Meinung

Der Mut, auch die Befreier von heute zu würdigen ‒ der Elbe-Tag in Torgau und seine neuen Akzente

Friedensbewegte haben am Samstag in Torgau abseits der offiziellen Zeremonien zum Tag der Begegnung ihren eigenen Gedenkmarathon mit Märschen und Kundgebungen veranstaltet. Die Mehrheit der Demo-Teilnehmer stellten dabei Kommunisten ‒ von Alt bis ganz Jung.
Der Mut, auch die Befreier von heute zu würdigen ‒ der Elbe-Tag in Torgau und seine neuen Akzente© Wladislaw Sankin

Von Wladislaw Sankin

Am 25. April 1945 traf eine amerikanische Patrouille in Torgau auf sowjetische Soldaten. Der Second Lieutenant Robertson und seine Männer wurden auf der zerstörten Elbebrücke von Leutnant Alexander Silwaschko und sowjetischen Soldaten freudig empfangen. Neben den Aufnahmen der Sowjetsoldaten am Fuße und auf dem Dach des Deutschen Reichstages gelten fotografische Dokumente dieser Begegnung als Symbole für die Beendigung des Zweiten Weltkrieges und des Sieges über NS-Deutschland. Lange galt der Elbe-Tag am 25. April auch als eine Art inoffizieller Weltfriedenstag. An diesem Tag sollte erinnert werden, dass eine Welt ohne Feindschaft und Konfrontation möglich ist. 

Auf den Masten am berühmten Gedenkstein "Geist der Elbe" wehen heute keine russischen und keine US-amerikanischen Flaggen mehr. Auch Vertreter der beiden Siegermächte werden von den örtlichen Behörden nicht mehr zu offiziellen Gedenkfeierlichkeiten eingeladen. Deutschland wird von der Regierung im Eiltempo zu einem Frontstaat aufgebaut und der Geist der Elbe soll aus den deutschen Städten schleunigst weggekehrt werden. In der Rhetorik der deutschen Verteidigungspolitiker wurde Russland offiziell zum künftigen Kriegsgegner auserkoren. 

In dieser Atmosphäre haben sich am Samstag, dem 27. April, drei- bis vierhundert Menschen am Elbeufer versammelt, um dieser Entwicklung zu trotzen. Gekommen sind sie hauptsächlich aus Berlin und dem unweit gelegenen Leipzig, aber auch aus anderen Orten im Osten. Die Mehrheit folgte dem Ruf der Deutschen Kommunistischen Partei (DKP) und der mit ihr verbundenen Jugendorganisationen.

Alle Kundgebungen, die an diesem Tag an verschiedenen Orten in Torgau stattfanden, waren deshalb politisch. Die Vertreter der DKP erklärten, warum sie für die EU-Wahl kandidieren. Nach Einschätzung einiger Teilnehmer hielt der DKP-Vorsitzende Patrik Köbele auf dem Torgauer Marktplatz seine bislang leidenschaftlichste Rede. 

Wie viele andere an diesem Tag auch, forderte er eine radikale Wende in der deutschen Politik: Austritt aus der NATO, Frieden mit Russland, Hinwendung zu sozialen Problemen statt Hochrüstung. Die Zeit drängt. Doch gemessen an der Teilnehmerzahl der Friedenskundgebung in Torgau beunruhigt die Entwicklung zum Krieg offenbar nicht viele im Land.

"Wir brauchen mehr Kraft. Wir versuchen, auf die Menschen zuzugehen und zu erklären, wie notwendig es ist [zu protestieren]. Leider ist es so, dass die Bevölkerung hier in Deutschland noch zu satt ist, noch zu wohlgenährt, um zu merken, was auf sie zukommt. Repressionen in diesem Staate werden immer stärker. Ich wurde darauf aufmerksam gemacht [zeigt auf eine sowjetische Pilotka mit fünfzackigem Stern], dass diese Mütze verboten ist laut Ordnungsgesetz.

