Was denken die Menschen in Erfurt? Unterwegs in der AfD-Hochburg
Von Wladislaw Sankin
Selten war es in diesem Sommer so sonnig und heiß in der Thüringer Hauptstadt wie an diesem historischen ersten September. Schon aufgrund dieses für die Jahreszeit außergewöhnlichen Wetters ist es keine leichte Aufgabe mit den Menschen auf den Erfurter Straßen ins Gespräch zu kommen. Die Hitze ist jedoch nicht der einzige Grund für die fehlende Gesprächsbereitschaft.
Die Stadt ist gespalten. Als wir bei einer Friedenskundgebung der linken Kräfte am Anger für unsere Reportage drehen wollen, kommt eine ältere Aktivistin auf uns zu, um uns mitzuteilen, dass das Drehen an diesem Ort ohne Erlaubnis der Veranstalter untersagt sei. Ich frage nach, wo die Veranstalter denn zu finden seien – die Veranstaltung hat fast keine Besucher. Die paar Dutzend Menschen, die anwesend sind, sind auch diejenigen, die ein paar Infostände und ein kleines Podest aufgebaut haben und betreuen.
Die wohlmeinenden allgemeinen Friedensparolen im politisch korrekten, gegenderten Sprech, die abwechselnd mit Musik von der Bühne erklingt, interessiert die Erfurter nicht. Auf einem der Zelte prangt das Logo der Linkspartei und sie wird an diesem Tag die Hälfte ihrer Wähler verlieren. Das Drehverbot wird von einem bärtigen Mann in den Siebzigern bestätigt. Auf eine Begründung verzichtet er. Die ältere Aktivistin sieht mein verdutztes Gesicht und sagt: "Wer weiß denn, wer und wofür das Filmmaterial auch nutzen würde".
Für die Veranstalter stehen die Erfurter anscheinend im generellen Verdacht, AfD-Sympathisanten zu sein – als hätten sie Angst, dass die Wahlgewinner direkt nach ihrem Wahlsieg die linken Kräfte verfolgen würden. Ein Mann mit Rucksack ruft einer Rednerin im Vorbeigehen "Halts Maul" zu. Die Anwesenden reagieren mit den Rufen "Internationale Solidarität!". Der Mann geht mit erhobenen Stinkefinger weiter. Konflikte dieser Art gehören hier zum Alltag.
Wie bereits erwähnt, ist es nicht einfach, Gesprächspartner zu scharfen politischen Themen für eine Videoaufzeichnung zu finden. Aber diejenigen, die mit uns sprechen, reden gerne und lange. Nicht nur sind diese Menschen nicht in Eile, sie haben auch etwas Anderes gemeinsam: Mit einer einzigen Ausnahme ist keiner von ihnen AfD-Wähler. Ein Mittdreißiger, der auf den Stufen des Ehrtal-Obelisks auf dem Domplatz die Nachrichten auf seinem Smartphone schaut, sagt, dass er mit Wahlergebnissen ganz zufrieden sei. Darüber, welcher Partei er seine Stimme gegeben hat, redet er allerdings eher verblümt.
Am frühen Nachmittag, Stunden bevor die ersten Wahlergebnisse verkündet werden, befrage ich die Menschen hauptsächlich zum Krieg in der Ukraine, zur Nordstream-Sprengung und zum Ost-West-Gefälle in Deutschland. Eine ältere Frau aus Bayern, die gerade zu Besuch bei ihrer Freundin ist, sagt mir, dass Selenskij für sie nicht vertrauenswürdig sei. "Das, was er macht, ist für mich Schauspielerei". Sie sei auch strikt gegen die Waffenlieferungen und glaube, dass die Ukrainer die Gas-Pipelines in der Ostsee gesprengt haben. Selbst wähle sie traditionell CSU und denke, dass Markus Söder ein guter Kanzler sein könne.
Sie hoffe, dass die Union sich irgendwann den Realitäten stellen und zu einer Russland-Politik im Stile Angela Merkels zurückkommen werde. Im Gespräch stellt sich heraus, dass sie selbst gebürtige Thüringerin ist. "Wir haben in der DDR zwischen Russen und Ukrainern nicht unterschieden, weil wir mit der Sowjetunion groß geworden sind", sagte sie. Sie will das Ende des Krieges durch Verhandlungen und kritisiert Selenskij dafür, dass er auf Putins Vorschläge nicht reagiert. Als ich die gleichaltrige Freundin der Frau zu einem Gespräch einlade, erklärt sie, dass sie ihrer Freundin in allem zustimme.
