Meinung

Warum Macron so auf Odessa fixiert ist

Dass Macron, wenn auch immer wieder mit kleinen Rückzügen, mit einem Einsatz von Truppen in der Ukraine droht und dabei immer wieder erklärt, Odessa müsse ukrainisch bleiben, hat keine psychischen, sondern materielle Gründe. Die möglichen Wirkungen auf die EU kann er sich nicht leisten.
Warum Macron so auf Odessa fixiert istQuelle: www.globallookpress.com © Panoramic

Von Dagmar Henn

Bei den schwankenden Äußerungen des französischen Präsidenten Emmanuel Macron sticht ein Detail ins Auge – immer wieder taucht Odessa auf. Nicht Kiew, nicht Charkow, nein, es scheint eine Befreiung Odessas zu sein, die um jeden Preis verhindert werden müsse.

Übrigens schreibe ich in diesem Fall ganz absichtlich explizit Befreiung, weil der Schrecken des Massakers vom 2. Mai 2014 erst an dem Tag enden wird, an dem diese Stadt nicht mehr von Kiew aus regiert wird. Aber einen Moment zu verhindern, der in Bezug auf das russische Kriegsziel der Entnazifizierung einen hohen Symbolwert hätte, wird wohl kaum der Grund für Macrons Fixierung sein. Es klingt eher so, als würde der Punkt Odessa bei ihm die Panik, die ohnehin die europäischen Eliten kennzeichnet, noch ein weiteres Mal verstärken.

Wenn sich dahinter nicht noch irgendein Projekt verbirgt, das auf keinen Fall entdeckt werden soll (wie bei den Biolaboren, die die USA und Deutschland in der Ukraine betreiben), dann dürfte die Antwort auf diese Frage auf der Karte zu finden sein. Macron scheint der Überzeugung, wenn die ukrainische Niederlage nur bis zum Dnjepr reiche, könne die europäische Elite ihre Position retten. Man muss es ihm nachsehen, die Franzosen sind dafür bekannt, plötzliche Regierungsübergänge manchmal etwas unnachsichtiger zu gestalten.

Odessa ist dabei von entscheidender Bedeutung, weil davon die Möglichkeit abhängt, den mit Einschüchterung und Erpressung geschaffenen westeuropäischen Block stabil zu halten. Dabei geht es nicht um Odessa selbst, sondern darum, was sich ergibt, wenn russische Truppen bis zur ungarischen Grenze kämen. Hypothetisch wäre dann eine Landbrücke von dort über Ungarn bis Serbien denkbar, was es Brüssel deutlich erschweren könnte, den Unterwerfungsdruck auf Serbien aufrechtzuerhalten.

Aber das ist bei Weitem nicht alles. Neben Ungarn liegt die Slowakei, deren Bürger auch nicht so ganz glücklich mit dem antirussischen Kurs der EU zu sein scheinen, und hinter Ungarn liegt noch Österreich. Und hinter Österreich die Schweiz. Wie sieht es eigentlich mit Bulgarien aus, das zwar bisher brav mitspielt, aber dessen Bevölkerung mehrheitlich ganz anderer Ansicht ist? Schlicht, was geschähe, wenn eine ganze Reihe von EU-(und im Falle der Schweiz auch Nicht-EU-)Ländern plötzlich die Möglichkeit erhielte, sich freier zu entscheiden?

Das klingt im Moment weit hergeholt. Aber man darf dabei eines nicht vergessen: Es findet derzeit eine Neuorientierung ganzer Handelsnetze statt, und die gegenwärtige US-Politik, die selbst den industriellen Motor Deutschland schwer schädigt, ist womöglich für die ärmeren EU-Länder Richtung Osten (Polen und die Balten erst einmal ausgenommen) nicht wirklich eine Perspektive. Nicht, wenn sich der gesamte Westen politisch und ökonomisch ins Abseits schießt und nicht einmal mehr die Funktion als Billiglohnland noch eine Zukunft verspricht.