Wir werden wieder in Treptow dabei sein am 9. Mai. Wir werden kämpfen, überall dort, wo es wichtig ist, um der Bevölkerung zu zeigen, dass wir als Kommunisten an der richtigen Stelle sind. Wir wollen zeigen, dass wir für Frieden sind, wir brauchen Frieden." 

Das sagt mir ein älterer Aktivist nach der Abschlusskundgebung am Denkmal der Begegnung am linken Elbeufer. Er kommt aus Brandenburg und hat eine Gulaschkanone organisiert. Trotz dieser bitteren Worte ist er sehr gut gelaunt. Die Gedenkfeierlichkeiten seien für ihn bewegend gewesen. Der Herr scheint Mitte bis Ende siebzig zu sein. 

Dann spreche ich mit einem anderen Teilnehmer. Er hat ebenso graue Haare, sieht aber nicht älter als Anfang sechzig aus. Ich frage ihn nach seinen Gefühlen: Vor nur wenigen Minuten wurde hier am Obelisk "Meinst du, die Russen wollen Krieg" sehr ergreifend auf beiden Sprachen, Russisch und Deutsch, gesungen ‒ ein Lied, das niemanden gleichgültig lassen kann. Er sagt:

"Zunächst einmal haben sich 1945 die amerikanischen und russischen Soldaten hier getroffen und sich die Hand gegeben und umarmt. Und daraus hätte eine große Freundschaft werden können weltweit. Das ist leider nicht passiert. Wir gedenken dessen jedes Jahr hier, ich bin selbst seit ein paar Jahren dabei, ich habe das vorher nicht so registriert. Dieser Tag, der so wichtig ist, dass wir freundschaftlich in der Welt leben und keine Kriege führen. Es ist wichtig, dass wir zusammenkommen. Ich bedauere, dass wir relativ wenige sind."

Warum weise ich im Bericht auf die Haarfarbe hin? Weil bei jeder Friedenskundgebung sofort auffällt, dass es die Sache der Älteren ist, für Frieden und gegen die NATO zu demonstrieren. Aber nicht am Elbe-Tag. Mehrere Dutzend jüngerer Menschen sind da, wobei manche kaum älter als 15 zu sein scheinen. Ich vereinbare zwei Interviews, mit zwei Alexandern, um zu verstehen, was die jüngeren Menschen bewegt. 

Gekommen sind sie aus Torgau, Leipzig, Cottbus, Dresden und anderen Städten im Osten, sagt mir Alexander von der Sozialistischen Deutschen Arbeiterjugend (SDAJ). "Wir verstehen uns als Kommunisten. Es ist unsere Pflicht, daran zu erinnern, dass die Rote Armee den größten Beitrag geleistet hat, Deutschland vom Hitler-Faschismus zu befreien, und daran wollen wir uns einerseits erinnern. Und auf der anderen Seite zeigt es auch schon mal, dass deutscher Imperialismus Richtung Osten, Richtung Russland, marschiert ist und daran gehindert worden ist, und gerade versucht die NATO dies schon wieder."

Ich frage nicht nach dem Alter, aber schätze, dass Alexander kaum älter als 20 ist. Er demonstriert zum vierten Mal in Torgau, trägt Bart und Palästina-Tuch. "Wir versuchen unseren Gleichaltrigen zu erklären, warum wir auf der Straße sind", versichert er mir. "Von allein wird es nicht kommen, wir müssen mehr werden, dass wir mit Schülern, mit Auszubildenden ins Gespräch kommen. Wir wollen uns in einem neuen Krieg nicht verheizen lassen."

