Meinung

Die westliche Staatsgewalt verliert immer mehr an Legitimität

Die Situation mit Kamala Harris zeigt einmal mehr, dass die westlichen Eliten den Willen des Volkes zunehmend missachten. Und das kann die Eliten sehr teuer zu stehen kommen. Die Republikaner werden Kamala während des Wahlkampfs an jeder Ecke und an jedem Mikrofon daran erinnern.
Die westliche Staatsgewalt verliert immer mehr an Legitimität© AP Photo/Tony Gutierrez

Von Geworg Mirsajan

Nach dem Rückzug von Joe Biden vom Rennen um das Amt des Präsidentschaftskandidaten der Demokratischen Partei ist die Wahrscheinlichkeit hoch (sogar überwältigend hoch), dass die derzeitige Vizepräsidentin Kamala Harris die Kandidatin der Partei wird. Die Parteispitze hat ihre Unterstützung zugesagt, die Wahlleute haben sie bestätigt und ihre Sponsoren haben sie unter Vorbehalt gebilligt. Sogar die Gerechtigkeit steht hinter ihr ‒ schließlich ist Harris als Vizepräsidentin unter Biden nominell die Zweite in der Thronfolge.

Allerdings erhielt sie keine Unterstützung von den Wählern.

Kamala Harris hat nicht an den Vorwahlen der Demokraten teilgenommen, die vom 23. Januar bis 8. Juni 2024 stattfanden. Ihr Name stand nicht auf den Kandidatenlisten, und 87 Prozent der Wähler der Demokratischen Partei gaben damals ihre Stimme Joe Biden. Und diese Situation kann nicht mehr korrigiert werden. Der ehemalige US-Präsident Barack Obama schlägt zwar vor, die Vorwahlen zu wiederholen, aber in weniger als einem Monat (vor dem nationalen Parteitag der Demokraten in Chicago, der vom 19. bis 22. August stattfinden wird) ist es physisch unmöglich, diese zu organisieren. Es sei denn, es würde eine applausbasierte Wahl geben.

Es scheint, als gäbe es kein besonderes Problem. Joe Biden hat Kamala Harris seine Unterstützung ausgesprochen. Die Wahlleute (die von den Wählern zum Parteitag delegiert wurden) sind ebenfalls bereit, Kamala ihre vertrauenswürdigen Stimmen zu geben – nach vorläufigen Berechnungen hat sie mehr als 3.100 von 3.949 möglichen Stimmen erhalten. Schließlich kann die Führung der Demokratischen Partei gemäß US-amerikanischem Recht einen Präsidentschafts- oder Vizepräsidentschaftskandidaten auswählen, ohne die Öffentlichkeit zu befragen.

Trotzdem wird Kamala Harris immer noch illegitim sein. Die Republikaner werden sie während des Wahlkampfs an jeder Ecke und an jedem Mikrofon daran erinnern. Sie werden sie als Kandidatin des Establishments bezeichnen und damit eine deutliche Gegenüberstellung zum "Kandidaten des Volkes" Donald Trump vornehmen.

Im Allgemeinen zeigt die Situation mit Kamala Harris einmal mehr, dass die westlichen Eliten den Willen des Volkes zunehmend missachten. Und das kann für die Eliten sehr kostspielig werden.

Wahlen sind eine der wichtigsten Säulen der Demokratie. Die Hauptbedeutung dieser Legitimation ist jedoch nicht, dass der Herrscher eine Art Mandat als der Beste der Besten erhält. Die gesamte Geschichte der Demokratien zeigt, dass die Bevölkerung eher dazu neigt, die Schönsten und Beliebtesten zu wählen – und diese sind nicht immer identisch mit den "Besten".

Wahlen und Legitimität werden in erster Linie benötigt, um in der Bevölkerung die Illusion zu erzeugen, dass sie die Macht innehat. Die Wahl von Kamala Harris zur US-Präsidentin würde darauf beruhen, dass ein Durchschnittsbürger für sie gestimmt hat ‒ was bedeutet, dass der Durchschnittsbürger ein Gefühl der Verantwortung für die Handlungen und Entscheidungen von Präsidentin Harris hat. Er würde erkennen, dass Harris' möglicher Fehler auch sein Fehler ist, den er bei der nächsten Wahl leicht korrigieren kann, indem er für einen anderen Kandidaten stimmt.