Es ist ja nicht so, als wäre das eine Geheiminformation, dass die EU bald nicht mehr viel zu bieten hat. Abgesehen von der ständigen Sanktioniererei, die selbst innerhalb der EU praktiziert wird, wenn politische Entscheidungen nicht passen, ist da die Tatsache, dass selbst Subventionen nicht mehr zu holen sind, wenn Deutschland und Frankreich pleite sind.

Das Schwarze Meer könnte eine ganz andere Rolle spielen, wenn die Handelswege sich ausdifferenzieren. Brüssel hätte daran natürlich kein Interesse; das würde das vergleichsweise zentralistische westeuropäische Hafensystem durcheinanderbringen, dominiert von Rotterdam, Antwerpen und Hamburg. Der einzige osteuropäische Hafen, der irgendeine Bedeutung hat, ist Gdańsk. Und das, obwohl zu Hochzeiten der Seidenstraße das Schwarze Meer die Anbindung Europas war, woran man sich im Westen bestenfalls noch erinnert, wenn es darum geht, von wo das Schiff aufgebrochen war, das 1348 den Schwarzen Tod nach Europa brachte. Auch die römischen Ruinen in Bulgarien belegen, dass die Verlagerung des europäischen Zentrums nach Norden ein vergleichsweise junges Phänomen ist.

Der gewaltige Druck, der in der EU aufgebaut wurde, hat durchaus etwas damit zu tun, dass die eigene Peripherie auf andere Gedanken kommen könnte. Der riesige US-Stützpunkt, der derzeit in Rumänien gebaut wird, dürfte nicht nur zur weiteren Bedrohung Russlands gedacht sein, sondern mindestens ebenso sehr dazu, die übrigen Anrainerländer des Schwarzen Meers unter US-Kontrolle zu halten. Aber diese Planungen könnten von der Wirklichkeit überholt werden, wenn sich tatsächlich eigene Perspektiven ergäben.

Was bliebe dann noch übrig von der EU? Die alte EWG, Deutschland, Frankreich und Italien? Es ist unübersehbar, zumindest in Frankreich und in Deutschland haben sich derart große Teile der politischen Klasse, parteiübergreifend, in das ukrainische Abenteuer gestürzt, dass eine Niederlage ihre Zukunft mindestens schwer beeinträchtigen würde. Das ist der Auslöser der spürbaren Panik, schließlich war das Abenteuer für die Bevölkerungen alles andere als folgenlos, selbst wenn man die eigene Nase nicht offen sichtbar hineingesteckt hat.

Die Ibiza-Nummer 2019 machte gut sichtbar, dass innerhalb der EU auch Regime-Change mit zum Programm gehört, um Mitglieder auf Linie zu halten. Vergangenes Jahr wurde übrigens bekannt, ohne allzu großes Echo in Deutschland, dass ausgerechnet Correctiv eine Rolle dabei spielte. In der kollektiven Erinnerung dürften auch noch die berüchtigten Troika-Verträge sein, mit denen einst die Eurokrise "gelöst" wurde. Nein, es ist unübersehbar, diese EU fordert völlige Unterwerfung. Das aber funktioniert nur genau so lang, wie es keine bessere Option gibt.

Wenn man Brüssel und die USA wegdenkt, wäre durchaus eine engere ökonomische Zusammenarbeit aller Anrainerstaaten des Schwarzen Meeres denkbar. Und vermutlich auch sinnvoll. Aber wenn die letzten Jahre eines gezeigt haben, und das kann man an der Politik Serbiens wie auch Ungarns sehen, dann, dass es ausgesprochen schwierig ist, sich vor einer derart aggressiven Politik zu schützen. Wie gering der Spielraum ist, zeigte auch der Umgang mit Griechenland, das während der Eurokrise die EU hätte verlassen müssen, um seine Souveränität zu bewahren.

Das war einer der Gründe, warum so viel Druck auf die Ukraine ausgeübt und der Putsch 2014 inszeniert werden musste – eine Russland gegenüber offene Ukraine hätte immer eine Brücke dorthin gebildet, und den Spielraum des europäischen Südostens erweitert. Nur eine gegen Russland feindselige Ukraine schränkte den politischen und wirtschaftlichen Spielraum so weit ein, dass der jetzige monolithische Block EU überhaupt geschaffen werden konnte.

