Die Sinnlosigkeit der "Friedensformel" von Selenskij liegt auf der Hand
Von Geworg Mirsajan
Die Russische Föderation wird sich nicht an der zweiten sogenannten Friedenskonferenz zur Ukraine beteiligen. Dies erklärte der stellvertretende russische Außenminister Michail Galusin.
Ihm zufolge weiß Moskau "von den Absichten des Kiewer Regimes und seiner westlichen Handlanger, sich für den gescheiterten 'Friedensgipfel' auf dem Schweizer Bürgenstock Mitte Juni dieses Jahres zu rehabilitieren und zu versuchen, eine vergleichbare Veranstaltung abzuhalten". Und dazu soll sogar Russland eingeladen werden (damit es nicht wieder zu einem Fehlschlag wird). Allerdings wird der Westen auf dieser Konferenz erneut versuchen, "die absolut aussichtslose und mit einem Ultimatum versehene 'Selenskij-Formel' durchzusetzen". Außerdem sei der Westen damit beschäftigt, "andere Initiativen zur Lösung der Ukraine-Krise zu ignorieren". Das bedeutet, dass Moskau sich an dieser Täuschungsaktion nicht beteiligen wird.
Ja, einer der Schlüsselfaktoren, die diese Konferenz sinnlos machen, ist die Tatsache, dass sie auf der Grundlage der "Selenskij-Formel" abgehalten wird. In ihrer vollen oder kastrierten Form (wie damals in der Schweiz) stellt sie immer noch eine Formel dar, die auf der Idee der Kapitulation Russlands basiert – auf der Aufgabe von Gebieten durch Moskau, auf der Zahlung von Reparationen an das Kiewer Regime, auf der Niederlage Russlands in Sachen Recht und Souveränität. Und wenn diese Formel Ende 2022 (nach den Ereignissen im Gebiet Charkow und dem Rückzug vom rechten Ufer des Gebiets Cherson) nicht angenommen wurde, warum sollte sie dann jetzt angenommen werden, wo die russische Armee an allen Fronten vorrückt und das Kiewer Regime zu zerbrechen beginnt?
Es scheint, als könnte es für den Westen nichts Einfacheres geben: Es würde genügen, die "Selenskij-Formel" aus dem Verhandlungsrahmen zu streichen, und dann würden die Einwände Moskaus verschwinden. Allerdings kann zum einen niemand irgendetwas streichen, denn dies würde wie eine Weigerung der westlichen Länder aussehen, die ukrainische Souveränität zu wahren, und wie eine Demonstration der Bereitschaft, den russischen Bedingungen zuzustimmen. Und zweitens nutzt Moskau diese Schwäche des Westens aktiv aus: Es vertritt die Formel "Wir sind für Verhandlungen, aber nicht zu westlichen Bedingungen", um die Schuld für das Scheitern des Verhandlungsprozesses dem Westen und Kiew in die Schuhe zu schieben.
Ja, Präsident Wladimir Putin betont ständig und auf jeder Plattform, dass Moskau für eine Verhandlungslösung des Konflikts ist. Dabei spricht er aber über eine echte Verhandlungslösung – mit der richtigen Agenda, den richtigen Staats- und Regierungschefs, den richtigen Verhandlungspartnern am Tisch und zum richtigen Zeitpunkt.
Mit der richtigen Agenda meint Russland beispielsweise Verhandlungen auf der Grundlage der Tatsache, dass Moskau der Sieger in diesem Konflikt ist und die Ukraine der Besiegte. Das bedeutet, dass die Verhandlungen zumindest die Anerkennung der neuen territorialen Gegebenheiten durch das Kiewer Regime beinhalten sollten, das heißt den offiziellen Übergang aller neuen russischen Gebiete unter russische Kontrolle. Dazu gehören auch die Teile, die das Kiewer Regime derzeit besetzt hält und die es gemäß den Bedingungen Putins noch vor Beginn des Verhandlungsprozesses freiwillig räumen müsste.
Es ist klar, dass das Kiewer Regime solchen Bedingungen nicht zustimmen wird. Selbst unter den derzeitigen Bedingungen kann Regimechef Selenskij nicht zustimmen, nicht nur Cherson und Saporoschje, sondern auch den Donbass und die Krim als russisch anzuerkennen – andernfalls drohte ihm ein Militärputsch. Diese Gebiete können entweder im Falle eines Zusammenbruchs des Kiewer Regimes (schnell) oder im Falle einer einfachen Fortsetzung der russischen Offensive (das heißt, relativ langsam) befreit werden. Das ist es auch, was Russland derzeit tut.
Das bedeutet, dass die Zeit für Verhandlungen noch nicht reif ist.
