Meinung

Presseunfreiheit in Deutschland: Linke Tageszeitung klagt gegen Geheimdienst-Schikanen

Marxismus sei verfassungsfeindlich, behauptet die Bundesregierung. Deshalb beobachtet und behindert der Verfassungsschutz seit Jahren die Berliner Zeitung "junge Welt". Auch andere sind zunehmend von staatlichen Repressionen betroffen. Die Herrschenden ringen um Deutungshoheit.
Presseunfreiheit in Deutschland: Linke Tageszeitung klagt gegen Geheimdienst-SchikanenQuelle: www.globallookpress.com © Reinhard Kaufhold

Von Susan Bonath

Stets brüstet sich der Westen in aller Welt mit seinen "Werten" als Maßstab aller Dinge. Auch Deutschland mahnt gern und oft die "fehlende Pressefreiheit" in "bösen Diktaturen" an. Der selbst inszenierte freiheitlich-demokratische Heiligenschein made in Germany strahlt hell, doch er trügt. Grundgesetz hin oder her: Die Presse- und Meinungsfreiheit endet dort, wo sich die herrschende Klasse gestört fühlt. Ihre imperialen Interessen verengen zunehmend den "demokratischen" Meinungskorridor.

Das betrifft keineswegs nur russische Medien, darunter RT, deren Ausstrahlung seit 2022 in der gesamten EU verboten ist und die schon vorher mit allerlei staatlichen Repressionen in Deutschland zu kämpfen hatten. Auch Medien mit einer ernsthaft linken Ausrichtung leiden unter behördlichen Schikanen.

Ein Beispiel dafür ist die marxistische Tageszeitung junge Welt (jW). Sie wird seit vielen Jahren geheimdienstlich überwacht. Allein ihre Erwähnung im jährlichen Verfassungsschutzbericht führt zu allerlei Bedrängnis: Behörden verweigern rechtswidrig Auskünfte, Werbung in der Öffentlichkeit wird verhindert, Verkauf von Fotos unterbunden und Interview-Partner geraten unter öffentlichen Druck.

Dagegen hat die Zeitung nun geklagt. Sie beruft sich auf das Grundgesetz sowie auf eine höchstrichterliche Entscheidung zugunsten einer rechten Publikation. So entschied das Bundesverfassungsgericht 2005, die Zeitung Junge Freiheit dürfe nicht im VS-Bericht erwähnt werden, weil dies die Pressefreiheit rechtswidrig behindere. Mitte Juli verhandelt nun das Berliner Verwaltungsgericht den Fall jW gegen die Bundesrepublik.

"Verfassungsfeindlicher" Marxismus

Nach jW-Einschätzung verstößt der politische Umgang mit ihr gegen Artikel 5 des Grundgesetzes. Darin heißt es:

"Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten und sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten. Die Pressefreiheit und die Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk und Film werden gewährleistet."

In der Praxis gelten dafür offensichtlich Ausnahmen: Die jW, ihr "Verlag 8. Mai" und die Beteiligungsgenossenschaft als Herausgeberin stuft der deutsche Inlandsgeheimdienst als verfassungswidrig ein, weil sie "eindeutig kommunistisch ausgerichtet" sei. Das erklärte die Bundesregierung 2021 in einer Antwort an Linke-Abgeordnete.

Damit verfolge das Medium, so die Regierung weiter, "Bestrebungen gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung". Denn "ihre marxistische Grundüberzeugung enthält als wesentliches Ziel, die freiheitliche Demokratie durch eine sozialistische/kommunistische Gesellschaftsordnung zu ersetzen."

Und es kommt noch dicker: So widerspreche beispielsweise die marxistische "Aufteilung der Gesellschaft nach dem Merkmal der produktionsorientierten Klassenzugehörigkeit der Garantie der Menschenwürde". Es geht dabei um die Beschreibung der gesellschaftlichen Verhältnisse: die Lohnabhängigkeit der Massen einerseits und das Eigentum weniger an den Produktionsmitteln andererseits – was freilich, und das bestreiten sogar viele bürgerliche Ökonomen nicht, die politischen Machtverhältnisse bestimmt.

Mit anderen Worten: Die Bundesregierung moralisiert die wissenschaftliche Erkenntnis einer philosophisch-politischen Denkrichtung, nämlich über die Existenz zweier Klassen, von denen die eine ihre Arbeitskraft an die andere verkaufen muss – nicht nur um zu überleben, sondern um für Profit der wirtschaftlichen Eigentümer zu sorgen. Laut Bundesregierung ist nicht diese Tatsache, sondern deren Benennung diskriminierend. Mit moralistischer Hybris kennt man sich in diesen Rängen bekanntlich aus.

"Erhebliche Behinderung freier Berichterstattung"

Laut jW-Angaben, die den Erfahrungen der Autorin als langjährige ehemalige freie Mitarbeiterin dieser Zeitung entsprechen, führt das stete Auflisten der Publikation im VS-Bericht als das "bedeutendste und auflagenstärkste Medium im Linksextremismus" zu erheblicher Behinderung der freien Berichterstattung sowie zu finanziellen Einbußen.