Genau das könnte aufgehoben werden. Das ist es, was letztlich hinter dem ganzen Gerede stecken dürfte, durch eine Niederlage der Ukraine wäre "unsere Freiheit" bedroht. "Unsere Freiheit" steht in diesem Fall nur für den Einflussbereich der EU-Kernstaaten, der sich massiv verringern könnte. Allerdings können sich weder Deutschland noch Frankreich einen Verlust dieser Absatzmärkte leisten. Und eine zerfallende EU würde den ohnehin schwindenden globalen Einfluss noch weiter beeinträchtigen.

Die Widersprüche innerhalb der EU verschärfen sich ohnehin kontinuierlich. Gendert Rumänien? Bulgarien wurde im vergangenen Jahr, gegen heftige Proteste der Bergarbeiter, genötigt, einen Ausstieg aus der Kohle zu planen; dafür gab es ganze 2,2 Milliarden aus der EU. Die Landwirtschaftspolitik, die ebenfalls unter dem Stichwort "Klimaschutz" steht, ist sicher ebenfalls nicht beliebt. Es sind vor allem die Zahlungen aus dem EU-Haushalt, die diese Staaten noch bei der Stange halten. Aber der EU-Haushalt wird anders aussehen, wenn Deutschland und Frankreich ihn nicht mehr finanzieren können. Und man muss nicht erst auf die Bestätigung dieser Entwicklung warten, auch rund um das Schwarze Meer gibt es Internet, und weder der deutsche Niedergang noch die Tatsache, dass Frankreich gerade seine afrikanischen Kolonien endgültig verliert, kann der Aufmerksamkeit noch entgehen.

Man könnte fast vermuten, dass das Augenmerk, das die EU zuletzt Moldawien geschenkt hat, die Wucht, mit der dafür gesorgt werden soll, dass sich dieses kleine Land gänzlich Richtung Westen orientiert, schon eine Art Plan B der EU war, um die östliche Mauer dicht zu halten, sollte die Ukraine verloren gehen. Der Umgang von Frau Maia Sandu mit der Opposition erinnert sehr an die Ukraine nach dem Putsch 2014. Nur, das kleine Moldawien nützt gar nichts, wenn es nicht gelingt, Rumänien zu halten. Der neue US-Stützpunkt ist da ebenso sehr Bestechung wie Drohung.

Frankreich ist, dank des afrikanischen Debakels, noch mehr unter Druck als Deutschland. Macron stand immer wieder anhaltenden Protesten gegenüber und regiert mindestens so sehr gegen die Interessen der Bevölkerung wie Bundeskanzler Olaf Scholz. Da ist nicht nur die Kasse leer, da droht eine erneute soziale Explosion. Während Scholz vielleicht wegen der Kombination aus Feindstaatklausel und Zwei-plus-Vier-Vertrag unruhige Nächte verbringt, ist es bei Macron vermutlich eher das Stieren in die leere Staatskasse. Die genauen Einnahmen, die Frankreich aus dem Pacte Colonial zog, sind nicht bekannt, aber wenn man betrachtet, dass man sich das Uran in Niger für ein Zehntel des Marktpreises abgriff, dürften sie beträchtlich gewesen sein.

Es ist also kein Wunder, dass Macron anders reagiert als Scholz, und ebenfalls kein Wunder, dass er auf Odessa stiert wie das Kaninchen auf die Schlange. Denn es ist nicht ausgeschlossen, dass sich, vielleicht nicht sofort, aber mit hoher Wahrscheinlichkeit in den nächsten Jahren, aus einer Landverbindung zwischen Russland und Ungarn eine ganz andere Art Dominoeffekt entwickelt – dass die südosteuropäischen Staaten einer nach dem anderen der EU von der Fahne gehen. Macron ist bereit, um Odessa alles auf eine Karte zu setzen, weil er fürchtet, es sei seine letzte. Womit er Recht behalten könnte.

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