Ein Mann im mittleren Alter löscht seinen Durst mit kühlem Wasser aus einem Trinkwasserspender und wäscht sein Gesicht. Nach der Erfrischung kommen wir ins Gespräch. Er sei Kommunist und stehe auf der Seite der einfachen Menschen – sowohl in Russland als auch in der Ukraine. "Junge Männer werden auf beiden Seiten verheizt, Zivilisten leiden", beklagt er. Militärische Unterstützung der Ukraine schaukele die Gewalt im Krieg nur hoch und provoziere die Nuklearmacht. Russland und die USA sehe er als imperialistische Mächte und er habe Angst vor dem Dritten Weltkrieg. Dann spricht er über den Erfolg der AfD. Dieser sei für ihn auch Ausdruck der Unzufriedenheit der einfachen Menschen. Zudem sei das Ost-West-Gefälle noch nicht überwunden, weil die Löhne noch nicht gleich seien.
Ein weiterer Mann im gleichen Alter trägt einen langen weißen Bart und wirkt ebenso freundlich. Er stellt sich auf die Seite der Ukraine, auch was die Angriffe mit Langstreckenwaffen und den Überfall auf Kursk betrifft. Die Gefahr der Eskalation, die diese Entwicklungen mit sich bringen, kann er nicht erkennen. Ein angegriffenes Land dürfe jedes Mittel zu seiner Verteidigung nutzen. Aber mit der Sprengung der Pipelines hätten die Ukrainer sich selbst ins eigene Bein geschossen.
Der nächste Gesprächspartner ist ein Paar, das wie Touristen wirkt. Wie sich dann herausstellt, handelt es sich jedoch um Einheimische. Der Mann will mir keine einfachen Antworten geben. Dafür sei der Nebel des Medienkrieges zu groß. Der russische Angriff auf die Ukraine sei nicht richtig gewesen, aber es könnte Gründe dafür gegeben haben. Die Meinungen gehen da einfach auseinander, stellt er fest. Und so erhalte ich auf all meine Fragen eine eher diplomatische Antwort von ihm. Am Ende erklärt er jedoch deutlich, dass die Amerikaner das ureigene Interesse an einem Konflikt zwischen Russland und Europa haben. Man erkennt, er informiert sich und versucht nachzudenken, seine Frau hört ihm aufmerksam zu.
Auch mein nächster Gesprächspartner antwortete ausführlich. Der Endfünfziger geht mit seinem Hund spazieren und hat Lust auf das Gespräch (das auch später mit ausgeschalteter Kamera fortgeführt wurde). Der alteingesessene Erfurter "Puffbohne" sieht alles nüchtern und kritisch, sein Herz schlägt links. Er findet den Krieg in der Ukraine fürchterlich und lehnt die Befeuerung des Krieges vonseiten des Westens ab, heißt aber auch die russische Politik nicht gut. Es sei auf beiden Seite ein falsches Spiel gespielt worden, die Situation sei verfahren. Ihm fehlen vor allem echte Informationen, denn es werde sehr viel "desinformiert".
Die AfD sei für ihn eine faschistische Partei. Zum Beweis weist er auf die angebliche NPD-Vergangenheit von Tino Chrupalla hin (Das ist Falschinformation, Chrupalla war lange Zeit CDU-Wähler – Anm. der Red.) Die AfD-Wähler wollten einfache Lösungen und sehnten sich nach einem König, der für sie denkt. Demokratie sei zwar anstrengend, aber nötig. Er hält es für möglich, dass die Zeiten umkehren und Deutschland wieder keine Demokratie mehr sein wird.
Als wir über das Ost-West-Gefälle sprechen, wird der Erfurter wütend. Es sei egal, ob man die Wiedervereinigung Übernahme oder Annexion nennt oder nicht. Fakt sei, dass die Westdeutschen hier reinmarschiert seien und alles aufgekauft hätten. Auch bei der Treuhand sei so viel "Scheiße" passiert. "Wir haben nach wie vor nicht die gleichen Löhne, obwohl wir die gleiche Arbeit leisten", beschwert sich der Mann.
Der nächste Mann, mit dem ich spreche, ist Tourist und kommt zusammen mit seiner Frau aus Niedersachsen. Er hält die Unterstürzung der Ukraine mit Waffen für richtig. Das angegriffene Land dürfe sich mit allen Mitteln verteidigen. Es sei aber für ihn nicht einfach gewesen zu dieser Entscheidung zu kommen. Die Unterschiede zwischen dem Osten und dem Westen Deutschlands hält er für erfunden und die Immigration vieler Ausländer nach Deutschland eine Bereicherung. Viel eher unterscheiden sich die Deutschen nach Bundesländern, was auch gut sei. Jedes Land dürfe so sein, wie es ist, auch Thüringen. Auch mit AfD als der stärksten Kraft? Das frage ich nicht, was ich später bedauere.
Die nächste Umfragerunde beginnt nach der ersten Hochrechnung auf dem Domplatz. Nun ist es amtlich, dass AfD die Wahl klar gewonnen hat. Das erleichtert den Einstieg ins Gespräch. Eine Seniorin kommt aus Sachsen und sie hat ihre Stimme bereits heute früh in ihrem Bundesland abgegeben. Sie sei froh, dass die CDU in Sachsen gewonnen hat und mit Kretschmer sei sie zufrieden. Ihr Mann schaltet sich kurz ein. Er komme aus Thüringen und habe früher für die Grünen gestimmt, aber nun wähle er zusammen mit seiner Frau die gleiche Partei.
