Meinung

Frühjahrstagung des Europäischen Rates: "Russland darf nicht die Oberhand gewinnen"

Der Gipfel in Brüssel hatte die Züge eines Kriegsrats angenommen. Dabei gelang es aber nicht, die Meinungsverschiedenheiten und Widersprüche zwischen den Mitgliedsstaaten auszuräumen. Dies betraf insbesondere die Frage: Woher das Geld für die weitere Unterstützung der Ukraine nehmen?
Frühjahrstagung des Europäischen Rates: "Russland darf nicht die Oberhand gewinnen"Quelle: www.globallookpress.com © Moncloa / Keystone Press Agency

Von Pierre Levy

Das Gespenst einer westlichen Niederlage in der Ukraine schwebte über den Staats- und Regierungschefs der 27 EU-Mitgliedstaaten, die sich am 21. und 22. März in Brüssel trafen. Dies ging so weit, dass sich die Frühjahrstagung des Europäischen Rates fast ausschließlich mit dem Krieg und den damit zusammenhängenden Themen befasste.

"Russland darf nicht die Oberhand gewinnen", heißt es in der Abschlusserklärung gleich im ersten Absatz. Diese Proklamation könnte vonseiten der EU banal erscheinen. Doch noch vor einigen Monaten hielten es die europäischen Führer nicht für nötig, sie zu betonen, da der Sieg Kiews, das vom Westen massiv unterstützt wird, so selbstverständlich erschien.

Nun hat sich die Stimmung radikal geändert. Die russische Armee rückt vor, insbesondere an der Front im Donbass. Und die ukrainischen Streitkräfte scheinen jeden Tag in einer schlechteren Position zu sein. Einige Tage vor dem Gipfel fasste Emmanuel Macron die Stimmung der meisten seiner Kollegen zusammen: "Wenn man die Ukraine allein lässt, wenn man sie diesen Krieg verlieren lässt, wird Russland mit Sicherheit Moldawien, Rumänien und Polen bedrohen". Der Präsident des Europäischen Rates, der Belgier Charles Michel, legte kurz darauf in der französischen Tageszeitung Libération nach: "Wenn wir der Ukraine nicht genügend Hilfe leisten, um Russland zu stoppen, werden wir die Nächsten sein".

Unter diesen Umständen nahm der Gipfel die Züge eines Kriegsrats an, ohne dass es jedoch gelang, die Meinungsverschiedenheiten und Widersprüche zwischen den Mitgliedsstaaten auszuräumen. Dies betraf insbesondere die Frage, die in Zeiten von Haushaltskürzungen besonders heikel ist: Woher das Geld nehmen? Zusammengenommen haben die nationalen Regierungen und die EU selbst bereits 31 Milliarden Euro für militärische Unterstützung ausgegeben (d. h. zusätzlich zu den Finanzierungen ziviler Zwecke zugunsten Kiews). In Brüssel plant man bis Dezember 2024 einen finanziellen Nachschlag von 20 Milliarden.

Der EU-Gesamttopf mit der Bezeichnung "Europäische Friedensfazilität" (die militärische Unterstützung der EU weltweit), wurde gerade reformiert und um 5 Milliarden für die Ukraine aufgestockt. Angesichts der Massen an Waffen, Munition, Ausrüstung und militärischen Systemen, die die EU-Strategen für notwendig erachten und die sie selbst herstellen oder von außen beschaffen wollen, reicht dies jedoch nicht aus.

Ein erster Weg, den die Europäische Kommission Ende Februar vorschlug, wurde bestätigt: Die 27 werden die Zinsen der russischen Vermögenswerte, die in europäischen Institutionen deponiert sind und im März 2022 eingefroren wurden, requirieren. Diese Einlagen, die auf 200 Milliarden US-Dollar geschätzt werden, haben Finanzprodukte in Höhe von 4,7 Milliarden Euro generiert, auf die Brüssel nun seine Hand legen wird.

90 Prozent dieses Mannas soll für Kiews militärische Zwecke verwendet werden. Der Rest wird gemäß der ursprünglichen Idee den "Wiederaufbau der Ukraine" finanzieren. Diese Klausel ermöglicht es, den "neutralen" Staaten (außerhalb der NATO, wie Österreich oder Irland), nicht gegen ihre Verfassung zu verstoßen, die Waffenlieferungen an Länder im Kriegszustand verbietet. Es ist anzumerken, dass einige Regierungen dafür plädierten, sich nicht nur die Zinsen, sondern auch das russische Vermögen selbst anzueignen. Dieser Vorschlag wurde nicht aufgegriffen: Für die meisten Experten wäre dies juristisch ein noch offensichtlicherer Diebstahl gewesen, mit der möglichen Flucht internationaler Investoren, die Angst vor solch willkürlichen Verfahren hätten und denen sie eines Tages selbst zum Opfer fallen könnten.

