Meinung

Nicht nur ein Interessenkonflikt: In der Ukraine wird über das Schicksal der Welt entschieden

Multipolarität lasse sich als Wahrung der kulturellen und zivilisatorischen Vielfalt unserer Welt begreifen, meint der streitbare und nicht unumstrittene Philosoph Alexander Dugin in seinem jüngsten Artikel. Sie wird damit zum Kernanliegen der konservativen Kräfte, die sich gegen postmoderne Uniformität des Westens wehren.
Nicht nur ein Interessenkonflikt: In der Ukraine wird über das Schicksal der Welt entschiedenQuelle: Sputnik © Kirill Kalinnikow / RIA Nowosti

Von Alexander Dugin

Der Amtsantritt von Präsident Putin markiert eine neue Etappe in der Geschichte Russlands. Einige Linien früherer Perioden werden sicherlich fortgesetzt werden. Einige werden eine kritische Schwelle erreichen. Andere werden rückgängig gemacht werden. Aber es muss auch etwas Neues kommen.

Ich möchte die Aufmerksamkeit auf den ideologischen Aspekt lenken, der ein grundlegender Vektor für die weitere Entwicklung Russlands im internationalen Kontext werden kann.

In unserer erbitterten Konfrontation mit dem Westen, der am Rande eines nuklearen Konflikts und des Dritten Weltkriegs steht, wird das Problem der Werte immer deutlicher und kontrastreicher. Der Krieg in der Ukraine ist nicht nur ein Konflikt zwischen Staaten mit ihren ganz und gar rationalen nationalen Interessen, sondern ein Zusammenprall von Zivilisationen, die ihre Wertesysteme erbittert verteidigen.

Heute kann man mit Sicherheit sagen, dass Russland endgültig auf den Schutz traditioneller Werte gesetzt hat und mit ihnen die grundlegenden Prozesse zur Stärkung seiner eigenen zivilisatorischen Identität und geopolitischen Souveränität verbindet. Dabei handelt es sich nicht einfach um unterschiedliche Interessen von getrennten Einheiten innerhalb derselben – westlichen – Zivilisation, wie es bis vor kurzem noch möglich war, den Konflikt zwischen Russland und dem kollektiven Westen zu interpretieren, wenn auch mit einer gewissen Dehnung. Jetzt aber ist es offensichtlich geworden, dass zwei Wertesysteme aufeinanderprallen.

Der moderne kollektive Westen steht fest auf der Seite:

des absoluten Individualismus;
der LGBT* und der Genderpolitik;
des Kosmopolitismus;
der "Cancel Culture" ("Kultur des Tilgens");
des Posthumanismus;
der unbeschränkten Migration;
der Zerstörung aller Formen von Identität;
der kritischen Rassentheorie (nach der ehemals unterdrückte Völker das Recht haben, ihre ehemaligen Unterdrücker zu unterdrücken);
der relativistischen und nihilistischen Philosophie der Postmoderne.

Der Westen zensiert gnadenlos seine eigene Geschichte, verbietet Bücher und Kunstwerke. Der US-Kongress bereitet sich darauf vor, ganze Schriftstücke zu streichen, die angeblich bestimmte Personengruppen aus ethnischen und religiösen Gründen beleidigen. Darüber hinaus hat die Entwicklung digitaler Technologien und neuronaler Netze die Übertragung der Weltherrschaft von der Menschheit auf die künstliche Intelligenz auf die Tagesordnung gesetzt – und eine Reihe westlicher Autoren preisen dies bereits als unglaublichen Erfolg und lang erwarteten Moment der Singularität.

Im Gegensatz dazu vertritt Putins Russland ausdrücklich eine ganz andere Werteordnung, von der viele im Dekret Nr. 809 vom 9. November 2022 festgeschrieben sind. Russland verteidigt entschieden:

die kollektive Identität gegen den Individualismus;
den Patriotismus gegen den Kosmopolitismus;
die gesunde Familie gegen die Legalisierung von Perversionen;
die Religion gegen Nihilismus, Materialismus und Relativismus;
das menschliche Wesen gegen posthumanistische Experimente;
die organische Identität gegen ihre Aushöhlung;
die historische Wahrheit gegen die "Cancel Culture".

Es gibt also zwei gegensätzliche Orientierungen, mehr noch, zwei antagonistische Ideologien, zwei Weltanschauungssysteme. Russland wählt die Tradition – der Westen hingegen wählt alles, was nicht traditionell und sogar antitraditionell ist.

