Migration und Gewalt: Die falsche Milde
Von Dagmar Henn
Inzwischen ist es amtlich: Die Zahl der Gewalttaten in Deutschland nimmt kontinuierlich zu. Zuletzt bestätigte das der Jahresbericht der Bundespolizei für die deutschen Bahnhöfe. Dabei geht es nicht nur um Messerangriffe, sondern in einer ganzen Reihe von Städten auch um gewalttätige Auseinandersetzungen zwischen unterschiedlichen Gruppen von Migranten.
Auf der anderen Seite neigt die deutsche Justiz dazu, vergleichsweise milde zu urteilen. Was auch richtig wäre, ginge es um die einheimische Bevölkerung, aber in diesen Fällen zu einem sich selbst verstärkenden Kreislauf führt.
Zu dieser Ansicht komme ich nicht, weil ich in irgendeiner Weise an grundsätzliche Unterschiede zwischen Menschen glaube, gleich, ob durch Abstammung, Kultur oder Religion. Im Gegenteil – weil ich denke, dass Menschen auf bestimmte Situationen in einer durchaus nachvollziehbaren und berechenbaren Weise reagieren, und davon ausgehe, dass vor allem reale Erfahrung das Handeln prägt.
Wann ist die Wahrscheinlichkeit, dass jemand auf Konfliktsituationen mit unmittelbarer physischer Gewalt reagiert, am Höchsten? Da braucht es keine Konstrukte wie "toxische Maskulinität"; in den meisten Fällen muss man nur betrachten, wie die Lebenserfahrung in Ländern mit längeren Bürgerkriegen aussieht, vor allem, wenn die Gesellschaft zuvor noch sehr ländlich geprägt war.
Wenn es kein funktionierendes Rechtssystem mehr gibt, keine Polizei, die man anrufen könnte, dafür aber ein hohes Niveau allgegenwärtiger Gefahr, dann greifen Menschen, unabhängig von Geografie, Religion, Kultur, auf das zurück, was unter diesen Umständen noch Sicherheit gewährleisten kann. Das sind primär zwei Punkte: Der erste sind Familienstrukturen, die dafür sorgen, dass man möglichen Konflikten nicht allein gegenübersteht, und das andere ist die Bereitschaft, selbst unmittelbar einen Konflikt mit oder ohne Waffen auszutragen. Wie gesagt, der entscheidende Punkt ist, dass es schlicht gar keine andere Möglichkeit mehr gibt.
Den Wenigsten in Deutschland ist noch bewusst, wie weit die Lebenslage in solchen Ländern von einem Zustand entfernt ist, in dem noch im letzten Winkel Strafzettel wegen Falschparkens erteilt werden. Die Anpassung an einen Zustand, der aus deutscher Sicht eine unvorstellbare Abwesenheit von Ordnung darstellt, ist keine Frage des Wollens, sondern schlicht eine Voraussetzung des Überlebens. In vielen Ländern gibt es zumindest einzelne Gegenden, die sich in einem ähnlichen Zustand befinden. Niemand würde eine brasilianische Favela mit einem Bündel Dollarnoten in der Hand betreten, und wenn doch, hätte diese Unvernunft sehr schnell deutliche Folgen.
Nun ist es aber nicht so, dass Menschen mit einer derartigen Erfahrung, werden sie in ein anderes Land versetzt, in dem dieser hohe eigene Aufwand (denn das ist es, psychisch wie physisch) nicht erforderlich wäre, schlicht einen Schalter umlegen und sich wie gesetzestreue Bürger verhalten. So funktioniert das nicht.
Jeder, der einmal etwas länger in einer Umgebung mit einer hohen Kriminalität gelebt und sich an die Verhaltensvorgaben gewöhnt hat, wird das bestätigen können. Man kann sich zwar relativ schnell abgewöhnen, größere Geldbeträge in der Unterwäsche zu transportieren, aber bis man aufhört, die Umgebung außer Haus ständig nach möglichen Gefahren zu sichten, dauert doch deutlich länger. Bei jemandem, der so aufgewachsen ist, sitzt das noch wesentlich tiefer.
Nun wird in der deutschen Umgebung so getan, als sei so ein wenig Belehrung über das Erlaubte und das nicht Erlaubte ausreichend. Aber das Einzige, das konkrete und unter Umständen überlebensentscheidende Erfahrung ausgleichen kann, ist eine andere konkrete Erfahrung. Und genau hier kommen wir zum fundamentalen Irrtum.