Dann bitte ich Alexander, mir zu erklären, warum sein Vorgesetzter entgegen allen anderen Rednern an diesem Tag Russlands Militäroperation in der Ukraine regierungskonform "Angriffskrieg" nannte. Er tut das gern. Ihm zufolge definieren die Jungkommunisten der SDAJ den Ukraine-Krieg als imperialistischen Krieg, wobei Russland aus der schwächeren Position heraus agiere. Es verfolge seine realen Sicherheitsinteressen, welche die NATO missachte. Es sei sinnlos, sich an Hetze gegen Putin und Russland zu beteiligen. Protest gelte vor allem "den eigenen Kriegstreibern, dem deutschen Imperialismus". "Friedensverhandlungen können nicht passieren, wenn Deutschland weiterhin Waffen in die Ukraine schickt", betont Alexander. Zum Abschied sagt er winkend: "Druschba". 

Nicht nur die SDAJ versammelte die jungen Menschen am Elbe-Tag unter ihren Fahnen. Auch die erst 2018 gegründete "Kommunistische Organisation" (KO) ist dabei. Die KO-Aktivisten sehen etwas älter als ihre SDAJ-Mitstreiter aus, vermutlich stammen sie mehrheitlich aus akademischen Milieus. Das kann man zumindest aus dem Gespräch mit Alexander H. schließen, der mir die Situation an den deutschen Hochschulen schilderte. Die Atmosphäre dort sei grauenhaft, es finde revisionistische Umdeutung der Geschichte statt. Alexander ist Russischlehrer, doch er muss andere Fächer unterrichten, denn das Interesse am Russischen sei deutlich gesunken. Zu seinen Beweggründen sagt er:

"Und wir stehen heute hier, um diese Parallele zu damals [NS-Zeit] und heute zu ziehen und um wieder aufzustehen, um als Linke, als Antikriegsbewegung zu sagen, wir wollen keinen Krieg mit Russland, weil er unseren Kontinent ins Elend stürzt."

Alexander legt sich eindeutig zugunsten Russlands fest. Ein antiimperialistischer Standpunkt gegen Russland sei ihm zufolge ein abstraktes Konstrukt. "Wir halten gegen diese vermeintlich linke Rhetorik, dass Russland imperialistischer Angreifer sei, dagegen und versuchen uns jeden Tag dafür starkzumachen, dass sich die linke Bewegung mit den Fakten, mit der konkreten Geschichte, die dazu geführt hat, dass Russland in die Ukraine gegangen ist, befassen muss." Die Unkenntnis will er mit vielen Bildungsangeboten oder "vielen Veranstaltungen wie heute" bekämpfen. 

Als einer der letzten Redner an diesem Tag definierte Klaus Hartmann vom Freidenker-Verband, was aus seiner Sicht heutzutage "rechts" ist. "Wer Bandera-Faschisten in der Ukraine die Stange hält, ist rechts, er braucht keine andere Rechte hier im Lande zu suchen." Dementsprechend würdigte er den Kampf Russlands: 

"Wir danken den Befreiern von gestern und den Befreiern von heute. Das heißt, wir danken auch der Russischen Föderation für ihren unermüdlichen Einsatz im Kampf gegen den Faschismus, während einige ihrer Alliierten auf der anderen Seite, nämlich auf der Seite der Faschisten stehen."

Dass er dabei strafrechtliche Verfolgung riskiert hat, liegt auf der Hand. Hartmann geht es darum, die Menschen mit seinem Mut aufzumuntern. Das versteht sein Publikum gut und dankt ihm mit Applaus.

In Abwesenheit der deutschen offiziellen Vertreter fand in Torgau am Elbe-Tag auch ein Akt der deutsch-russischen Volksdiplomatie statt. Ein Vertreter der russischen Botschaft legte in Anwesenheit der Demonstrationsteilnehmer den Kranz am Denkmal der Begegnung und las vor ihnen ein Grußwort des Botschafters vor. Die deutsche Seite erwiderte mit einem Manifest, das von Christiane Reymann anlässlich des 79. Jahrestages der Befreiung vom Faschismus verfasst wurde. Vorgelesen wurde der Aufruf von Anja Mewes.