Das macht den Konflikt in der Ukraine, wo sich diese beiden Zivilisationen in einer erbitterten und entscheidenden Schlacht gegenüberstehen, zu etwas, das weit mehr als ein gewöhnlicher Interessenkonflikt ist. Das ist er natürlich auch, aber es ist nicht die Hauptsache. Die Hauptsache ist, dass zwei Modelle der weiteren Entwicklung der Menschheit in die Konfrontation eingetreten sind – der liberale, globalistische, antitraditionelle Weg des modernen Westens oder der alternative, multipolare, polyzentrische Weg mit der Bewahrung von Tradition und traditionellen Werten, für den Russland kämpft.

Und hier ist es höchste Zeit festzustellen, dass die multipolare Welt, zu der sich Russland in der vorangegangenen Phase von Putins Herrschaft bekannt hat, nur dann Sinn macht, wenn wir das Recht jedes Pols, jeder Zivilisation (heute eindeutig in BRICS vertreten) auf ihre eigene Identität, ihre eigene Tradition, ihr eigenes Wertesystem anerkennen. Multipolarität wird sinnvoll und gerechtfertigt, wenn wir von der Pluralität der bestehenden Kulturen ausgehen und ihr Recht anerkennen, die jeweils eigene Identität zu bewahren und sich auf der Grundlage interner Prinzipien zu entwickeln. Das bedeutet, dass die Pole der multipolaren Welt im Gegensatz zum globalistischen unipolaren Modell, in dem westliche Werte als universelle Werte standardmäßig dominieren, mehr oder weniger dem Weg Russlands folgen, aber nur unter dem Schutz ihrer traditionellen Werte, die jedes Mal anders sind.

Wir sehen dies deutlich im heutigen China. Es lehnt nicht nur Globalismus, Liberalismus und globalen Kapitalismus als Dogma ab, während es viele Merkmale der sozialistischen Ordnung beibehält, sondern wendet sich zunehmend den ewigen Werten der chinesischen Kultur zu, indem es die politische und soziale Ethik des Konfuzius, die die Gesellschaft mehrere Jahrtausende lang inspiriert und geordnet hat, in einer neuen Runde wiederbelebt. Es ist kein Zufall, dass eine der führenden Theorien der internationalen Beziehungen im modernen China auf der antiken Idee der Tianxia beruht, nach der China im Zentrum des Weltsystems steht und alle anderen Nationen, die das Himmelsreich umgeben, an der Peripherie liegen. China ist sein eigenes absolutes Zentrum, offen für die Welt, aber streng auf seine Souveränität, Einzigartigkeit und Identität bedacht.

Das moderne Indien (Bharat) bewegt sich in die gleiche Richtung, insbesondere unter der Herrschaft von Narendra Modi. Auch hier wird es von einer tiefen Identität, der Hindutva, beherrscht, die die Grundlagen der alten vedischen Kultur, Religion, Philosophie und Gesellschaftsordnung wiederbelebt.

Noch kategorischer lehnt die islamische Welt das Wertesystem des kollektiven Westens ab, das mit den islamischen Gesetzen, Regeln und Haltungen überhaupt nicht vereinbar ist. Auch hier liegt der Schwerpunkt auf der Tradition.

In diese Richtung bewegen sich die Völker Afrikas, die eine neue Runde der Entkolonialisierung einläuten – dieses Mal des Bewusstseins, der Kultur und der Denkweise. Immer mehr afrikanische Denker, Politiker und Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens besinnen sich auf die Wurzeln ihrer autochthonen Kulturen.

Auch Lateinamerika entdeckt allmählich diese neuen Horizonte des Traditionalismus, der Religion und der kulturellen Wurzeln und gerät dabei immer mehr in direkten Konflikt mit der Politik der Vereinigten Staaten und des kollektiven Westens. Die Besonderheit Lateinamerikas besteht darin, dass der antikoloniale Kampf lange Zeit überwiegend unter linken Parolen geführt wurde. Jetzt ändert sich die Situation: Die Linke entdeckt die traditionellen und konservativen Ursprünge ihres Kampfes (z. B. in der katholisch dominierten "Theologie der Befreiung") und eine konservative antikoloniale Front wächst (z. B. die "Theologie der Völker").

Bislang ist jedoch keine der auf Multipolarität ausgerichteten und die Tradition bevorzugenden Zivilisationen in einen direkten bewaffneten Konflikt mit dem Westen eingetreten, mit Ausnahme Russlands. Viele zögern und warten auf das Finale dieser dramatischen Konfrontation. Obwohl potenziell die Mehrheit der Menschheit die Hegemonie des Westens und seiner Wertesysteme ablehnt, ist außer uns niemand bereit, in eine direkte Auseinandersetzung mit ihm zu treten.

Damit hat Russland die einmalige Chance, sich an die Spitze der globalen konservativen Wende zu stellen. Es ist an der Zeit, direkt zu erklären, dass Russland den Anspruch der westlichen Zivilisation auf die Universalität ihrer Werte bekämpft und voll und ganz für die eigene (russisch-nationale, orthodoxe) und für alle anderen Traditionen eintritt. Denn im Falle des Triumphs des Globalismus und der Aufrechterhaltung der westlichen Hegemonie sind auch sie von der drohenden Zerstörung bedroht.

