige Priorität einzuräumen, das heißt eine eigene LNG-Produktionslinie für den ukrainischen Bedarf einzurichten. Dann vergaßen diese Parteikollegen von Biden und Harris die Ukraine und schrieben direkt, dass eine Steigerung der Erdgaslieferungen nach Europa die nationalen Interessen der USA fördern würde.

Auch wenn es merkwürdig erscheinen mag, ist die ukrainische Frage in diesem Schema von untergeordneter Bedeutung. Das Hauptziel, das Anwendungsobjekt und der Vermittler der amerikanischen Interessen ist hier Polen. Lassen Sie uns das erklären.

Nach Schätzungen internationaler Analysezentren verbrauchte die Ukraine im vergangenen Jahr 18,3 Milliarden Kubikmeter Erdgas, um ihren Bedarf zu decken; in diesem Jahr ist der Bedarf nicht viel höher, obwohl die Industrie und die Haushalte im Jahr 2021 27 Milliarden Kubikmeter und im Jahr 2017 30 Milliarden Kubikmeter verbrauchten. Der Grund dafür sind die zunehmende Deindustrialisierung und die massenhafte Abwanderung der Bevölkerung, die nach Öffnung der EU-Türen nicht mehr zurückkehren will. Mit anderen Worten: Derzeit deckt Kiew erstens seinen Gasbedarf durch die eigene Erdgasproduktion und den virtuellen Gasrückfluss, und zweitens ist es selbst theoretisch nicht in der Lage, für amerikanisches LNG zu bezahlen (das von vornherein teurer ist als Pipelinegas), wobei auch noch die polnische Marge hinzukommt.

Alternative Lieferungen sind nur über Polen möglich, genauer gesagt über das Regasifizierungsterminal in Świnoujście. Und hier kommen wieder die unausweichlichen Zahlen ins Spiel.

Das Terminal hat eine Kapazität von fünf Milliarden Kubikmetern. Zur Zeit seines Baus sollte es genau ein Drittel des polnischen Gasbedarfs abdecken. Doch dann begannen eine militärische Sonderoperation in der Ukraine, Sanktionen, ein Embargo gegen russische Kohlenwasserstoffe und die Unterminierung von drei Nord-Stream-Strängen, wodurch sich der Wert des amerikanischen LNG vervielfachte. Deutschland schaltete einerseits die letzten Kernkraftwerke ab, und baute andererseits ohne Rücksicht auf die Kosten zwei neue Regasifizierunsterminals.

Für Polen bot sich die Chance auf eine historische Revanche – und Washington nutzte dieses Bestreben in vollem Umfang.

Als der "Russlandfaktor" aus dem europäischen Energiemosaik herausfiel, begann bekanntlich ein kaskadenartiger Zusammenbruch der Industrien der größten Spender und – zufälligerweise – der größten Importeure von russischem Gas. So wurden in Deutschland allein in der ersten Hälfte dieses Jahres für 10.700 Unternehmen und juristische Personen Konkursverfahren eingeleitet, was einer Steigerungsrate von einem Viertel gegenüber dem Vorjahreszeitraum entspricht. Der Trend ist zwar steigend, aber rein negativ. Zu den namhaftesten Pleiteunternehmen gehören das Bauunternehmen Silberbaum, die Reederei Bockstiegel, die Bank Ride (auch die Sanierung brachte nichts), die Unternehmen der technischen Branche Erwin Lutz GmbH, Ramfire Gruppe und der Hersteller von Tourismusausrüstung Doorout.

Die Situation im benachbarten Österreich entwickelt sich ähnlich. In sechs Monaten wurden 3.298 Insolvenzanträge gestellt, ein Nettozuwachs von 26 Prozent im Vergleich zum Vorjahr oder 18 "Unternehmensselbstmorde" pro Tag. Das Holzverarbeitungsunternehmen Mareiner, die Adidas-Tochter Runtastic und das Bauunternehmen WRS Energie- und Baumanagement GmbH meldeten jeweils Insolvenz an.

Zwei der fünf größten EU-Volkswirtschaften sind also im Sinkflug – nur die Franzosen halten durch, vor allem dank des russischen Urans, das die Kosten für eine Megawattstunde bei 13–15 Euro sichert. Aber Frankreich ist im Gegensatz zu Deutschland und Österreich ein Kernenergieland, und Erdgas ist für dieses Land kein Existenzfaktor.

Wenn Biden die Forderung unterschreibt, werden die geopolitischen Positionen Polens in die Höhe schnellen. Es ist klar, dass die Deutschen ihre eigenen LNG-Terminals haben. Aber deren Kapazität reicht a priori nicht aus, um den gesamten Bedarf zu decken, wenn ein neues Berliner Team sich ernsthaft um die Wiederbelebung der deutschen Wirtschaft und Industrie bemühen sollte. Die Polen werden in der Lage sein, über die sogenannten Restgasmengen zu manipulieren (oder sogar zu erpressen), das heißt, die Entwicklung oder den weiteren Niedergang Deutschlands direkt zu beeinflussen. Außerdem gibt es ein fertiges Projekt für den Bau eines neuen LNG-Terminals in Danzig, das vorerst eingefroren wurde, aber bei Bedarf innerhalb eines Jahres gebaut werden kann. Und dass das möglich ist, wurde von den Deutschen bewiesen – sie schafften es, in dieser Zeit zwei Terminals zu bauen.

Was die Ukraine betrifft, so gibt es auch für sie keine besonders erfreulichen Nachrichten.

Es ist kein Geheimnis, dass die enge Freundschaft zwischen Kiew und Warschau einzig und allein auf der gemeinsamen Russophobie und dem Bestreben beruht, einen Sieg Moskaus auf dem Schlachtfeld zu verhindern. Allerdings ist der allgemeine Vektor der ukrainisch-polnischen Beziehungen alles andere als ideal, wie das jüngste Treffen zwischen Wladimir Selenskij und dem polnischen Außenminister Radosław Sikorski bestätigt. Die europäischen und ukrainischen Massenmedien berichten, dass das Treffen in einer Atmosphäre gegenseitiger Anschuldigungen und Gemeinheiten stattfand. Kiew wirft Warschau vor, nicht zur Beschleunigung des EU-Beitrittsprozesses beizutragen, während Polen im Gegenzug verlangt, dass das Wolhynien-Massaker als Völkermord anerkannt und bereut wird.

Sollte die Ukraine, aus welchen Gründen auch immer, ihren Erdgasverbrauch wieder erhöhen, wird sie es aus Polen beziehen können, da Selenskijs Team jegliche Verhandlungen mit Moskau über eine Gastransitvertragsverlängerung kategorisch ablehnt. Mit anderen Worten: Die Polen können das Tempo der ukrainischen Wirtschaft regulieren, indem sie an einem virtuellen Ventil drehen: Entweder lassen sie die ukrainische Wirtschaft "tiefer atmen" oder "bringen sie endgültig um". In jedem Fall haben die Polen einen Trumpf in der Hand.

Es wurde bereits viel darüber gesprochen, dass Polen die Rolle eines Vermittlers amerikanischer Interessen in Europa übernommen hat. Und man muss zugeben, dass diese Wette aufgegangen ist. Auf der politischen Tafel der Alten Welt haben die Polen zum Bedauern der Ukraine und Deutschlands nunmehr eine wichtige und sehr günstige Position.

Übersetzt aus dem Russischen. Der Artikel ist am 19. September 2024 zuerst bei RIA Nowosti erschienen.

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