Meinung

Nach Brexit kommt USexit: USA werden Europa verlassen – und das wird "hässlich"

Die Briten entschieden sich 2016, die EU zu verlassen. Es könnte geschehen, dass auch die USA Europa bald aufgeben. "Bloomberg" meint, dies sei nur noch eine Frage des "wann" und des "wie", nicht mehr des "ob", und der USexit werde "nicht hübsch" sein. Die Untertreibung des 21. Jahrhunderts.
Nach Brexit kommt USexit: USA werden Europa verlassen – und das wird "hässlich"Quelle: Gettyimages.ru © piola666

Ein Kommentar von Elem Chintsky

Man wird in der Europäischen Union freundlich an die Tatsache herangeführt, dass der Segen Washingtons nicht ewig auf dem alten Kontinent walten werde. Bisher wird dies an das Szenario eines Trump-Sieges gekoppelt, als ob der "orangene Mann" im Alleingang einen abrupt-tollpatschigen Rückzug à la "Biden aus Afghanistan 2021" vollbringen würde. Aber auch im Team Harris könnten – methodisch gemäßigtere, in ihren Konsequenzen für Europa aber ähnlich desaströse – Szenarien des Rückzugs aus Europa bereits in Planung sein.

So sprach kürzlich ein Bloomberg-Artikel von diesem ominösen US-Rückzug aus der EU und aus ganz Europa – und zwar unabhängig davon, wer aus der Wahl im November 2024 als Sieger hervorgehen wird. Das lässt auf einen überparteilichen, langfristig angesetzten sicherheitspolitischen Konsens in den USA schließen.

Der besagte Bloomberg-Artikel erklärt, dass US-Amerikaner nun sehr dringlich gewordene, eigene Probleme zu bewältigen hätten:

"Im heutigen Kontext permanenter Haushaltskrisen (eine weitere steht bevor) und immer erdrückenderer Staatsschulden wird Washington Entscheidungen treffen müssen."

Deutsche und europäische Ökonomen sind in wirtschaftswissenschaftlichen Kategorien ohnehin farbenblind, von ihnen sind rechtzeitige Warnungen beileibe nicht zu erwarten.

Weiter zählt Bloomberg die Optionen Amerikas betreffend Europa auf. Man habe die Wahl zwischen "einem brachialen MAGA-Isolationismus" und einem "subtileren Rückzug", der "Zurückhaltung" genannt wird. Selbst letztere Option werde unter der Führung von Kamala Harris tragische Konsequenzen für Europa haben.

Die Szenarien werden von Analytikern in die Kategorien "rasch" und "langsam" unterteilt. Ein rascher Rückzug der USA aus Europa könnte von einer chinesischen Invasion auf Taiwan getriggert werden. Darauf würde ein Abzug von militärischem Gerät und Personal aus Europa folgen, dicht gefolgt vom Absetzen der gewohnten Finanzspritzen und dem Ende der ausgeleierten Soft Power. Unter "langsam" versteht man die Camouflage einer präzedenzlosen US-Haushaltskrise, unter deren Vorwand man auf Raten die finanzielle und militärische Unterstützung Europas zurückfahren würde. Auch hier mit einem Blick auf neue Prioritäten Washingtons in Asien und im Pazifik – gegen den "chinesischen Drachen".

Der US-Hegemon wird Europa jedoch nicht verlassen, ohne zuvor einige Vorkehrungen getroffen zu haben. Sicherlich wird er seine europäischen Handlanger – und das sind fast alle Mitgliedsstaaten der EU – dazu überreden, Verträge zu schließen, die den Verkauf von US-Staatsanleihen durch europäische Institutionen blockieren. Diese Anleihen sind in den Staatshaushalten des ratlosen Kontinents tief eingegraben und werden Wucherzins-Wurzeln schlagen, sobald der US-Dollar seinen Status als Weltreservewährung endgültig verliert. Für die Amerikaner wäre dies nur eine vorübergehende Lösung, aber sie ist mittelfristig geeignet, ihren sozioökonomischen Absturz auf Kosten der Europäer weich zu polstern. 

