Meinung

Wahlsonntag: Tag der Abrechnung

Diesen Sonntag findet in ganz Deutschland die Wahl zum Europäischen Parlament und in mehreren Bundesländern zusätzlich die Kommunalwahl statt. Wählen oder nicht ist eine Frage, die sich für wache Geister immer wieder stellt: Welchen Sinn macht es, wenn Wahlen doch nie etwas ändern?
Wahlsonntag: Tag der AbrechnungQuelle: Gettyimages.ru © Laurence Dutton

Von Alexej Danckwardt

"Wenn Wahlen etwas ändern könnten, wären sie längst abgeschafft", "nur die dümmsten Kälber wählen sich die Schlächter selber" – die Skepsis zu dem alle paar Jahre stattfindenden Wahlspektakel in westlichen "Demokratien" wurde längst in treffende Worte gefasst.

In der Tat, es gibt wenig Grund für Illusionen, Wahlen könnten etwas entscheidend zum Besseren wenden: Die in Parteien vorherrschende Negativselektion sorgt dafür, dass es nur selten den herrschenden Verhältnissen wirklich gefährlich werdende Persönlichkeiten überhaupt auf die Wahllisten schaffen. Die Trickkiste der Polittechnologen hält eine schier unendliche Anzahl von Manipulationsmöglichkeiten bereit, die garantieren, dass selbst bei dem überraschendsten Wahlausgang das wirklich Wichtige beim alten bleibt. Und sollte der polittechnologische Betrug einmal nicht ziehen, greift die herrschende Klasse eben entschlossen zur Notbremse

Dennoch, in Kenntnis von alldem, bin ich ein entschiedener Anhänger der Teilnahme an Wahlen. Nicht, weil sie etwas grundlegend ändern können, nein. Weil sie unter den aktuellen Verhältnissen die wahrscheinlich einzige Möglichkeit sind, den Herrschenden den Stinkefinger zu zeigen.

Mit dem Kreuz auf dem Wahlzettel kann man Signale senden: im Idealfall an seinesgleichen, "seht her, es gibt uns, und wir sind nicht wenige". Mindestens aber an die Herrschenden, denn auch wenn sie die veröffentlichten Wahlergebnisse fälschen würden (im Moment müssen sie es nicht), landeten die wahren Zahlen hinter verschlossenen Türen immer noch auf ihren Tischen. 

Ein Wahltag ist eben ein Tag der Abrechnung. Und dieses Mal – am Sonntag sind Europawahlen und in Baden-Württemberg, Hamburg, Mecklenburg-Vorpommern, Rheinland-Pfalz, dem Saarland, Sachsen-Anhalt, Sachsen und Brandenburg stehen auch noch Kommunalwahlen an – gibt es besonders viel abzurechnen.

Da sind zunächst mal zwei Parteien, deren Verrat an ihren einstigen Gründungsidealen in den zurückliegenden drei Jahren besonders offensichtlich geworden ist.

Ich meine damit die FDP, die sogenannten "Liberalen". Das Grundanliegen des Liberalismus war es einst, die Einmischung des Staates in das Leben der Bürger so gering wie möglich zu halten. Nun regiert die FDP seit Ende 2021 in Berlin mit – und was erleben wir? Mit wehenden Fahnen und überaus enthusiastisch führt sie unzählige Sanktionen, den größten vorstellbaren Eingriff in das Wirtschaftsleben, ein. Sie stellt den Justizminister, der die Repressionen gegen die freie Meinungsäußerung vorantreibt. Und ihr Verkehrsminister greift in das Alltagsleben von Millionen ein, indem er direkte Flug- und Zugverbindungen mit Russland kappen lässt.

Die FDP macht mit bei Zensur und Sprechverboten, beim Abbau von Bürgerrechten, bei der Zerstörung der Existenzgrundlagen der deutschen Wirtschaft. Wenn das kein Verrat am Liberalismus ist, was ist es dann?  

Doch damit nicht genug. All diese skandalösen Eingriffe in unsere Freiheit treten angesichts des größten Sündenfalls der FDP in den Hintergrund. Es ist die FDP, die die aktuell größte und lauteste Kriegshetzerin in Deutschland auf den Schild gehoben und sogar noch zur Spitzenkandidatin bei der Europawahl ernannt hat – Marie-Agnes Strack-Zimmermann. 

