Die Entkolonialisierung der Welt wird zu Russlands Bedingungen stattfinden
Von Wiktorija Nikiforowa
In Russland wird oft die Frage gestellt: Was ist die Idee, von der wir uns leiten lassen? Welche Zukunftsvision kann unser Land den Völkern der Welt anbieten? Die Antwort liegt auf der Hand: Unsere Idee und unsere Zukunftsvision sind Freiheit und Unabhängigkeit. Es ist ein Krieg um unsere Unabhängigkeit, den wir heute führen, und das ist es, warum überall auf der Welt (mit Ausnahme des Kollektiven Westens) die Sympathien auf unserer Seite sind.
Die Hegemonie des Westens wird seit knapp 80 Jahren nicht nur durch offene Kriege gesichert, sondern auch durch eine komplexe Politik des Neokolonialismus, die ganze Kontinente knechtet und deren Schätze abschöpft. Die Dominanz der USA und Westeuropas in den Medien und dem globalen Bildungssystem ermöglichte bislang die Zombifizierung der Beherrschten von Generation zu Generation und damit ihre Unterwerfung unter das neokoloniale Ausbeutungssystem. Das Diktat der westlichen Banken hält den Rest der Welt in permanenter Kreditknechtschaft. Die "regelbasierte Ordnung" beraubt die Staaten ihrer Souveränität.
In der Summe ergibt das den altbekannten Kolonialismus, nur bunt angestrichen. Die Kolonialherren können die Menschen nicht verhungern lassen, wie es einst die Briten in Indien taten, darum erfüllt heute das Coronavirus seinen Zweck. Sie können die Ausbreitung des Wohlstands nicht verhindern, also greifen sie zu Staatsstreichen, zetteln Bürgerkriege an und zerstören auf diesem Wege alles, was fleißige Hände aufgebaut haben.
All dies wird mit schöner Rhetorik ausgeschmückt, aber das Wesen bleibt. Die Goldene Milliarde wird reich, indem sie die Mehrheit der Welt übervorteilt. All das ist Russen aus eigener Erfahrung sehr vertraut.
Russlands militärische Sonderoperation in der Ukraine hat der Welt jedoch gezeigt, dass neokoloniale westliche Praktiken erfolgreich bekämpft werden können und müssen. Den Erfolg gibt es nur um den Preis großer Anstrengung, aber er ist absolut real. Außerdem zeigt unser Beispiel, dass der Befreiungskampf ein Land keineswegs in den Ruin stürzt, sondern im Gegenteil schon der Kampf selbst seine Entwicklung stimuliert.
Es wäre nur natürlich, wenn Moskau die Prozesse der Befreiung vom Neokolonialismus anführen würde, die in der ganzen Welt bereits in vollem Gange sind. Wir haben auf diesem Weg schon viel erreicht: Wir haben Syrien vor der Zerstörung und das brüderliche Weißrussland im Jahr 2020 vor dem "Maidan" bewahrt, wir haben der Führung Kasachstans geholfen, und jetzt sind wir dabei, Kleinrussland aus der westlichen Knechtschaft zu befreien. Auf Ersuchen der Regierungen afrikanischer Länder betreten unsere Männer höflich die Militärstützpunkte, die von dort bislang stationierten französischen und amerikanischen Kontingenten geräumt wurden.
Aber es muss noch viel mehr getan werden, um die Kolonien und Halbkolonien dieser Welt endgültig zu befreien. Die Mittel des wirtschaftlichen Kampfes sind hier wichtig – der Übergang zum Handel in nationalen Währungen und die schrittweise Ablösung des Dollars.
Aber die Informationskomponente ist nicht weniger wichtig. Das Entsetzliche an der Situation der heutigen Neokolonien ist, dass ihre Stimmen in der globalen Medienwelt nicht wahrgenommen werden. Alles, was wir über sie wissen, erfahren wir aus den Medien der westlichen Länder, die sie abzocken. Russland hätte das Potenzial, Millionen von Menschen eine Stimme zu geben, die bislang aus der weltweiten Medienberichterstattung ausgeschlossen sind.
Das russische Außenministerium hat Paris kürzlich daran erinnert, dass es unzulässig ist, Kundgebungen der für ihre Unabhängigkeit kämpfenden einheimischen Bevölkerung Neukaledoniens zu zerstreuen. In der Tat findet dort großes Unrecht statt. Seit Jahrzehnten versuchen die Einheimischen, ihr Land zurückzuerobern, und seit Jahrzehnten betrügt Paris sie mit Volksabstimmungen, bei denen es die Ergebnisse zu seinen Gunsten beeinflusst.
Siebzehntausend Kilometer von Paris entfernt liegen die reichsten Nickelvorkommen – wie kann man die Menschen nur so schamlos betrügen und ausbeuten? Das ist Kolonialismus reinsten Wassers, der von der UNO wiederholt verurteilt wurde. Übrigens könnte Moskau angesichts seines Gewichts in der UNO durchaus zum Verteidiger aller dort Gedemütigten und Unterdrückten werden.
