Der Westen weiß nicht, wozu er einen Krieg mit Russland braucht
Von Pjotr Akopow
"Das ist ekelhafter ahistorischer Unsinn und ein weiteres Stück Kreml-Propaganda", sagte neulich der frühere britische Premierminister Boris Johnson. Wenn Sie glauben, dass er sich damit wieder auf Russia Today stürzte oder auf eine Äußerung von Wladimir Putin reagierte, irren Sie sich gewaltig: Johnson empörte sich über die Äußerung des Vorsitzenden einer Partei, die laut Wählerumfragen gerade mit den Tories gleichzieht, seiner eigenen Partei.
Die Wahlen im Vereinigten Königreich Großbritannien und Nordirland sind für den kommenden Donnerstag, am 4. Juli, angesetzt. Die wichtigste Frage ist nicht, wer gewinnen wird, sondern wie tief die Konservativen fallen werden, die derzeit noch an der Macht sind. Umfragen zufolge liefern sich die Tories mit jener Partei "Reform United Kingdom" (Reform UK) von Nigel Farage ein Kopf-an-Kopf-Rennen, beide liegen bei etwa 20 Prozent. Die Umfragewerte dieser euroskeptischen Reformpartei liegen generell nicht mehr weit hinter jenen der Konservativen und überholen sie manchmal sogar. Vor acht Jahren war es Farage zu verdanken, dass Großbritannien die Europäische Union verlassen hat – er war der beliebteste und einzige konsequente Befürworter eines Brexit. Jetzt kann er das Kunststück erneut vollbringen und die Konservativen tödlich verletzen.
Die Partei von Farage wird es allerdings nicht schaffen, die Tories mit der Anzahl von Abgeordneten im Parlament zu schlagen. Selbst wenn sie am Vorabend des 4. Juli durchweg besser abschneidet als die Konservativen, wird Reform UK nur sehr wenige Sitze im Unterhaus erhalten: Die Briten wählen ihre Abgeordneten in Wahlkreisen, und dort haben die Anhänger von Farage einfach insgesamt nicht genügend viele populäre Kandidaten. Dennoch sieht es so aus, als würden die Konservativen nicht mehr als 100 Sitze erhalten, im schlimmsten Fall sogar nur noch etwas mehr als 50 Sitze – in einem Parlament mit 650 Sitzen insgesamt. Dies wäre keine Niederlage, sondern das wäre ein vernichtendes Urteil für diese Partei, der damit für ihre Zukunft nur noch zwei wahrscheinliche Optionen bleiben (abgesehen von der dritten – dem Abstieg in eine Splitterpartei).
Die erste Option wäre die günstigste für das Establishment: Die Partei wird in der Opposition sitzen, ihre Wunden lecken und in ein paar Jahren ihre Vertretung im Unterhaus wieder etwas vergrößern können (aber nicht an die Macht zurückkehren). Natürlich wird sich viel ändern müssen in dieser Partei, entweder durch eine komplette Erneuerung der Führungsspitze oder durch eine Revolution von oben, die den für viele inakzeptablen Boris Johnson als Vorsitzenden zurückbringt. Damit rechnet Johnson – und deshalb greift er auch Nigel Farage so scharf an.
Das zweite zukünftige Szenario der konservativen Partei könnte ihre Übernahme durch Farage sein, also die Einladung an Nigel (anstelle von Boris), für Tory den Retter zu spielen.
Und deshalb ist es nicht verwunderlich, dass Johnson im laufenden Wahlkampf so heftig auf die Äußerungen von Farage reagierte und dies hier als "Kreml-Propaganda" diffamierte:
"Mir war klar, dass die ständige Osterweiterung der NATO und der Europäischen Union diesem Mann [Wladimir Putin] einen Vorwand lieferte, um dem russischen Volk zu sagen: 'Sie sind wieder hinter uns her' und einen Krieg zu beginnen. ... Ich bin die einzige Person in der britischen Politik, die vorausgesagt hat, dass das passieren wird, und natürlich sagten alle, ich sei nun ein Ausgestoßener, weil ich es gewagt hatte, das anzudeuten."
So hat sich Farage in einem Interview mit der BBC nun auch zu einer seiner Äußerungen im Jahr 2014 positioniert, wonach die Osterweiterung der NATO und der Europäischen Union für den Ausbruch des Konflikts in der Ukraine verantwortlich sei:
"Wir haben diesen Krieg dummerweise provoziert. ... Er hat das, was wir getan haben, als Ausrede benutzt", sagte Farage damals.
Damit zog er damit sofort das Feuer der britischen Elite auf sich – sowohl von den Konservativen als auch von der Labour-Partei, etwa vom Premierminister Sunak, vom Innenminister James Cleverly ("Wiederholt Putins abscheuliche Rechtfertigung für die brutale Invasion in der Ukraine") und auch vom "Verteidigungsminister" des Schattenkabinetts der Labour-Partei, John Healey, der Farage als "Apologet für Putin" bezeichnete.
