Meinung

Der Flieder, die Rosen und der Weg dahinter

Manchmal ist es nötig, aus der nüchternen Betrachtung herauszutreten. Manchmal drängen sich Bilder auf, die Geschehenes kommentieren und sich erst beim Nachdenken entschlüsseln. Ein Augenblick im August 1944 hat sich mir aufgedrängt.
Der Flieder, die Rosen und der Weg dahinter© Jack Downey, U.S. Office of War Information, Public domain, via Wikimedia Commons

Von Dagmar Henn

Als im August 1944 de Gaulle im befreiten Paris einzog, rezitierte er ein Gedicht. "Der Flieder und die Rosen", geschrieben von dem kommunistischen Schriftsteller Luis Aragon. Ein Moment, der definierte, was den Kern der französischen Resistance ausmachte, ja, was sie überhaupt möglich gemacht hatte. Dieser Augenblick war gewissermaßen der Gründungsmoment des Frankreichs nach dem Zweiten Weltkrieg.

Es war keine einfache Partnerschaft, die sich darin zeigte. De Gaulle war lange Mitarbeiter des späteren Regierungschefs der Kollaboration, Petain, gewesen; noch zur Zeit der Volksfrontregierung in den 1930ern hätte sich niemand ein derartiges Bündnis vorstellen können, da de Gaulle große Sympathien für den Faschismus hegte. Aber die Kapitulation 1940 war ein fundamentaler Bruch mit dieser Umgebung und während der Resistance hatten seine Anhänger und die kommunistischen Partisanen gemeinsam gekämpft. Das Gedicht selbst, das ich leider nicht in deutscher Übersetzung gefunden habe, handelt genau von diesem Schlüsselmoment: "An diesem Abend hat man uns gesagt, dass Paris kapituliert hat."

Aragon hat später in seinem Roman "Die Kommunisten" diesen Moment gewissermaßen ausgeschrieben; der blühende Flieder taucht darin auf an den Straßenrändern Belgiens, als französische Panzerverbände, die spät und gegen enormen inneren Widerstand mobilisiert werden, dort einen Durchbruch der Wehrmacht verhindern sollen. Die Widersprüche innerhalb der französischen Regierung und die schlechte Vorbereitung schildert er detailliert, wie auch die Vergeblichkeit der Kämpfe, weil der Hauptangriff durch die Wälder der Ardennen erfolgte.

Aragon war tatsächlich 1940 zur Armee einberufen, selbst in Belgien und hatte dort einen Schlüssel erfunden, der es ermöglichte, die französischen Panzer von außen zu öffnen – die Hersteller hatten schlicht nicht daran gedacht, dass dies nötig werden könnte. Der Mediziner geriet in den Kessel von Dünkirchen, wurde nach Plymouth evakuiert, kehrte schon am nächsten Tag mit marokkanischen Truppen nach Frankreich zurück, wurde um den 20.6. gefangen genommen, flüchtete und war bereits wieder bei der französischen Armee, als die Nachricht von der Kapitulation am 22.6. eintrifft. Noch im selben Monat entstand das Gedicht, in dem viele Orte entlang dieser Strecke auftauchen. Es erschien Ende September 1940, also bereits unter deutscher Besatzung, erstmalig im Le Figaro.

Aragon war längst ein bekannter Autor, und seine politische Haltung war Allgemeinwissen; er hatte Flüchtlingen aus dem spanischen Bürgerkrieg geholfen, an antifaschistischen Kongressen teilgenommen. De Gaulle wusste genau, was er tat, als er dieses Gedicht wählte. Dieses Gedicht klingt nach verlorener Liebe, es erinnert an den Ton, mit dem Heinrich Heine im Exil über Deutschland schrieb, aber es endet mit einer Weigerung, aufzugeben – die Rosen in der Farbe fernen Feuers.

Auf der nüchternen, politischen Ebene gab es einen Punkt, der die beiden Teile dieses Bündnisses miteinander verband, über den Kampf gegen die Besetzung hinaus. Es war der Wunsch nach einem souveränen Frankreich, das weder von den Briten noch von den US-Amerikanern vereinnahmt werden kann. Auch wenn in der späteren Geschichte zahlreiche Auseinandersetzungen stattfanden, dieser eine, verbindende Punkt blieb. Und da Kommunisten und Gaullisten, auch wenn sie nicht an der Regierung waren, über Jahrzehnte die stärksten politischen Kräfte blieben, wurde dieser eine Augenblick immer wieder aufgegriffen, wenn die Notwendigkeit bestand.

Dabei spielte sicher auch das sowjetische Interesse eine Rolle, eine völlige Unterordnung Westeuropas unter die USA zu verhindern. De Gaulle war kein Freund der NATO. So etwas wie ein Emmanuel Macron war jedenfalls damals nicht möglich.