Die USA, Großbritannien und Frankreich versuchen immer noch, andere Länder mit der Unverfrorenheit ihrer Vorfahren, der Sklavenhändler, auszurauben. Wer, wenn nicht Russland, sollte für die Geknechteten eintreten? Die Liste der Beschwerden gegen die westlichen Räuber ist in der Tat enorm.
Nicolas Maduro ist der Meinung, dass die amerikanischen Sanktionen ein wirtschaftlicher Völkermord an Venezuela waren, und schätzt den durch sie verursachten Schaden auf mehr als eine halbe Billion US-Dollar. Auf Antrag Kubas könnte sogar noch mehr von den Amerikanern zurückgefordert werden. Argentinien hat Probleme mit Großbritannien wegen der Malvinas-Inseln. Spanien hat Fragen an Großbritannien wegen Gibraltar. Mexiko erinnert sich noch sehr gut daran, dass die Amerikaner ihm den gesamten Norden weggenommen haben – praktisch ein Drittel des Landes.
Und auch innerhalb der sogenannten Goldenen Milliarde kochen die Emotionen hoch. Die Schotten und Waliser träumen von der Unabhängigkeit. Die Basken und Katalanen kämpfen hart für ihre Unabhängigkeit von Madrid. Belgien steht am Rande des Zerfalls – Wallonen (sie sprechen Französisch) und Flamen (sie sprechen Niederländisch) geraten dort aneinander. Die Korsen und Bretonen haben ihre eigenen Probleme mit Paris.
Die Regierungen des Westens und die westlichen Medien schweigen darüber. Was ist schon dabei, wenn die Bretonen ihre Kinder nicht auf Bretonisch unterrichten dürfen? Was ist schon dabei, wenn die Anführer des Kampfes für die katalanische Unabhängigkeit inhaftiert und gezwungen wurden, das Land zu verlassen? Wen kümmert es, dass mehr als 90 Prozent der Katalanen die Unabhängigkeit von Madrid wollen? Sie sind alle "Terroristen" und "Extremisten".
Kennen Sie diese Rhetorik? Ja, ja, so hat die Weltpresse das Volk von Noworossija (Neurussland) dargestellt. Niemand interessierte sich für seine Sorgen und Nöte, seinen Kampf für die eigenen Rechte ignorierte man. Er lag nicht im Trend. Nur Russland kam ihnen zu Hilfe.
Heute könnte unsere globale Reaktionsfähigkeit unser Land zum Anführer von Ländern und Völkern machen, die für ihre Unabhängigkeit kämpfen. Die Kolonialmächte sind heute die USA und ihre engsten Vasallen. Nicht nur, dass sie überall auf der Welt Kriege führen, rechtmäßige Regierungen stürzen und die Führer der Völker töten – nein, sie haben auch damit begonnen, in gefährdeten Teilen des Planeten Separatismus zu ihren Gunsten zu schüren: Die Briten dringen in Hongkong ein, die Amerikaner in Taiwan, um es zu ihrer Kolonie zu machen und Peking zu bekämpfen. Sie hören nicht auf, die Konflikte im postsowjetischen Raum zu schüren.
All das haben wir am Beispiel der Ukraine gelernt, die heute faktisch von Washington besetzt ist. Wir werden sie befreien, aber auch andere Nationen können auf unsere Hilfe im Kampf gegen die Piraterie von Uncle Sam zählen. Wir werden Erfahrungen austauschen, die führenden Köpfe des Freiheitskampfes zu Treffen einladen und relevante Themen bei der UNO zur Sprache bringen.
Der erste Schritt auf diesem Weg war das internationale parteiübergreifende Forum im Format "BRICS und Partnerländer" – "Weltmehrheit für eine multipolare Welt", das gerade in Wladiwostok stattgefunden hat. Mehr als 150 Vertreter führender politischer Kräfte aus 32 Ländern nahmen an der Veranstaltung teil. Die Ideologie des Forums wurde von Dmitri Medwedew, dem Vorsitzenden von "Einiges Russland", in einem Programmbeitrag formuliert. Sein Text trägt den Titel "Die Zeit der Metropolen ist vorbei".
Der Kampf gegen den westlichen Neokolonialismus hat natürlich viele sowjetische Praktiken übernommen. Heute braucht er jedoch keine obsessive Ideologie, der Kampf für die Freiheit ist keine Parole, er ist eine natürliche menschliche Leidenschaft, er braucht keinen Treueschwur auf Kommunismus oder Kapitalismus, auf Marx oder Ayn Rand, darum geht es überhaupt nicht.
Und das entspricht auch ganz der weltoffenen Seele des russischen Mannes. Erinnern Sie sich an Michail Swetlow:
"Ich verließ mein Haus, ich zog in den Krieg, um das Land in Granada den Bauern zu geben"?
Witzigerweise kommt der Junge in dem Lied, der von Granada träumt, selbst aus der Nähe von Charkow. Das ist natürlich alles sehr russisch. Ich denke, wir werden der Welt gemeinsam mit diesen Jungs helfen. Die Entkolonialisierung wird zu Russlands Bedingungen stattfinden.
Übersetzt aus dem Russischen. Der Artikel ist am 21. Juni 2024 auf ria.ru erschienen.
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