Ein Teil davon ist das Vorurteil, Migration sei eine an sich problemlose Sache, solange irgendwie Nahrung und Unterkunft gesichert sind. Das ist sie nicht. Selbst unter den günstigsten Bedingungen bleibt sie eine psychische Herausforderung, eine Stresssituation. Allein deshalb, weil man viele Situationen wesentlich schlechter einschätzen kann als in der vertrauten Umgebung, und jemand, der dieser Erfahrung nie gemacht hat, unterschätzt die Anzahl dieser Situationen gewaltig. Es gibt Migrationsforschung in Deutschland, auch wenn sie wenig wahrgenommen wird; eines ihrer Ergebnisse ist, dass die psychische Belastung durch die Migration mit dem Verlust eines nahen Angehörigen vergleichbar ist.
Der nächste Teil ist die eigenartige Folge, die juristische Milde hat, wenn das Gegenüber aus einem mehr oder weniger rechtlosen Zustand stammt. Wobei man natürlich anmerken muss, dass Menschen immer und überall, außer, sie leben nur in einer kleinen, isolierten Gruppe, eine Form des Rechts entwickeln. Selbst von Gangsterbossen regierte Slums ähneln kleinen Fürstentümern und besitzen Vorgaben und Regeln, die im Kern ein Rechtssystem darstellen, und ebenso verhält es sich mit Großfamilien, die als Schutzgemeinschaften an die Stelle größerer Strukturen treten.
Wenn jetzt ein jugendlicher Straftäter vor einen deutschen Richter tritt (üblicherweise mit jahrelanger Verzögerung) und dieser deutsche Richter die gesamte Vorgeschichte so berücksichtigt, wie es das deutsche Recht vorsieht (was eigentlich eine Errungenschaft ist, die in diesem Fall aber ins Auge geht), dann wird das von Menschen, deren erlebte Erfahrung aus einer Abwesenheit eines staatlichen Rechtssystems besteht, nicht als Milde erfahren. Ich rede hier nicht von einem strafenden Recht.
Aber die Wahrnehmung rechtlicher Ordnung funktioniert in zwei Richtungen. Auch wenn in diesem Fall der Täter selbst sich im ersten Moment freuen wird, gibt es eine Rückwirkung: Wenn das bei mir so ist, dann ist das auch bei einem anderen so, der vielleicht zu einer anderen Volksgruppe, einer anderen Großfamilie, einem anderen Stamm gehört, und der womöglich mir selbst Übles will. (Und ich möchte nochmals auf den Treppenwitz hinweisen, dass eine milde Strafe bei zugewanderten Jugendlichen diese womöglich der einzigen Chance auf eine echte Berufsausbildung beraubt, die in einer längeren Haftstrafe besteht.)
Anders ausgedrückt, es ist nicht einmal die Schutzfunktion gegenüber der deutschen Gesellschaft, bei der die Justiz in diesem Moment versagt, sondern die Schutzfunktion gegenüber dem Täter selbst. Weil der Alarmzustand, der das Ergebnis der Erfahrung in einer Umgebung eines schwachen Rechts ist, nie aufgehoben wird. Denn die beiden Reaktionen, was bedeutet es für mich unmittelbar und was bedeutet es für mich im Verhältnis zu anderen, sind nicht voneinander zu trennen.
Und in Bezug auf die Vermittlung konkreter Erfahrungen, die ein funktionierendes Recht erleben lassen, ist Deutschland ausgesprochen schwach. Ein böses Beispiel: Im Jahr 2015 kam es in vielen Flüchtlingsunterkünften zu sexuellen Übergriffen. Migranten gegen Migranten; übrigens die häufigste Variante, die man in der deutschen Gesellschaft eher nicht wahrnimmt, als würden sich alle Syrer, alle Afghanen untereinander vertragen. Die Reaktion auf diese Übergriffe jedenfalls war schwach, was womöglich auch damit zu tun hatte, dass das Wachpersonal einfach keinen Ärger wollte, und dass politisch ein Interesse daran bestand, solche Vorfälle zu vertuschen, um weiter auf "Willkommenskultur" zu machen. Stattdessen gab es hübsche Broschüren, in denen mit Bildchen dargestellt wurde, wie man in der deutschen Gesellschaft mit Sexualität umgehe.
Ein Nichts im Vergleich zu der konkreten, unmittelbaren Erfahrung, dass Übergriffe keine Folgen haben. Denn ein Recht, das nicht durchgesetzt wird, ist wertlos. Diese Nichtdurchsetzung funktioniert in einer Gesellschaft wie der deutschen eine Zeit lang, weil die Erfahrung der relativen Sicherheit stabilisiert (auch da gerät man allmählich an die Grenze). Sie funktioniert aber nicht gegenüber Menschen, die eine staatliche Form des Rechts nie erlebt haben.