Übrigens hätte es, wenn man Quellen aus den ersten Nachkriegsjahren liest, in Deutschland auch eine Chance gegeben, auf ähnlicher Grundlage einen Wiederaufbau zu gestalten; das wurde letztlich vor allem durch die US-Vertreter verhindert, die aktiv an der Teilung arbeiteten. Es ist schmerzhaft, Originaltexte aus dieser Zeit zu lesen, weil die ungeheure Offenheit, die sich darin findet, spüren lässt, was durch diese Spaltung verloren gegangen ist. Man könnte sagen, die Entstehung der Westrepublik und ihre politischen Folgen waren das genaue Gegenteil dieses Augenblicks rund um "Der Flieder und die Rosen". Vergiftet, weil die Eingliederung der Nazieliten in den bundesdeutschen Staat bereits abzusehen war.

Aragons Gedicht und seine Rezitation durch de Gaulle haben aber noch die tiefere Ebene einer geteilten Liebe. Da ist mehr als die Zweckmäßigkeit eines politischen Bündnisses. Es ist ein sehr patriotischer Text, ohne jede Aufdringlichkeit, eher mit einer wehmütigen Selbstverständlichkeit. Und dieser Moment der Rezitation erhielt dadurch den Charakter einer Heilung, als wäre die Befreiung von Paris in sich nicht genug, sondern es bedürfe auch des Moments des Innehaltens, um die Trauer der vier Jahre zuvor erfolgten Kapitulation tatsächlich abzuschließen.

Nur, warum fällt mir ausgerechnet dieser eine historische Augenblick heute ein, der bereits 80 Jahre zurückliegt? Weil er für die historischen Möglichkeiten steht, um die die Deutschen gleich zweimal betrogen wurden, das erste Mal durch die Spaltung, und das zweite Mal nach 1989? Weil dieses Gedicht, in seiner Verlorenheit, seinem Schmerz, aber auch in seinem Entsetzen über eine Unterwürfigkeit, die man nicht zu teilen bereit ist, dem nahekommt, was die freiwillige deutsche Selbstzerstörung in mir auslöst?

Versuche, die Folie der heutigen politischen Landschaft über die damalige Zeit zu legen, enden in einer absurden Lächerlichkeit. Es wäre nie zu einer einigen französischen Resistance gekommen, hätte es damals auch nur ansatzweise Vorstellungen gegeben wie den heutigen "Kampf gegen Rechts". Die entscheidende Linie wurde durch die Tatsachen vorgegeben. Wer mit den Nazis kollaborierte, war Feind, wer sie bekämpfte, Freund, auch wenn es nicht im Handumdrehen geschah. Wann ist der Punkt erreicht, an dem es nötig, ja, unverzichtbar ist, ein solches Kriterium anzulegen? Genügt dafür der Angriff der USA auf Nord Stream und die Scholz'sche Kapitulation?

In diesem bizarren Deutschland, in dem ständig von Hass und Hetze die Rede ist, aber nie von Liebe. Als wäre diese Emotion, die voraussetzt, sich nicht selbst an erste Stelle zu setzen, völlig verschwunden. Als wäre alles, was über das Ego hinausweist, auch wenn es sich um eines der grundlegenden menschlichen Gefühle handelt, so bedrohlich, dass es nicht einmal mehr zum Zwecke der Ablehnung ausgesprochen werden darf.

Ja, vielleicht ist es das. Dieser Augenblick, die Rezitation dieses Gedichts zu diesem Zeitpunkt, in dieser Konstellation ist das, was derzeit nur als Leerstelle in Deutschland zu finden ist. Das, was es bräuchte, wären nicht nur intellektuell funktionsfähige Politiker statt fremdgesteuerter Halbdebiler. Was es bräuchte, wäre echte Zuneigung zu diesem Land, Fürsorge, ein Wille, aufzubauen und nicht einzureißen. Und Übereinstimmung in dieser Zuneigung.

Es ist diese Zuneigung, die die Weitsicht verleiht, zwischen dem wirklich Nötigen und dem zu unterscheiden, was vielleicht Gewohnheit oder Mode vorgeben. Die Klarheit, die man im Rückblick zu haben glaubt, war auch in Frankreich zwischen 1940 und 1944 nicht so einfach zu haben. Aber die Notwendigkeit und das Streben, das aus der gemeinsamen Zuneigung entstand, haben diesen einen Moment möglich gemacht. Nicht nur, weil eine bestimmte Person ein bestimmtes Gedicht vorgetragen hat, sondern auch, weil ohne das Zusammenwirken davor der Augenblick nicht eingetreten wäre.

Bezogen auf das Heute ist das nur ein Wunsch, aus der Ferne ins Leere gesprochen. Ohne allzu große Zuversicht, dass sich die nötigen Bundesgenossen finden, um den Weg zu Souveränität und Frieden tatsächlich zurücklegen zu können. Rosen in den Farben eines fernen Feuers.

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