Zweiter Weg: "Die Europäische Investitionsbank wird ersucht, ihre Finanzierungspolitik der Verteidigungsindustrie anzupassen", heißt es in den Schlussfolgerungen des Gipfels. Die EIB kann laut ihrer Satzung nur Investitionen in die zivile Infrastruktur finanzieren, z. B. für den Klima- und Umweltschutz. Die 27 EU-Staaten, die die Anteilseigner dieser Institution sind, werden sich daran machen, diese Beschränkungen zu ändern und die Liste der Produkte mit doppeltem Verwendungszweck (zivil und militärisch) zu erweitern. Die Leiter der Bank und einige Hauptstädte haben jedoch gewarnt: Technisch gesehen ist die Angelegenheit kompliziert. Aber die Befürworter dieses Weges bestehen darauf, dass die Mobilisierung der EIB den Privatsektor (z. B. Pensionsfonds) dazu bringen werde, in den militärischen Sektor zu investieren.

Der dritte Weg spaltet die 27 EU-Mitglieder eindeutig. Er wurde von der estnischen Regierungschefin vorgeschlagen und sofort vom französischen Präsidenten aufgegriffen. Die Idee wäre, eine neue gemeinsame Anleihe an den Finanzmärkten aufzulegen, ähnlich wie im Jahr 2020, als das Ziel war, das "Post-Covid-Konjunkturprogramm" in Höhe von 750 Milliarden Euro zu finanzieren. Diesmal ist von einer Summe von 100 Milliarden Euro die Rede, die den Ambitionen der von der Kommission ausgearbeiteten "Strategie für die europäische Verteidigungsindustrie" entspricht.

Denn Brüssel will nicht nur Kiew unterstützen, sondern träumt auch davon, die EU mit ihren gemeinsamen Produktionskapazitäten zu einer Militärmacht zu machen. Nur, dass in diesem Zusammenhang die Gegensätze innerhalb der 27 Mitglieder auf mehreren Ebenen sichtbar werden. Angefangen bei den ewigen Meinungsverschiedenheiten zwischen Ländern, die als "verschwenderisch" gelten und daher versucht sind, auf Pump zu finanzieren, und jenen, die als "geizig" bezeichnet werden, weil sie prinzipiell an einem ausgeglichenen Haushalt festhalten.

Im letzteren Lager könnten Finnland und Schweden, die durch ihren NATO-Beitritt noch kriegerischer geworden sind, ihre traditionelle Zurückhaltung lockern. Ihre Regierungen würden diese Abweichung von ihrer "Haushaltsdisziplin" mit dem Kriegszustand gegen ein Russland rechtfertigen, das als mindestens so gefährlich wie das Virus von 2020 eingestuft wird.

Dahingegen sind weder Berlin noch Den Haag einverstanden, eine neue gemeinsame Verschuldung zu befürworten. Die Befürworter dieses Ansatzes sind aber darüber nicht verzweifelt; sie argumentieren, dass sich der Prozess noch in einem frühen Stadium befindet und dass die Idee ihren Weg finden wird. Vor allem sehen die Hauptstädte, die ein stärker integriertes Europa am meisten befürworten, den Krieg als eine Gelegenheit, ein föderales Europa durch "Haushaltssolidarität" voranzutreiben.

Diese Aussicht und diese Argumente schüren die Widersprüche innerhalb der 27 EU-Mitglieder, und das zu einem Zeitpunkt, zu dem eine beschleunigte europäische Integration weniger populär ist als je zuvor – was sich bei den Europawahlen im kommenden Juni zeigen könnte. Hinzu kommt der Widerstand einiger Regierungen gegen die Perspektive, der Kommission mehr Befugnisse bei Entscheidungen zu übertragen, die die nationale Rüstungsindustrie betreffen.

