Der Westen, Nagasaki und wer mit wem auf einer Stufe steht
Von Dagmar Henn
Der Bürgermeister der Stadt Nagasaki musste bei der Gedenkfeier für den Abwurf der US-Atombombe auf seine Stadt am 9. August 1945 auf viele Vertreter des Westens verzichten. Schon vor der Feier war bekannt, dass die Vertreter aus den USA, Großbritannien, Kanada, Frankreich, Italien, Deutschland und der EU nicht an der Veranstaltung teilnehmen würden. Aus "Solidarität mit Israel", hieß es, weil der israelische Vertreter ausgeladen worden war. Nicht einmal wegen des Genozids, den sein Land gerade verübt, sondern wegen Sicherheitsbedenken.
Jetzt aber wird bekannt, dass es zu dieser Absage ein Schreiben gab, und die Zeit fasst dies kurz zusammen:
"In einem Brief an den Bürgermeister der Stadt, Shiro Suzuki, äußerten die Diplomaten Medienberichten zufolge ihre Besorgnis, Israel könne mit Ländern wie Russland und Belarus auf eine Stufe gestellt werden. Die Vertreter beider Länder wurden infolge von Russlands Invasionskrieg weder zu den Gedenkfeierlichkeiten in Hiroshima noch in Nagasaki eingeladen."
Das ist eine Dreistigkeit, die den Atem raubt. Auch wenn man darüber hinweggeht, dass einer der so moralisch absagenden Diplomaten der Vertreter genau des Landes ist, das das Kriegsverbrechen an Nagasaki, das bis zu 80.000 Tote und 74.909 Verletzte hinterließ, begangen hatte, und dass noch weitere dieser edlen Vertreter große Kriegsverbrechen begangen haben, Deutschland insbesondere in der Sowjetunion.
Nein, die Dreistigkeit liegt darin, was gleichgesetzt oder eben nicht gleichgesetzt werden soll. Denn nicht Israel würde gekränkt, wenn man es mit Russland und Weißrussland auf eine Stufe stellte – die Wahrheit ist genau andersherum.
Bei Weißrussland müsste das sofort, augenfällig, unübersehbar klar sein – dieses Land führt keinen Krieg, gegen niemanden. Niemand könnte Schulen, Krankenhäuser und Flüchtlingslager nennen, auf die Weißrussland Bomben geworfen hätte. Aber auch gegenüber Russland ist das eine geradezu bodenlose Unverschämtheit, wenn man auch nur einen Moment lang wahrnimmt, was im Gazastreifen geschieht, und im Westjordanland, und mit den hemmungslosen Attentaten und dem Beschuss des Südlibanons und so weiter und so weiter …
Im Gegenteil, wenn es etwas gibt, was mit dem Vorgehen der israelischen Regierung im Gazastreifen vergleichbar ist, dann ist es die Kriegsführung der Ukraine im Jahr 2014 im Donbass. Da wurde nämlich auch versucht, auszuhungern, da wurden Strom- und Wasserversorgungen blockiert, und da wurde hemmungslos mit Artillerie auf die Zivilbevölkerung geballert. Nur den Einsatz von Bombenflugzeugen trauten sie sich so schnell nicht mehr.
Es ist zwar bekannt, dass viele Angehörige der Bundesregierung unter Rechenschwäche leiden, aber versuchen wir doch einmal, herauszufinden, was in der Ukraine vorzufinden (oder eben nicht mehr vorzufinden) wäre, würde die russische Armee so vorgehen wie die israelische.
Die niedrigste Schätzung, die Zahlen des Gesundheitsministeriums von Gaza, geht von mittlerweile 40.000 getöteten Zivilisten aus. Die Gesamtbevölkerung des Gazastreifens, wir nehmen mal die ungefähren Werte, liegt bei etwa zwei Millionen. Dieser Krieg läuft seit zehn Monaten.
Setzen wir einmal, ganz vorsichtig, die aktuelle Bevölkerung der Ukraine beim Zwölffachen an. Die russische Militäroperation in der Ukraine begann im Februar 2022, das sind rund dreißig Monate, also das Dreifache. Was bedeutet, die Zahl der zivilen Opfer müsste, um es rechtfertigen zu können, Russland mit Israel auf eine Stufe zu stellen, 40.000 mal drei mal zwölf betragen. Das sind 1.440.000. Niemand, nicht einmal die wutschäumendsten Kriegstreiber im Westen, könnte auch nur einen Beleg für die Anzahl Opfer finden, die Israel jetzt bereits in der Zivilbevölkerung ums Leben gebracht hat – sonst würde nicht nach wie vor von den "schrecklichen Bildern von Butscha" geredet.
Aber nehmen wir doch einmal andere Zahlen, die auch noch die Verstorbenen einrechnen, die durch Hunger und Krankheiten umkamen. Dazu gibt es beispielsweise eine Schätzung der medizinischen Fachzeitschrift The Lancet, die auf 180.000 Opfer kommt. Und das multiplizieren wir dann mit 36 … das sind schon 6.480.000.
Was den Zustand der Städte angeht – nach internationalen Angaben sind bereits jetzt 65 Prozent der Gebäude im Gazastreifen zerstört – das lässt sich nicht mehr verdreifachen, denn bei 100 Prozent ist Schluss, da steht dann nichts mehr. Nach fünfzehn Monaten, also spätestens im Juni 2023, hätte die Ukraine diesen Zustand erreicht haben müssen. Nichts mehr mit Partys oder Staatsbesuchen in Kiew; nichts mehr mit Kiew. Die ganze Ukraine sähe so aus, wie sie einst die Wehrmacht bei ihrem Rückzug hinterlassen hatte – ein gigantisches Trümmerfeld aus zerstörten Dörfern und Städten, unter denen Hunderttausende begraben waren.
Es ist genau der Blick nach Israel, der es eindringlich zeigen sollte, warum das, was Russland tut, eine Sonderoperation ist und eben kein Krieg. Nebenbei, es gibt auch keine Parlamentsdebatten, in denen russische Minister alle Ukrainer zu Tieren erklären und debattieren, ob man sie nicht straflos foltern können müsse, oder summarisch erschießen, wenn der Platz in den Gefängnissen zu knapp wird. All das ist bei Israel belegt, ganz offiziell, mit Bild und Ton, in der israelischen Presse.
Nichts, aber auch gar nichts würde es rechtfertigen, Russland auf eine Stufe mit Israel zu stellen. Auch nicht auf eine Stufe mit den Vereinigten Staaten, die so wenig Scham besitzen, sich am Ort eines ihrer größten Verbrechen über andere zu mokieren, statt gesenkten Hauptes dankbar dafür zu sein, dass sie dort sein dürfen.
Natürlich, die moralische Hybris der Westbande ist weltbekannt, und niemand außerhalb ihrer eigenen geografisch-medialen Blase erwartet noch ein Quäntchen Anstand. Aber in der globalen Heuchel-Olympiade ist dieses gemeinsame Schreiben der schwänzenden Botschafter dennoch eine rekordwürdige Leistung. Es wird eben kein Schritt unterlassen, um zu belegen, dass dieses genozidale Israel Fleisch vom Fleische des Westens ist. Russland ist es glücklicherweise nicht.
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