Alle Zivilisationen der Welt sind konservativ, das ist ihre Identität. Und sie sind sich dessen zunehmend bewusst. Nur der postmoderne Westen hat sich zu einem radikalen Bruch mit seinen klassischen christlichen Wurzeln entschlossen und begonnen, eine Kultur der Degeneration, der Perversion, der Pathologie und der technischen Ersetzung des Menschen durch posthumane Organismen (von der KI bis zu Cyborgs, Chimären und Produkten der Gentechnik) aufzubauen. Im Westen selbst lehnt ein bedeutender Teil der Gesellschaft diesen Weg ab und wendet sich zunehmend gegen den Kurs der herrschenden postmodernen liberalen Eliten auf die endgültige Abschaffung der kulturellen und historischen Identität der westlichen Gesellschaften selbst.

In seiner neuen Amtszeit als Präsident wäre es durchaus sinnvoll, wenn Putin die Verteidigung der Tradition – in Russland und in der Welt, einschließlich des Westens selbst – zu seiner wichtigsten ideologischen Mission erklären würde. Wladimir Putin ist in den Augen der gesamten Menschheit bereits der größte Führer, der diese Rolle spielt und der westlichen Hegemonie heldenhaft Widerstand leistet. Es ist höchste Zeit, Russlands globale Mission zum Schutz der Zivilisationen und ihrer traditionellen Werte zu verkünden. Hören Sie auf, mit dem Westen mitzuspielen und seine Strategien, Begriffe, Protokolle und Kriterien zu übernehmen. Die zivilisatorische Souveränität besteht darin, dass jede Nation das uneingeschränkte Recht hat, jede externe Politik zu akzeptieren oder abzulehnen, sich auf ihre eigene Art und Weise zu entwickeln, unabhängig davon, dass jemand von außen damit unzufrieden sein mag.

So erklärte die britische Zeitung Mirror kürzlich, am 7. Mai, neun Worte aus der Antrittsrede von Präsident Putin zu einer "schrecklichen Bedrohung für den Westen". Diese Worte lauteten:

"Russland selbst und nur es selbst wird sein eigenes Schicksal bestimmen!"

Das heißt, jede Andeutung von Souveränität wird vom Westen als eine Kriegserklärung an ihn aufgefasst. Russland hat sich darauf eingelassen und ist bereit, jeden zu unterstützen, der seine Souveränität ebenso stark verteidigt wie es selbst.

Natürlich hat jede Zivilisation ihre eigenen traditionellen Werte. Aber heute werden sie alle von einer aggressiven, intoleranten, betrügerischen und pervertierten Zivilisation angegriffen, die einen gnadenlosen Krieg gegen jede Tradition führt – gegen die Tradition als solche. Putins Russland kann sich in einer solchen Situation offen zum Träger einer umgekehrten Mission erklären – zum Verteidiger von Tradition und Norm, von Kontinuität und Identität.

Früher, im zwanzigsten Jahrhundert, beruhte der Einfluss Russlands in der Welt hauptsächlich auf der linken Bewegung. Heute ist sie jedoch allmählich verschwunden, entweder vom Liberalismus aufgesogen oder von selbst erschöpft (mit wenigen Ausnahmen und meist im Bündnis mit antikolonialen konservativen Tendenzen). Jetzt lohnt es sich, auf die Konservativen, die Verfechter der zivilisatorischen Identität zu setzen. Und so wird ein neuer Slogan geboren: Traditionalisten aller Länder, vereinigt euch!

Und wir sollten uns nicht genieren, schämen oder verstecken. Je selbstbewusster wir diesen Weg beschreiten, desto schneller und zuverlässiger wird unser Einfluss in der Welt wachsen. Wenn wir uns entschieden haben, auf Multipolarität zu setzen, müssen wir darin konsequent sein.

Jeder sieht in Putin bereits die Schlüsselfigur des konservativen Aufbruchs. Es ist an der Zeit, dies offen auszusprechen. Kritik aus dem Westen lässt sich in jedem Fall nicht vermeiden, aber die entscheidenden Faktoren in den Beziehungen zum Westen sind jetzt andere. Und unsere Verbündeten – aktuelle und potenzielle – werden Russland mit neuem Elan unterstützen. Schließlich werden ihnen unsere weitreichenden Ziele und Absichten nun klar sein. Sie werden uns vertrauen und ohne Misstrauen und Zögern gemeinsam mit uns eine gerechte und ausgewogene Welt im Interesse der gesamten Menschheit aufbauen.

Übersetzt aus dem Russischen. Der Artikel ist am 14. Mai 2024 auf ria.ru erschienen

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