So behauptet Berlin, dass Brüssel für Militärtransfers nach Kiew keineswegs ein notwendiger Vermittler sei – auch wenn das Thema die regierende Dreiparteienkoalition spaltet. Mehrere weitere mit der Ukraine in Verbindung stehende Themen zeigten ebenfalls die Spaltungen innerhalb des Rates auf. Und der ukrainische Präsident, der während der Sitzung zu einer Telekonferenz eingeladen worden war, hat seinen EU-Kollegen vorgeworfen, Beschränkungen für Agrarprodukte aus seinem Land eingeführt zu haben.

Diese Importe waren durch eine im Juni 2022 getroffene Maßnahme der "Solidarität" mit Kiew von den Zöllen in die EU befreit worden. Daraufhin kam es zu einer Destabilisierung der Märkte, insbesondere in Polen, Ungarn, Tschechien, der Slowakei und Rumänien: Getreide, Geflügel, Eier, Zucker sowie Obst und Gemüse strömten in Massen in diese Länder und überschwemmten die lokalen Erzeuger. Selbst westliche Länder wie Frankreich bekamen die Auswirkungen zu spüren. Dies war eines der großen Themen der Bauernproteste, die fast zwanzig EU-Länder betrafen. Bei einigen ukrainischen Agrarprodukten, so erinnerte Emmanuel Macron, seien die Importe in die EU seit Beginn des Krieges "um das Fünf- bis Zehnfache" gestiegen.

Einige Regierungen – selbst die kiewfreundlichsten wie Warschau – beschlossen daher einseitige Einfuhrbeschränkungen, weil sie wegen der Wahlen besorgt waren. Daraufhin entwickelte sich zwischen den Ländern, der Kommission und dem Europaparlament ein Spiel um die Festlegung von Schwellenwerten für die Wiedereinführung von Zöllen je nach Produkt sowie um die Festlegung von Referenzjahren. Der Europäische Rat hat noch keine Entscheidungen getroffen, diese stehen noch aus und werden wahrscheinlich noch Änderungen erfahren. Wladimir Selenskyj beschwerte sich über eine "Erosion der Solidarität", obwohl die Produktion insbesondere von Getreide von riesigen Betrieben (oft im Besitz westlicher Großkonzerne) zu sehr niedrigen Kosten durchgeführt wird.

Darüber hinaus bestätigten prinzipiell die 27 EU-Mitglieder die Aufnahme von Verhandlungen über den EU-Beitritt von Bosnien-Herzegowina. Das Land ist weit davon entfernt, die Kriterien für die Aufnahme in den europäischen Club zu erfüllen. Einige Hauptstädte sind jedoch der Ansicht, dass die Balkanländer dringend an die EU angedockt werden müssen, um sie vor dem angeblichen russischen Einfluss zu schützen; und dass es gefährlich wäre, den Beitrittsprozess für Bosnien von dem für die Ukraine und Moldawien abzukoppeln.

Für diese beiden Länder wurden die Verhandlungen im Februar offiziell für eröffnet erklärt, und die Kommission hat seitdem einen "Verhandlungsrahmen", eine Art Fahrplan, erstellt, der noch von den 27 einstimmig angenommen werden muss. Einige Länder, wie Frankreich, treten inoffiziell auf die Bremse, da sie Auswirkungen auf die Wahlen im Juni befürchten: Denn die Aussicht, dass sehr arme und notorisch korrupte Länder kommen, ist sehr unpopulär. Die eigentlichen Diskussionen könnten in diesem Halbjahr nicht beginnen und wahrscheinlich auch nicht im zweiten Halbjahr unter der rotierenden ungarischen Ratspräsidentschaft. Was Bosnien betrifft, so hat der Rat die Kommission gerade aufgefordert, einen Verhandlungsrahmen auszuarbeiten – also eine Stufe hinter Kiew und Chișinău im Verfahren.

In Wirklichkeit sind diese Entscheidungen nur symbolisch. Denn die Verhandlungen sollten, zum Leidwesen vor allem Kiews, ein Jahrzehnt dauern; denn die Wahrscheinlichkeit, dass sie zu tatsächlichen Beitritten führen, ist praktisch gleich null. Die klarsten unter den europäischen Politikern wissen nämlich, dass dies den Zerfall der mit einer beispiellosen Heterogenität konfrontierten EU bedeuten würde. Wie dem auch sei: für die nächsten Monate hat der Rat dazu aufgerufen, die EU in den Modus einer "Kriegswirtschaft" zu versetzen. Es besteht die Gefahr, dass die Völker die großen Verlierer sein werden.

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