Die riesige Fläche des Domplatzes ermöglicht es mir, meine potenziellen Gesprächspartner rechtzeitig zu wählen. Eine Gruppe aus drei Männern, die mit festem Schritt den Platz diagonal überqueren, sieht vielversprechend aus. Alle drei sind bester Laune und ich lade sie mit einem Lächeln zum Gespräch ein. Über die Wahl sprechen? Gerne! Aber nicht vor der Kamera. Die Männer sind ausgesprochen freundlich. Als ich erkläre, dass die Kamera für das Gespräch erforderlich sei, gehen sie weiter. Alles passiert sehr schnell und mir wird sofort klar, dass es ein Fehler war, die Männer einfach weiterziehen zu lassen. Ich beschließe also, dass es sich um AfD-Wähler handeln muss. Was sonst hätte sie zu dieser Reaktion veranlasst?
Möglicherweise handelt es sich bei den drei Männern aber auch um BSW-Wähler. Auch diese neue Oppositionspartei hatte heute großen Erfolg. Auf diesen Gedanken komme ich aber erst nach dem Gespräch mit einem sportlich wirkenden Berliner. Er ist ein Hüne und trägt einen silbernen Bart. Wie mehr als die Hälfte meiner Gesprächspartner heute geht auch er mit seiner Frau spazieren.
Der Mann sagt, dass er sich für Sahra Wagenknecht und ihr Bündnis sehr freue. Er komme aus Berlin und werde selbst bei künftigen Wahlen für das BSW stimmen. Frau Wagenknecht sei wie Frau Weidel, merkt er an. Allerdings verfüge Sahra Wagenknecht über noch mehr Wissen. "Sie will Frieden, sie will Verhandlungen und keine weiteren Toten und das finde ich gut", betont er.
Der einzige AfD-Wähler, mit dem ich an diesem Tag spreche, sitzt am Obelisk in der Mitte des Platzes und schaut Nachrichten. Er ist zwar über die Wahlergebnisse froh, befürchtet aber, dass es vonseiten der Bundespolitik Einmischungen geben wird, wie im Jahre 2020, als die Wahl Thomas Kemmerichs zum Ministerpräsidenten mit AfD-Stimmen rückgängig gemacht wurde. "Bitte, meine Aussagen nicht aus dem Kontext reisen", ruft er mir beim Abschied zu. Wie viele andere Gleichgesinnte hat er Angst vor Verächtlichmachung.
Danach spreche ich eine Gruppe von zwei jungen Männern und einer jungen Frau an. Sie sind Anfang zwanzig und wirken sympathisch, lehnen aber ein Gespräch höflich ab. Als ich mich von ihnen entferne, höre ich noch, wie einer dem anderen sagt, "nicht, dass ich wieder was Falsches sage". Ich stelle fest: Um seine Zustimmung zur AfD öffentlich zu bekunden, müssen die Menschen in Scharen sein, wie auf der Kundgebung, die am Vortag genau auf diesem Platz stattfand. Einzeln oder in kleinen Gruppen und vor einem Reporter stehend, trauen sich die meisten das einfach nicht zu.
Meine letzten drei Gesprächspartner sind wieder Touristen. Zuerst ein Rentnerpaar aus Franken. Sie seien katholisch und hätten gerade den Gottesdienst im Mariendom besucht, teilen sie mit. Der Mann sagt mir, dass er traditionell CSU wähle und AfD für faschistisch hält. "Die etablierten Parteien verschwinden", stellt er fest. Der Vater habe ihm von der Ostfront erzählt und vor Faschisten gewarnt. Die Frau ist erfreut über die vielen jungen Menschen, die an Anti-AfD-Demos teilnehmen. Als wir die Kamera ausschalten, wollen sie weiter reden und ihre Meinung wird differenzierter. Mit vielen Zuständen in der Bundesrepublik seien sie nicht einverstanden und hätten Angst vor der Zukunft. Ihre Besorgnis wirkt aufrichtig.
Der letzte Mann sitzt ebenso wie der AfD-Wähler auf dem Obelisk-Stein und scrollt über sein Smartphone. Er habe unser Gespräch mit dem Paar mitbekommen und komme gemeinsam mit seiner Frau auch aus Bayern. Er scheint nur unwesentlich jünger zu sein und gibt zu verstehen, dass er selbst ähnlich denkt und wählt. Nach den Wahlen kann er sich nicht vorstellen, wie man in Thüringen eine Regierung bilden kann. Nicht nur mit AfD, auch mit BSW dürfe aus seiner Sicht nicht koaliert werden. Zum Schluss überrascht er mich mit einer Bemerkung – "soweit ich gehört habe, waren die Menschen in Thüringen mit Ramelow ganz zufrieden". Wie es nun weitergeht, sei völlig offen.
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