Meinung

"Die Russen wollten ja nicht kommen" – Gibt es eine Grenze für Lügen?

Es ist noch gar nicht lange her, da fand in der Schweiz eine "Friedenskonferenz" statt. Allerdings war Russland nicht dabei, es bekam keine Einladung. Doch bekanntlich wird Geschichte gern umgeschrieben, und so wurde nun eine neue Erzählung kreiert.
"Die Russen wollten ja nicht kommen" – Gibt es eine Grenze für  Lügen?Quelle: Legion-media.ru © Bild: www.alamy.com

Von Tom J. Wellbrock

Kürzlich wurde auf YouTube ein Video veröffentlicht, in dem es um eine Sendung bei Maybrit Illner im ZDF ging. Zu Gast war neben der Einzelkämpferin Sahra Wagenknecht eine Gruppe Russenhasser, unter ihnen auch Omid Nouripour von Bündnis 90/Die Grünen. Dieser behauptete an einer Stelle der Sendung:

"Die Schweiz hat eine große Konferenz gemacht, zigmal den Kreml nachgefragt, ob sie kommen wollen …"

Sahra Wagenknecht unterbrach:

"Das stimmt doch überhaupt nicht."

Und Nouripour entgegnete:

"Doch, das stimmt."

In dem verlinkten Video wird der Grüne zu Recht als Lügner bezeichnet. Doch dann geschah auf X und im Kommentarbereich bei YouTube etwas Merkwürdiges. Bevor wir dazu kommen, seien an dieser Stelle ein paar Medien zitiert, die beweisen, dass Nouripour gelogen hat.

RedaktionsNetzwerk Deutschland, 12.04.2024:

"Moskau. Russlands Präsident Wladimir Putin hat die für die Ukraine geplante Friedenskonferenz in der Schweiz kritisiert. Russland werde dorthin nicht eingeladen"

n-tv, 15.06.2024

"Derzeit wird in den Medien und im Netz sehr viel darüber diskutiert, dass Russland nicht eingeladen wurde. Ohne die russische Seite sei es keine ernstzunehmende Friedenskonferenz, heißt es häufig, und manchmal, die sei auch gar nicht gewollt gewesen."

Freiburger Nachrichten, 14.06.2024:

"Jetzt ist klar: Die Schweiz lädt 160 Staaten ein zur Friedenskonferenz auf dem Bürgenstock. Nicht eingeladen ist Russland. Putin wird das für schärfere Attacken nutzen. Damit kommen schwierige Zeiten auf die Schweiz zu."

Swissinfo.ch, 16.06.2024:

"Russland, das nicht eingeladen war und deutlich gemacht hatte, dass es nicht teilnehmen wollte, bezeichnete den Gipfel als Zeitverschwendung und legte stattdessen konkurrierende Vorschläge vor. China war ein weiterer bemerkenswerter Abwesender."

Tagesschau, 02.05.2024:

"Im Juni soll erneut über einen Frieden in der Ukraine gesprochen werden: Die Schweiz hat offiziell zu einer Konferenz geladen und mehr als 160 Einladungen verschickt – an Russland allerdings nicht. Moskau solle aber einbezogen werden."

Die Liste ließe sich fortsetzen. Launige Russenhasser bogen sich die Sache aber nun neu zurecht und behaupteten, Russland selbst habe die Einladung abgelehnt, und selbst wenn es eingeladen worden wäre, wäre ohnehin kein Vertreter Russlands erschienen.

Die Schweiz selbst, die ihre Rolle als neutraler Vertreter mit Füßen getreten und sich international unglaubwürdig gemacht hat, formuliert es auf einer Website so:

"Die Schweiz hat immer wieder Offenheit signalisiert, eine Einladung an Russland für die hochrangige Konferenz zum Frieden in der Ukraine auszusprechen. Russland hat allerdings mehrfach verlauten lassen, dass es kein Interesse an einer Teilnahme hat. Daher wurde keine formelle Einladung an Russland ausgesprochen.