All die "Young Leaders", die die Völker Europas heute regieren, wurden eigens für diese kontrollierte Sprengung des eigenen Kontinents auserwählt und gezüchtet. Die masochistische Ampel-Regierung in Berlin ist ein Paradebeispiel hierfür, der ratlos-böswillige Baerbock-Blick – ein grelles Zeugnis. Sie werden es sein, die nur allzu gern Unterschriften unter für die USA günstige "europäisch-amerikanisch Scheidungspapiere" setzen werden. Sie werden Onkel Sam Tränen triefend zum Abschied winken, während dieser sich ins Fäustchen kichernd in den Sonnenuntergang segelt, neuen und größeren Abenteuern im Nahen Osten und im asiatischen Pazifik entgegen. Kann er sich doch darauf verlassen, dass Berlin, Warschau, Paris, Tallinn und Bukarest ohne sein Zutun bereit sind, ein törichtes, gerne auch taktisch-nukleares Harakiri gegen Russland zu begehen?

Der jetzige deutsche Kriegsminister Boris Pistorius will bis 2029 kriegsbereit gegen Russland sein. Dass die AfD im nächsten Jahr bundesweit über 50 Prozent der Wählerstimmen erlangt, beginnt zu regieren und zumindest die Chance hätte, Deutschland aus diesem neoliberalen Kriegswahn beizeiten herauszuziehen, ist extrem unwahrscheinlich. Mit der Unaufrichtigkeit des BSW Wagenknechts wird diese ohnehin geringe Chance noch zusätzlich verringert. Wie man es auch dreht – es bleibt zu wenig Zeit. Ein Wahlsieg der AfD bei der Bundestagswahl 2029 käme jedenfalls für eine Rettung Deutschlands zu spät.

Der Elefant im Porzellanladen – was wird aus der NATO?

Mittlerweile erscheint nicht nur mir klar, dass in den europäischen Eliten vehement auf einen Krieg mit Russland hingearbeitet wird. Der unbeirrbare Aufwärtstrend der Eskalationsspirale lässt mit dem bisherigen Mangel an Tauwetter und genuinen Friedensbemühungen – außer bei "Extremisten", wie Ungarns Orbán – nichts anderes erwarten.

Die USA wollen aber ihre eigenen Männer nicht in Osteuropa verheizen. Die anglo-amerikanische Oligarchie möchte die ratlosen Nationen Mittel- und Osteuropas voranschicken und selbst einen Sicherheitsabstand wahren – geografisch wie juristisch. So wie Großbritannien die Sache handhabte, als es in den 1930er Jahren Warschau vollkommene Narrenfreiheit gab in dessen törichter Diplomatie mit der Sowjetunion und Nazideutschland, mit fatalen Folgen für Polen als Nation, Staat und Volk.

Noch einmal: Für den baldigen US-Rückzug vom Kontinent bedarf es einer Reform der NATO, eines revidierten Nordatlantikpaktes. Der polnische Ministerpräsident Donald Tusk hat – den EU-Ratspräsidenten an seiner Seite – bereits dieses Jahr öffentlich dazu aufgerufen, die Europäische Union im Eilverfahren zu einer "selbstständigen Wirtschafts- und Militärmacht" umzugestalten, einen Sieg Trumps antizipierend. Polen hofft unter Trump zumindest auf "bilaterale Sicherheitsverträge" mit den USA, um "den bösen Russen" weiterhin in 3D-Schach zu halten. Bloomberg warnt, dass "im Kreml Champagnerflaschen knallen würden."

Washington will parteiübergreifend ein brennendes Europa, das sich langfristig als hegemonialer Konkurrent disqualifiziert und gleichzeitig Russland nachhaltig schwächt. Das geschwächte Russland grätscht dann in die wachsende Dominanz der Volksrepublik China. So ist der Plan.

Das erste große Kapitel der Deindustrialisierung der BRD wurde bereits verfasst und ist im rasanten Prozess der Umsetzung – vollbracht unter der vermeintlich der EU ideologisch genehmen, väterlichen Obhut der Biden-Administration. Da sind auch die jüngsten Aussagen zur NATO-Kohärenz einer Kamala Harris bei der Debatte gegen Donald Trump nicht für bare Münze zu nehmen. Ja, sie behauptete gar, die "europäischen Freunde in der NATO" nicht im Stich zu lassen und den Ukrainekrieg zu den Bedingungen des neoliberal-globalistischen Establishments beenden zu wollen: durch eine unmissverständliche Niederlage Moskaus.