Wenn der Durchschnittsbürger versteht, dass nicht er selbst derjenige ist, der die Wahl des Staatsoberhauptes trifft, dass er überhaupt keinen Einfluss darauf hat, wer ihn regiert, dann ergeben sich für den Staat oder die supranationale Vereinigung eine ganze Reihe von Problemen. Angefangen von der größeren Bereitschaft der Bevölkerung zur Revolte und zum Ungehorsam bis hin zur Bereitschaft der Menschen, die radikalsten, aber gegen das Establishment gerichteten Kräfte zu unterstützen. Zum Beispiel die extreme Rechte oder die extreme Linke. Und die Eliten selbst, die sich schon lange weit von der Bevölkerung abgekoppelt haben, beginnen eine Politik zu verfolgen, die nicht den nationalen Interessen entspricht.

Europa hat diesen Weg bereits eingeschlagen. Die Bevölkerung der EU-Länder hat so gut wie keinen Einfluss auf die Wahl der Zusammensetzung der Europäischen Kommission ‒ und es ist nicht verwunderlich, dass in der gesamten EU eine scharfe Anti-Brüssel-Stimmung verbreitet ist. Und das zu Recht ‒ die Chefin der Europäischen Kommission, Ursula von der Leyen, und ihre Getreuen betreiben eine kriegerische, äußerst gefährliche und für die EU kostspielige Konfrontationspolitik mit Russland. Einfach weil sie ‒ wie das gesamte westliche liberale Establishment ‒ einen Kreuzzug gegen Russland führen. Dieser wird durch europäische Medien gestützt, denen die Bevölkerung immer weniger traut.

In einigen europäischen Ländern ist die Situation recht ähnlich. Zum Beispiel in Deutschland, wo die Vertreterin der Grünen, Annalena Baerbock, erklärte, dass sie die Ukraine auch gegen die Meinung der Wähler unterstützen werde (was einer der Gründe für den starken Rückgang der Umfragewerte der Grünen war). Oder auch im Vereinigten Königreich, wo drei Premierminister der regierenden Konservativen Partei innerhalb der letzten Legislaturperiode abgelöst wurden ‒ die letzten beiden (Liz Truss und Rishi Sunak) wurden nicht durch Volksabstimmung, sondern durch Briefwahl und die Entscheidung der Abgeordneten der Konservativen gewählt. Sie hatten also keinerlei Legitimation durch das Volk ‒ kein Wunder, dass die Konservative Partei bei den Parlamentswahlen im Juli gescheitert ist.

Wladimir Selenskij ist nicht einmal der Rede wert. Das Oberhaupt des Kiewer Regimes hat derzeit keine Legitimität oder gar Legalität (seine Amtszeit als Präsident ist abgelaufen und es gab keine Neuwahlen). Und die Tatsache, dass der Westen Selenskij weiterhin als Präsident der Ukraine anerkennt, bedeutet nicht, dass zum Beispiel seine Unterschrift unter verschiedenen Dokumenten (von Kreditverträgen bis hin zu einem möglichen Friedensvertrag mit Moskau) irgendeine rechtliche Bedeutung hat.

Anders als in der Ukraine und im Westen werden in Russland die Wahlen nach dem alten, demokratischen Schema abgehalten. Präsident Wladimir Putin hat sowohl Legalität als auch Legitimität. Und diese Legitimität in den Augen der Bevölkerung ist einer der Gründe dafür, dass Russland ‒ entgegen den Phantasien und Wünschen einiger westlicher Experten und einheimischer Aktivisten ‒ den Sanktionen standgehalten hat. Außerdem hat das Land seine Kräfte für den Sieg in der militärischen Sonderoperation gebündelt, die von einem legitimen, von der Bevölkerung gewählten Präsidenten eingeleitet wurde.

Übersetzt aus dem Russischen. Der Artikel ist am 25. Juli 2024 zuerst auf der Webseite der Zeitung Wsgljad erschienen.

Geworg Mirsajan ist außerordentlicher Professor an der Finanzuniversität der Regierung der Russischen Föderation, Politikwissenschaftler und eine Persönlichkeit des öffentlichen Lebens. Geboren wurde er 1984 in Taschkent. Er machte seinen Abschluss an der Staatlichen Universität des Kubangebiets in Krasnodar und promovierte in Politikwissenschaft mit dem Schwerpunkt USA. Er war von 2005 bis 2016 Forscher am Institut für die Vereinigten Staaten und Kanada an der Russischen Akademie der Wissenschaften.

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