Die hochrangige Konferenz in der Schweiz sollte einen Friedensprozess anstoßen. Die Schweiz ist überzeugt, dass Russland im Verlauf dieses Prozesses miteinbezogen werden muss. Ein Friedensprozess ohne Russland ist undenkbar.

Tatsächlich bot die Konferenz die Möglichkeit, zum ersten Mal auf höchster Ebene darüber zu diskutieren, wie und wann Russland in diesen Prozess einbezogen werden kann."

Nouripour und zahlreiche Kommentatoren zeichnen nun also ein Bild, das den Fakten widerspricht. Denn selbst wenn Russland die Einladung abgelehnt hätte, bedeutet das nicht, dass sie ausgesprochen wurde. Zudem ist die Formulierung, die Schweiz habe "immer wieder Offenheit signalisiert, eine Einladung für die hochrangige Konferenz auszusprechen", pure Rhetorik. Entweder man spricht eine Einladung aus oder eben nicht.

Das ständige und wiederholte Verdrehen von Tatsachen funktioniert, wie ein Kommentar auf X zeigt:

"'Es wäre nicht im Sinne Schweizer Neutralität, Russland nicht einzuladen.' 'Russland wollte sich explizit nicht einladen lassen.' Ob Russland jetzt dennoch eingeladen wurde, ist mir nicht klar. Die Daten sind widersprüchlich. Russland wäre in keinem Fall zu der Konferenz gekommen."

Nein, die Daten sind nicht widersprüchlich, aber sie wurden so lange manipuliert und entfremdet, bis der Normalsterbliche einfach nichts mehr damit anfangen kann. Das ist Manipulation in Reinkultur, und sie zieht sich durch die deutsche Medienlandschaft wie ein roter Faden.

In der Sendung Maybrit Illner ging es munter weiter. Der Fall der Bombardierung des Kinderkrankenhauses in Kiew sei geklärt. Das sagten "alle Seiten", betonten Nouripour und auch Claudia Major, eine angebliche Sicherheits- und Verteidigungsexpertin, in Wahrheit Mitglied der "Stiftung Wissenschaft und Politik", die seit Jahren finanziell üppig durch die Bundesregierung ausgestattet wird. Als zuverlässige Quelle nannten sie allen Ernstes die "Rechercheplattform Bellingcat", man kann es kaum fassen.

Und dann waren da ja noch die wachsenden Ausgaben für Rüstung nach NATO-Kriterien, die Sahra Wagenknecht für Deutschland nun auf etwas mehr als 90 Milliarden Euro bezifferte. Das sei falsch, konterte Major, die "ein anderes Verhältnis zu Fakten habe als" Wagenknecht. Das stimmt tatsächlich, denn unter der Überschrift "90,6 Milliarden Euro – Deutschland knackt Zwei-Prozent-Marke der NATO" schrieb am 9. Juni 2024 Die Welt:

"Deutschland hat der NATO für das laufende Jahr geschätzte Verteidigungsausgaben von 90,6 Milliarden Euro gemeldet und würde damit derzeit klar das Zwei-Prozent-Ziel des Bündnisses erreichen. Wie aus einer neuen Übersicht der NATO hervorgeht, entspricht die Rekordsumme einem Anteil am prognostizierten deutschen Bruttoinlandsprodukt (BIP) von 2,12 Prozent. Die Quote würde damit höher liegen als noch zu Jahresbeginn erwartet."

Zahlreiche weitere Medien meldeten die gleichen Zahlen, aber für Claudia Major stimmen sie einfach nicht, und dieselben Medien, die die 90 Milliarden erst vor kurzem verkündet hatten, schreiben jetzt eifrig das Gegenteil und unterstellen nunmehr Wagenknecht, angeblich die Unwahrheit gesagt zu haben.

Die Frage, die in der Beschreibung des oben verlinkten Videos gestellt wurde, ist also inzwischen sehr leicht zu beantworten:

"Es gibt einen Punkt, da fragt man sich: Gibt es eine Grenze der Lüge?"

Nein, diese Grenze gibt es nicht mehr, schon lange nicht mehr.

Tom J. Wellbrock ist Journalist, Sprecher, Podcaster, Moderator und Mitherausgeber des Blogs neulandrebellen.

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