Aber natürlich war es Boris Johnson, der sich am meisten echauffierte, war er doch im entscheidenden Jahr 2022 der britische Premierminister:
"Niemand hat Putin provoziert. Niemand hat den Bären mit einem Stock gestochen. 1991 stimmte das ukrainische Volk mit überwältigender Mehrheit dafür, ein souveränes und unabhängiges Land zu werden. Sie hatten jedes Recht, einen Antrag auf Mitgliedschaft in der NATO und der EU zu stellen. Es gibt nur einen Verantwortlichen für die russische Aggression gegen die Ukraine – sowohl 2014 als auch 2022 –, und das ist Putin. Versuche, die Schuld abzuschieben, sind moralisch verwerflich und wiederholen Putins Lügen. Seltsamerweise schlägt der Autor jetzt auch noch vor, dass wir unsere Unterstützung für die Ukraine jetzt reduzieren sollten, wo die Lösung des Konflikts eigentlich klar ist: Die Ukrainer müssen gewinnen und Putins Invasion zurückschlagen. Sie können es schaffen, und sie werden es schaffen."
Ja, Farage schlägt dem Westen sogar Verhandlungen mit Russland vor, indem er erklärt, dass "der Krieg in einer völligen Sackgasse steckt" – und dafür wird er ebenfalls gescholten. Warum redet er dann also immer wieder darüber?
Weil er das Gefühl hat, dass das – wie man so schön sagt – bei den Wählern "ankommt". Farage nutzt die ukrainische Frage, um im Wahlkampf zu punkten. Indem er die offizielle Haltung der Behörden kritisiert, greift er die Konservativen an und vermindert dadurch die Zahl ihrer Wähler.
Übrigens verhält sich genauso sein politischer Freund Donald Trump – und auch aus genau denselben wahltaktischen Gründen. Der vormalige und höchstwahrscheinlich wieder zukünftige US-Präsident hat Biden kürzlich wegen dessen Russlandpolitik scharf angegriffen:
"Russland wollte nicht in die Ukraine einmarschieren. Sobald ich das Weiße Haus verließ, stellten sie sich an der Grenze auf. Und ich dachte, dass Putin ... das zum Zweck von Verhandlungen tat. ... Biden hat das Gegenteil von dem gesagt, was er meiner Meinung nach hätte sagen sollen. Einer seiner Fehler war, dass er sagte: 'Die Ukraine wird in der NATO sein.'"
Trump schilderte im Rückblick auf den letzten Wahlkampf seine Gedanken bei den Wahlkampfauftritten Joe Bidens heute so:
"Als ich ihm zuhörte, wusste ich: Dieser Typ wird einen Krieg anzetteln. ... Die Dinge, die er sagte und immer noch sagt, sind verrückt. Seit 20 Jahren höre ich, dass ein Beitritt der Ukraine zur NATO ein echtes Problem für Russland darstellen würde. ... Wenn Sie an der Spitze Russlands stünden, wären Sie nicht glücklich darüber. Es wurde nie verhandelt, es ist eine rote Linie. Es war immer klar, dass das ein Ding der Unmöglichkeit ist."
Man mag an der Fähigkeit Trumps zweifeln oder auch nicht, im Falle seiner Rückkehr ins Weiße Haus die Unterstützung für die Ukraine drastisch zu reduzieren und zu versuchen, den Konflikt zu beenden. Aber man kann nicht an seiner Fähigkeit zweifeln, die Stimmung seiner Wählerschaft gut zu erfassen. Er sagt, was sie von ihm hören wollen: Es gibt in der Tat eine wachsende Zahl von US-Amerikanern (wie auch von Briten), die für eine Beendigung dieses Stellvertreterkriegs mit Russland sind und zu erkennen beginnen, dass der Westen Russland durch die NATO-Osterweiterung tatsächlich provoziert hat.
Die gleiche Stimmung herrscht auch in anderen führenden westlichen Ländern, und sie wird sich bald in den anstehenden Wahlen manifestieren. Fast gleichzeitig finden neben den britischen Parlamentswahlen in Frankreich kurzfristig angesetzte Parlamentswahlen statt – und dort sind die Chancen auf einen Sieg der nationalen Sammlungsbewegung " Rassemblement National" von Marine Le Pen sehr hoch. Neuer Premierminister würde in diesem Fall deren Parteivorsitzender Jordan Bardella werden. Der hatte buchstäblich am Vorabend der militärischen Sonderoperation in der Ukraine Putins Forderungen, die NATO solle sich von Russlands Grenzen fernhalten, als fair bezeichnet. Ja, Bardella nimmt jetzt eine vorsichtigere Haltung ein und wird wohl der Ukraine militärische Hilfe nicht verweigern, aber jeder in Europa erinnert sich daran, dass die Partei Rassemblement National noch vor nicht allzu langer Zeit als prorussische und Putin-Partei denunziert wurde.
In diesem Jahr könnten die Eliten westlicher Länder möglicherweise nicht nur eine große Erneuerung durchmachen müssen – sie könnten erzwungenermaßen sogar einer ernsthaften Kurskorrektur unterzogen werden, einem Versuch, die jüngsten nicht in "das System" passende oder sogar antisystemischen Kräfte in ihre Reihen integrieren zu müssen. In Frankreich könnte dies relativ erfolgreich sein, in Großbritannien mag es Optionen dafür geben, und in den USA wird es mit ziemlicher Sicherheit zu großen Problemen führen. Aber in jedem Fall wird die Frage "Warum haben unsere alten Eliten Russland provoziert?" lauter und eindringlicher erschallen. Und das wird sich nicht nur auf den jeweiligen innenpolitischen Kurs, sondern vor allem auch auf die Außenpolitik wichtiger westlicher Länder auswirken.
Übersetzt aus dem Russischen und auf ria.ru erschienen am 25. Juni 2024.
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