Der Autor des Bloomberg-Artikels scheint sich da gar nicht mehr so sicher zu sein über die Umsetzbarkeit solcher Wunschträume. Washington ist nicht imstande, auf allen geopolitischen Flashpoint-Hochzeiten gleichzeitig erhaben zu tanzen. Europa schafft sich ohnehin schon freiwillig ab und Peking ist im Vergleich zum Brüsseler Projekt, das viel größere Hühnchen, welches gerupft gehört. Letztendlich geht es für die USA ums Überleben.

Auch die Narrative Trumps, er könne den russisch-ukrainischen Krieg binnen 24 Stunden beenden, wie auch sein "Wäre es nicht toll, wenn wir uns mit Russland vertragen würden?" sind politisch kalkulierte Floskeln ohne Substanz. Bereits in seinem ersten Amtsjahr veranlasste der "unberechenbare" US-Präsident die größten US-Rüstungslieferungen an die Ukraine seit der Machtergreifung des faschistoiden Kiewer Regimes im Jahr 2014. Wenigstens hält Trump sich an seine Prämisse, einen "ukrainischen Sieg" nicht als Nonplusultra zu verstehen und deutet stets auf eine "Beilegung des Konflikts mit Kompromissen auf beiden Seiten", was auch immer das in der Praxis heißen wird.

Sicherlich werden daraufhin Tsunami-Wellen westwärts durch ganz Europa rollen, ohne auf einen Fels in der Brandung zu stoßen. Institutionen werden zerbrechen, sozialwirtschaftliche Verhältnisse werden zügig Weimarer Niveau erreichen und man wird in Eile "nach den Verantwortlichen suchen", da man ja nie selber schuld sein kann. Wenn das supranationale Wirtschaftssystem der EU aus den Fugen gerät, wird auch die Eurozone ihre bisherige Funktionalität verlieren. Es werden Rückbesinnungen auf nationale Lösungsansätze – unkomplizierter und weniger bürokratisch – versucht werden. Ob das zugelassen wird, inmitten des wütenden Chaos, das auch von außen ausgeschlachtet werden kann, ist eine andere Frage.

Jedenfalls ist die NATO nicht nur ein Militärbündnis. Sie ist ein einst virulentes Mediennetzwerk, das echte Alternativen nicht duldet und bekämpft – früher verdeckt, heute offen. Sie ist ein fremd auferlegtes, politisches Panoptikum in Europa, das über die Grenzen der EU hinaus die nationalen politischen Prozesse des alten Kontinents mit dem Komfort der mittlerweile schwindenden Deutungshoheit diktiert.

Verlassen die USA Europa, so bleibt eine "ausgehöhlte NATO" und eine kläglich desorientierte EU. Dieses Machtvakuum wird wieder gefüllt werden, höchstwahrscheinlich erneut von außen, nicht von den selbstverschuldet Unmündigen, die in Europa heimisch sind, ironischerweise am wenigsten von den Deutschen. Dafür bräuchte es eine kognitiv und ethisch mutige neue Generation, sofern es ihr überhaupt erlaubt wird, erwachsen zu werden, die Augen zu öffnen, durch die maroden Institutionen zu schreiten und Strategien zu entwickeln. Wenn bis dahin Chinesen und Russen die Ruder Europas übernehmen würden, könnte man das so quittieren, wie die liberalen, englischsprachigen Massenmedien oft bei ihrem Gesinnungsbabysitting zu sagen pflegen, wenn es um nur eine Sichtweise gehen soll:

"That’s a good thing."

Elem Chintsky ist ein deutsch-polnischer Journalist, der zu geopolitischen, historischen, finanziellen und kulturellen Themen schreibt. Die fruchtbare Zusammenarbeit mit RT DE besteht seit 2017. Seit Anfang 2020 lebt und arbeitet der freischaffende Autor im russischen Sankt Petersburg. Der ursprünglich als Filmregisseur und Drehbuchautor ausgebildete Chintsky betreibt außerdem einen eigenen Kanal auf Telegram, auf dem man noch mehr von ihm lesen kann.

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