Die zweite Verratspartei ist Die Linke. Die Restlinke, um genau zu sein. Vor fünfzehn Jahren noch stand sie für Frieden, die Auflösung der NATO, Skepsis gegenüber der Allmacht der Brüsseler Bürokratie. Ihr war ein besonderes Verhältnis zu Moskau in die Wiege gelegt, das ihr die Rolle eines Vermittlers und Friedensstifters in der aktuellen Krise ermöglicht hätte. Stattdessen erlebten wir in den letzten drei Jahren Taubheit gegenüber Russlands Argumenten, Arroganz gegenüber realen russischen Nöten und Sorgen und Sympathien für ein offen faschistisches Regime.

Die Linke hat sich offen und unmissverständlich auf die Seite des echten Aggressors in der Ukraine – des expansiven westlichen Imperialismus, der EU und der NATO – geschlagen. Im sächsischen Landtag und im Leipziger Stadtrat stellt sie Abgeordnete, die ukrainischen Nationalismus heroisieren und Russen sowie ukrainischen Antifaschisten den Mund verbieten wollen. Im Bundestag befolgt sie penibel russophobe Sprachregelungen des Mainstreams und die Unterschiede zur NATO-Konsenssauce sind inzwischen marginal. 

Beiden Verratsparteien muss diesen Sonntag die Quittung präsentiert werden. Wenn sie bei den Europawahlen deutschlandweit deutlich unter fünf Prozent bleiben (leider gilt bei Europawahlen keine Fünfprozenthürde, sodass die ominösen Spitzenkandidaten dennoch in das Europäische Parlament einziehen werden) und aus den meisten sächsischen Kommunalparlamenten verschwinden, kann der Wahltag im Sinne des gezeigten Stinkefingers bereits als gelungen gelten. 

Noch deutlicher wäre das Signal, dass die Deutschen den Kriegskurs der Bundesregierung und der CDU-Opposition ablehnen, wenn die drei mir bekannten Parteien, die auf Friedenslösungen setzen, gestärkt, und diejenigen, die – ob als Regierungspartei oder als auf noch mehr Eskalation setzende Oppositionspartei – stark geschwächt aus den Wahlen hervorgehen würden.

Nochmals: Es geht nicht darum, ob die Alternative für Deutschland oder das Bündnis Sahra Wagenknecht in (vorerst unwahrscheinlicher) Regierungsverantwortung tatsächlich etwas anders machen würden oder nicht. In anderen europäischen Ländern sind die Hoffnungsträger (bis auf Robert Fico) nach dem jeweiligen Wahlsieg bislang immer auf den gemeinsamen Kurs des kollektiven Westens eingeschwenkt. Auch in Deutschland gibt es keine Garantie dafür, dass dies nicht geschieht. Die dritte Friedenspartei, die DKP, hat ohnehin in absehbarer Zukunft keine realistischen Wahlaussichten. Das alles ist aber egal, wenn man Wahlen eben als das versteht, als was ich sie eingangs beschrieb: Stinkefinger zeigen. 

Hat das Fernbleiben von der Wahl dieselbe Signalwirkung wie die Wahl eines "Bürgerschrecks", wie überzeugte Nichtwähler behaupten? Ich fürchte nein, und die bewussten Nichtwähler machen sich da etwas vor. Die Wahlbeteiligung wird – wenn überhaupt – öffentlich nur am Rande wahrgenommen. Wahrscheinlich tut es dem Selbstwertgefühl gut, nach der nächsten Enttäuschung sagen zu können: "Ich habe mich auch daran nicht beteiligt." Das wäre aber möglicherweise sogar eine Illusion. Denn jeder zuhause gebliebene Protestwähler bringt die Restlinke und die FDP näher an die fünf Prozent, die CDU/CSU über 30 Prozent und die zwei anderen Regierungsparteien an die 15, mit denen sie sich inzwischen abgefunden haben. Es mindern eben nur die abgegebenen Proteststimmen die Prozente der Konsensparteien, nicht die Wahlverweigerer.

Zeigen wir den Kriegstreibern und den Verrätern diesen Sonntag also die (dunkel-)rote oder von mir aus auch blaue Karte! Es ist die vielleicht letzte Chance, zu Protokoll zu geben:

"Dritter Weltkrieg? Nicht in unserem Namen!" 

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