So passierte es beispielsweise der Autorin regelmäßig, dass Behörden entgegen dem deutschen Presserecht die Auskunft auf Anfragen oder den Zugang zu Konferenzen und Ähnlichem verweigerten. Die Zeitung berichtet auch über andere Behinderungen der redaktionellen Arbeit. Beispielsweise stelle ein Fotoarchiv der Süddeutschen Zeitung der jW keine Bilder mehr gegen Bezahlung zur Verfügung. Interviews oder die Beantwortung von Fragen würden immer wieder abgelehnt, wohl nicht zuletzt wegen des öffentlichen Drucks. Mit einigen dieser Probleme hatte auch RT DE schon vor seinem Verbot zu kämpfen.

Überdies werde immer wieder bezahlte Werbung in der Öffentlichkeit verhindert, etwa in Bahnhöfen oder Nahverkehrsmitteln. Anfang 2022 stoppte der öffentlich-rechtliche ARD-Ableger RBB eine bereits bezahlte Kampagne der jW. Eine Esslinger Druckerei habe sogar die Herstellung einer anderen Publikation abgelehnt, weil diese Werbung der jW enthielten. Auch diverse Bibliotheken hätten den Zugang zu der 1947 in der sowjetischen Besatzungszone gegründeten Zeitung gesperrt.

Karlsruher Urteil zugunsten rechter Publikation

Im Mai 2005 hatte das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) einen ähnlichen Fall zugunsten des Klägers, des weit rechts stehenden Verlags der Jungen Freiheit (JF), gegen das Land Nordrhein-Westfalen entschieden

Die Karlsruher Richter urteilten, dass die Nennung der Zeitung in den VS-Berichten des Landes eine "mittelbar belastende negative Sanktion" und somit eine "unzulässige Einschränkung der Pressefreiheit" bedeute. Auch dürften nicht alle Meinungen freier Autoren der Redaktion angelastet werden, heißt es. Gelten müsste das genauso für die jW, bemängelt die Zeitung zu Recht.

Sanktionen und Verbote gegen abweichende Meinungen

Die hochgelobte westliche Presse- und Meinungsfreiheit müsste ebenso für russische Medien, wie RT und Sputnik, gelten. Diese hätten nie verboten werden dürfen, schon gar nicht mit dem zu keiner Zeit genauer begründeten Vorwurf der Desinformation, der im Grunde behauptet: Russen lügen immer.

Diese grundgesetzlich verankerte Freiheit hätte gelten müssen für Corona-Demonstrationen und müsste gelten für einen Palästina-Kongress und Antikriegsproteste, die sich gegen israelische Menschen- und Völkerrechtsverletzungen in Palästina, mithin einen international juristisch anhängigen mutmaßlichen Völkermord im Gazastreifen richten. Trotzdem hagelte es Verbote und Repressionen.

Dem ehemaligen griechischen Finanzminister Yanis Varoufakis und dem palästinenisch-britischen Arzt Ghassan Abu-Sittah hätte nie die Einreise nach Deutschland verboten werden dürfen, um über ihre politischen Erfahrungen und Meinungen zu diskutieren. Dennoch ist das alles und viel mehr geschehen – in Deutschland, in der EU, im angeblichen "Hort der demokratischen Freiheiten".

Ringen um Deutungshoheit

Die Repressionen gegen die marxistische jW entbehren aber nicht eines satirischen Moments. Denn ausgerechnet mit dem laut Regierung "verfassungsfeindlichen" Marxismus lässt sich das ganz gut erklären. Um es kurz zu machen: Die milliardenschweren Großunternehmer und -aktionäre bestimmen die politische Richtung. Wenn ihr Profit kränkelt, wird der "demokratische Wertewesten" ruckzuck zum Kriegstreiber. Die "kleinen Leute", also Lohnabhängige und Kleinselbständige, haben da nicht mitzureden.

Die Superreichen und ihre bezahlten Akademiker beherrschen Staatsräson und Mainstream-Medien, entwerfen Feindbilder und Gesetze zu ihren Gunsten, verwickeln die Massen in Bullshit-Debatten über großteils erfundene Geschlechter- und sonstige Identitäten – während die Arbeiterklasse Dienst nach Vorschrift tun muss, am besten ackern bis zum Umfallen. Und jeder weiß: Hinter Werkstoren und Bürotüren endet jede Demokratie.

Wenn nun der gelobte Markt zulasten des Westens kriselt und die Demokratie-Show der Mächtigen bröckelt, muss mehr neoliberale Propaganda her. Je absurder dort gelogen und verdreht wird, desto mehr muss Gegenwind verboten werden. Die herrschende Klasse ringt um ihre Deutungshoheit. Auch die neoliberalsten Extremisten können ohne eine gewisse Zustimmung der Bevölkerung nicht auf Dauer herrschen. Man ahnt, warum sie den Marxismus so hassen.

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