Der Bericht wäre natürlich nicht vollständig, wenn wir die US-Amerikaner nicht erwähnt hätten. Viele ehemalige US-Soldaten und Beteiligte der damaligen Ereignisse an der Elbe setzten sich nach dem Krieg für die Würdigung des Treffens an der Elbe ein. Auch an diesem Tag war ein echter US-Amerikaner dabei, womöglich der einzige. Passenderweise wurde ich ihm während des in diesem Augenblick von der Bühne abgespielten US-Liedes "Down by the Riverside" vorgestellt. 

"Ich bin hier für die amerikanisch-russische Freundschaft und auch, um gegen die NATO-Aggression zu demonstrieren", sagt Robert mit hörbarem Akzent. Gekommen ist er mit dem Fahrrad aus Berlin, zusammen mit seiner Frau. Seine klare Position fasste der "Ami" in wenigen Worten zusammen: "Ich habe keine anti-amerikanischen Sentiments gespürt. Ich sehe auch die Rolle Deutschlands, Englands und der NATO sehr kritisch. Es gibt jede Menge US-Amerikaner, die die NATO infrage stellen. Sie ist irrsinnig geworden. Sie hätte nach dem Kalten Krieg abgeschafft werden müssen."

Hinter seinem Rücken ist das Torgauer Schloss Hartenfels zu sehen ‒ ein wunderschöner Anblick. Die Robustheit und Schönheit des Schlosses stehen für Geschichte, die nicht zerstört werden kann. Das, wofür das Gedenken am Elbe-Tag da ist, kann ebenso wenig zerstört werden, und das beweist der US-Besucher mit seiner Anwesenheit besser als tausend Worte. Hoffentlich bleibt das auch künftig so.

Mehr zum Thema ‒ "Die ganze Welt fieberte für die Befreiung" – Dutzende Berliner gedenken der Leningrader Blockade

RT DE bemüht sich um ein breites Meinungsspektrum. Gastbeiträge und Meinungsartikel müssen nicht die Sichtweise der Redaktion widerspiegeln.

Durch die Sperrung von RT zielt die EU darauf ab, eine kritische, nicht prowestliche Informationsquelle zum Schweigen zu bringen. Und dies nicht nur hinsichtlich des Ukraine-Kriegs. Der Zugang zu unserer Website wurde erschwert, mehrere Soziale Medien haben unsere Accounts blockiert. Es liegt nun an uns allen, ob in Deutschland und der EU auch weiterhin ein Journalismus jenseits der Mainstream-Narrative betrieben werden kann. Wenn Euch unsere Artikel gefallen, teilt sie gern überall, wo Ihr aktiv seid. Das ist möglich, denn die EU hat weder unsere Arbeit noch das Lesen und Teilen unserer Artikel verboten. Anmerkung: Allerdings hat Österreich mit der Änderung des "Audiovisuellen Mediendienst-Gesetzes" am 13. April diesbezüglich eine Änderung eingeführt, die möglicherweise auch Privatpersonen betrifft. Deswegen bitten wir Euch bis zur Klärung des Sachverhalts, in Österreich unsere Beiträge vorerst nicht in den Sozialen Medien zu teilen.

Am 24. Februar kündigte der russische Präsident Wladimir Putin an, gemeinsam mit den Streitkräften der Donbass-Republiken eine militärische Spezialoperation in der Ukraine zu starten, um die dortige Bevölkerung zu schützen. Die Ziele seien, die Ukraine zu entmilitarisieren und zu entnazifizieren. Die Ukraine spricht von einem Angriffskrieg. Noch am selben Tag rief der ukrainische Präsident Wladimir Selenskij im ganzen Land den Kriegszustand aus.
Der Westen verurteilte den Angriff, reagierte mit neuen Waffenlieferungen, versprach Hilfe beim Wiederaufbau und verhängte Sanktionen gegen Russland.
Auf beiden Seiten des Konfliktes sind zahlreiche Soldaten und Zivilisten getötet worden. Moskau und Kiew haben sich gegenseitig verschiedener Kriegsverbrechen beschuldigt. Tausende Ukrainer sind mittlerweile aus ihrer Heimat geflohen.