Unter den richtigen Staats- und Regierungschefs werden diejenigen verstanden, die legitimiert sind und die Bedingungen der getroffenen Vereinbarungen auch erfüllen können. Und im Westen gibt es derzeit nur einen solchen politischen Akteur – den britischen Premierminister Keir Starmer, der vor Kurzem gewählt wurde.
Selenskij ist illegitim: Seine Amtszeit ist abgelaufen, und er hat keine Neuwahlen abgehalten. Das bedeutet, dass die Unterschrift des derzeitigen Kiewer Regimechefs unter einer endgültigen Vereinbarung wertlos wäre. Jeder nächste ukrainische Präsident könnte ein solches Dokument als unrechtmäßig verwerfen.
Was die Staats- und Regierungschefs der westlichen Länder betrifft, so beenden einige von ihnen, wie der Hausherr im Weißen Haus, Joe Biden, gerade ihre Amtszeit, was bedeutet, dass sie ein unterzeichnetes Abkommen nicht umsetzen müssten. In den USA haben alle den Grundsatz der Machtnachfolge vergessen, als Donald Trump, der 2016 an die Macht kam, Barack Obamas Atomabkommen mit Iran einfach auf den Müllhaufen der Geschichte geworfen hatte. Und es gibt keine Garantie dafür, dass er nach seinem wahrscheinlichen Sieg im Jahr 2024 nicht dasselbe mit einem von Biden unterzeichneten Ukraine-Abkommen tun würde, wenn es ihm nicht gefällt.
Der französische Präsident Emmanuel Macron und Bundeskanzler Olaf Scholz sind noch im Amt, aber die Wahlen zum Europäischen Parlament (wie auch die französischen Parlamentswahlen) haben gezeigt, wie prekär ihre Positionen sind. In beiden Ländern sind vorgezogene Neuwahlen nicht auszuschließen, was bedeutet, dass sich neue Führungspersönlichkeiten herausbilden könnten.
Die Zeit für Verhandlungen ist also auch in diesem Fall nicht gekommen.
Schließlich müssen die neuen Staats- und Regierungschefs die Richtigen sein, das heißt, sie müssen prinzipiell bereit sein, ein faires Abkommen über die Ukraine auf der Grundlage der objektiven Realitäten zu schließen. Es müssen welche sein, die den derzeitigen Krieg nicht als Kreuzzug gegen Russland sehen und nicht von der Idee besessen sind, Russland eine strategische Niederlage zuzufügen. Außerdem sollten sie die Folgen einer Niederlage des Westens in der Ukraine nicht fürchten oder überbewerten und am Ende nicht die Schuld an dieser Niederlage auf ihre Vorgänger schieben, wie es Trump nach seinem wahrscheinlichen Wahlsieg 2024 mit Biden tun wird.
Doch Trump ist noch nicht im Amt, und die Eliten in Europa sind noch unverändert. Das heißt, dass auch hier die Zeit für Verhandlungen noch nicht gekommen ist.
Hier und jetzt muss Moskau sich nicht an der Sublimierung des Verhandlungsprozesses beteiligen, sondern weiterkämpfen – und das ist eine in mehrerlei Hinsicht vorteilhafte Option.
Erstens, weil Offensivoperationen dazu beitragen, die Position des Landes vor künftigen Verhandlungen zu stärken: Je mehr Gebiete (sowohl derzeitige russische als auch künftige russische) unsere Truppen befreien, desto größer können die Verhandlungsforderungen am Verhandlungstisch sein.
Zweitens, weil militärische Maßnahmen helfen, die russischen Ziele (Befreiung von Gebieten, Entmilitarisierung der Ukraine und so weiter) auch ohne einen diplomatischen Weg zu lösen. Das bedeutet, dass ein für den Westen nachteiliger Wettlauf mit der Zeit bereits begonnen hat. Im Kern geht es darum, dass der Westen geistig und physisch in die Verhandlungen einsteigen muss, bevor das Kiewer Regime unter der Last der militärischen, sozialen und wirtschaftlichen Probleme zusammenbricht – also bevor Moskau alles bekommt, was es braucht, ohne Kompromisse mit dem Westen einzugehen.
Übersetzt aus dem Russischen. Der Artikel ist am 12. Juli 2024 zuerst bei RT Russisch erschienen.
Geworg Mirsajan ist außerordentlicher Professor an der Finanzuniversität der Regierung der Russischen Föderation, Politikwissenschaftler und eine Persönlichkeit des öffentlichen Lebens. Geboren wurde er 1984 in Taschkent. Er machte seinen Abschluss an der Staatlichen Universität in Kuban und promovierte in Politikwissenschaft mit dem Schwerpunkt USA. Er war von 2005 bis 2016 Forscher am Institut für die Vereinigten Staaten und Kanada an der Russischen Akademie der Wissenschaften.
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