Wobei man keinesfalls übersehen darf, dass diese Sicherheit entlastet. Man kann das an einem einfachen Beispiel nachvollziehen. Man muss sich nur eine große, verkehrsreiche Kreuzung denken und den Zustand mit Ampel mit jenem ohne Ampel vergleichen. Solange die Ampel funktioniert, wird die ganze Kreuzung sowohl von Autofahrern wie von Fussgängern schlicht als vorübergehende Unterbrechung der Fortbewegung wahrgenommen. Fällt die Ampel aus, erfordert die Querung deutlich mehr Aufmerksamkeit und kann für bestimmte Gruppen, wie beispielsweise gehbehinderte Fußgänger, zur echten Gefahr werden. Wenn dann auch noch die Verkehrsschilder fehlen, die zumindest die Vorfahrt regeln … Welcher der beiden Zustände ist anstrengender?
Eine schnelle, fassbare und nachvollziehbare Reaktion wäre, auch wenn man das instinktiv erst einmal anders wahrnimmt, sogar dem Täter gegenüber ein Gefallen, weil nur sie Sicherheit vermitteln und von dem permanenten Stress befreien würde, der aus der Erfahrung einer weitgehend rechtlosen Umgebung resultiert. Das, was tatsächlich geschieht, ist eher das Gegenteil. Nicht nur, dass die Flüchtlingsunterkünfte Zonen sind, in denen das geltende Recht kaum durchgesetzt wird, darüber hinaus wird selbst innerhalb der deutschen Gesellschaft eine Erfahrung vermittelt, die nicht anders denn als Rechtlosigkeit gelesen werden kann, und das beginnt schon bei der Einreise.
Was passiert aber, wenn ich eine größere Anzahl Menschen, die an eine Gesellschaft eines schwachen Rechts angepasst sind (notwendigerweise), in der Wahrnehmung bestätige, sie befänden sich nur in einer anderen Variante von Rechtlosigkeit, und dem Ganzen auch noch den Stress der Migration hinzufüge?
Richtig. Es kommt sogar zu mehr Gewalt, als sie womöglich in den Herkunftsländern ausgeübt hätten, in denen zumindest die "Ersatzstrukturen" Großfamilie oder Stamm noch funktionieren. Während die deutsche Bevölkerung die Angst, die sich aus zunehmender staatlicher Unzuverlässigkeit ergibt, weitgehend ins Unterbewusste verdrängt, geht das in diesem Fall nicht, und der Verlust der "Ersatzstrukturen" verschärft das Problem weiter.
Statt also eine menschliche Reaktion auf die Eruptionen der Gewalt zu bieten, die aus dieser Lage resultieren, ist die vermeintliche Milde der Verstärker, der die Eruptionen wahrscheinlicher macht. Die Tatsache, dass die deutsche Gesellschaft selbst dabei ist, sämtliche kollektiven Bezüge zu verlieren und sich in lauter Einzelgestalten zu zerlegen, verschlimmert das weiter, denn nichts erzeugt mehr Angst, als alleine einer unberechenbaren Situation ausgesetzt zu sein.
Aber das ist nun einmal das aktuelle deutsche Problem: Nichts wird mehr wirklich durchdacht, von Verantwortung ganz zu schweigen. Welchen Eindruck hinterlässt beispielsweise die Tatsache, dass für den Tod der Bewohner des Behindertenheims im Ahrtal, das nach den Flutkarten des zuständigen Landesministeriums in einem möglichen Flutgebiet lag, die bis zwei Uhr nachts nicht evakuiert wurden, obwohl bereits um 18 Uhr Notunterkünfte bereit standen, bis heute niemand vor Gericht stand? Was heißt das für jemanden aus einer Gesellschaft, in der in einem solchen Fall die Angehörigen Rache nehmen würden? Macht dieses Rechtssystem ein Angebot, das von der Notwendigkeit, selbst das eigene Recht zu sichern, entlastet?
Ich sage es ungern, aber letztlich wird an dieser zunehmenden Gewalt nur der wahre Zustand des deutschen Rechtssystems sichtbar, das bei seiner eigentlichen Aufgabe immer deutlicher versagt. Die Deutschen tun schlicht aus Trägheit (eher in einem physikalischen als einem mentalen Sinne) noch so, als sei alles in Ordnung. Wollte man aber diese Entwicklung umkehren – und man kann bei der gegenwärtigen politischen Elite starke Zweifel an diesem Willen hegen –, dann wären andere Reaktionen erforderlich als richterliche Milde und ein paar Werbeblättchen.
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