Westliche Truppen in der Ukraine: Wie eine gewaltige Lüge zum größten Krieg führen könnte
Von Tarik Cyril Amar
Die aktuelle Situation im Konflikt zwischen der Ukraine – die als Rammbock des Westens dient und gleichzeitig zerstört wird – und Russland lässt sich mit drei breiten Strichen skizzieren.
Erstens hat Russland jetzt auf dem Schlachtfeld eindeutig die Oberhand und könnte möglicherweise seine jüngsten Geländegewinne beschleunigen, um bald einen militärischen Gesamtsieg zu erringen. Der Westen ist gezwungen, diese Tatsache anzuerkennen. Wie es die Zeitschrift für Außenpolitik Foreign Affairs in einem Artikel mit der Überschrift "Der Ukraine läuft die Zeit davon" ausdrückte, "befinden sich Kiew und seine westlichen Unterstützer an einem kritischen Punkt und stehen vor einer grundlegenden Frage: Wie kann der weitere russische Vormarsch gestoppt und dann rückgängig gemacht werden?" Man ignoriere einfach das bisschen Wunschdenken, das am Ende des Artikels eingeworfen wird, um die bittere Pille der Realität zu versüßen. Der entscheidende Punkt ist die Erkenntnis, dass für den Westen und die Ukraine die Krise eingetreten ist – und zwar in seiner schlimmsten Form.
Zweitens ist die Ukraine ungeachtet dessen noch nicht bereit, auf Verhandlungen zur Beendigung der militärischen Handlungen zu für Russland akzeptablen Bedingungen einzugehen, was für Kiew alles andere als einfach wäre. Der russische Präsident Wladimir Putin bekräftigte zudem kürzlich in einem Interview, dass Moskau grundsätzlich offen für Gespräche bleibt, allerdings nicht auf der Grundlage von "Wunschdenken", sondern ausgehend von den Realitäten an der Front.
Die mangelnde Flexibilität des Kiewer Regimes ist nicht verwunderlich. Seit Präsident Wladimir Selenskij im Frühjahr 2022 ein nahezu vollständiges – und für die Ukraine günstiges – Friedensabkommen aufgegeben hat, hat er alle Karten auf einen unwahrscheinlichen Sieg gesetzt. Für ihn persönlich und zumindest für sein Kernteam gibt es weder politisch noch physisch eine Möglichkeit, die katastrophale Niederlage zu überleben, die sie ihrem Land zugefügt haben, das sie als Spielball der neokonservativen Strategie Washingtons verpachtet haben.
Der Papst hatte trotz der unangebrachten Empörung, die er in Kiew und im Westen auslöste, mit seiner Einschätzung Recht: Eine verantwortungsvolle ukrainische Staatsführung würde verhandeln. Aber das ist nun mal nicht die Staatsführung, die in der Ukraine herrscht. Zumindest noch nicht.
Drittens wird es immer schwieriger, die Strategie des Westens zu entschlüsseln, da der Westen sich im Wesentlichen nicht darauf einigen kann, wie er sich auf das Scheitern seiner ursprünglichen Pläne für diesen Krieg einstellen soll. Russland wurde zu keiner Zeit isoliert und sein Militär ist stärker und nicht schwächer geworden. Dasselbe gilt für seine Wirtschaft, einschließlich seiner Rüstungsindustrie.
Und nicht zuletzt sind die öffentliche Legitimität und die wirksame Kontrolle des politischen Systems Russlands weder zusammengebrochen noch ausgefranst. Auch das Foreign Affairs musste zugeben, dass "Putin eine faire Wahl 2024 wahrscheinlich gewinnen würde". Das ist mehr, als man beispielsweise von Joe Biden, Rishi Sunak, Olaf Scholz oder Emmanuel Macron sagen könnte. Was Selenskij betrifft, so hat er die Wahlen kurzerhand abgesagt. Mit anderen Worten: Der Westen steht nicht nur vor einer wahrscheinlichen Niederlage der Ukraine, sondern auch vor dem eigenen strategischen Scheitern. Auch wenn es sich dabei nicht um eine direkte militärische Niederlage handelt, so wie in Afghanistan im Jahr 2021, kommt die Situation einem schweren politischen Rückschlag gleich.
Tatsächlich ist dieses drohende Scheitern des Westens ein historisches Debakel, das gerade im Entstehen ist. Anders als im Fall von Afghanistan wird der Westen nicht in der Lage sein, sich einfach von dem Schlamassel, das er in der Ukraine angerichtet hat, zu lösen. Diesmal werden der geopolitische Rückschlag heftig und die Kosten sehr hoch sein. Anstatt Russland zu isolieren, hat der Westen sich selbst isoliert, und wenn er diesen Konflikt verliert, wird er geschwächt daraus hervorgehen.
Es ist eine Sache, endlich akzeptieren zu müssen, dass das trügerische "unipolare" Momentum der 1990er-Jahre schon längst vorbei ist. Es ist jedoch wesentlich schlimmer, mit einer verblüffenden und vermeidbaren Selbstdegradierung in die neue multipolare Ordnung einzutreten. Doch genau das ist es, was die EU und der NATO-Westen aus der unnötigen Verlängerung des Konflikts in der Ukraine hingelegt haben. Überheblichkeit hat es von dieser Seite in Hülle und Fülle gegeben und der Untergang ist nur noch eine Frage der Zeit – noch dazu nicht sehr langer Zeit.
Insbesondere in Bezug auf die EU hat der französische Präsident Emmanuel Macron in einem Punkt halbwegs recht. Ein Sieg Russlands "würde die Glaubwürdigkeit Europas auf null reduzieren". Es sei denn natürlich, ein Geist mit größerer kartesischer Präzision hätte erkannt, dass ein Sieg Moskaus lediglich die letzte Etappe in einem längeren Prozess sein wird.
Die tieferen Ursachen für den weltweiten Ansehensverlust der EU und der NATO sind dreierlei Art. Erstens die eigene mutwillige Entscheidung, die Konfrontation statt eines eindeutig machbaren Kompromisses und die Zusammenarbeit mit Russland zu suchen. Warum genau kann man mit einer neutralen Ukraine nicht leben? Zweitens die US-amerikanische Strategie, die EU und die NATO durch eine kurzsichtige Politik spätimperialer Kannibalisierung systematisch zu schwächen, in Form einer aggressiven Deindustrialisierung und einer "Europäisierung" des Krieges in der Ukraine. Und drittens die groteske Zustimmung der europäischen Vasallen zum oben beschriebenen.
Das ist der Hintergrund für die jüngste Welle rätselhafter Signale westlicher Eliten, insbesondere derjenigen aus der EU und der NATO: Als Auftakt erlebten wir eine Welle von Schreckenspropaganda, mit denen die größten NATO-Manöver seit dem Ende des Kalten Krieges begleitet wurden. Daraufhin erklärte Macron öffentlich und bekräftigte, dass der offene – nicht wie bisher verdeckte, sondern offensichtliche – Einsatz westlicher Bodentruppen in der Ukraine eine Option sei. Er fügte dem Ganzen eine billige demagogische Note hinzu, indem er die Europäer aufforderte, keine "Feiglinge" zu sein, womit er meinte, dass sie bereit sein sollten, tatsächlich seiner Aufforderung zu folgen und gegen Russland zu kämpfen, innerhalb und im Namen der Ukraine. Ganz zu schweigen davon, dass die Ukraine kein offizielles Mitglied der NATO oder der EU ist, jedoch ein höchst korrupter und alles andere als demokratischer Staat.
Als Reaktion darauf ist eine Divergenz innerhalb der EU und der NATO zutage getreten: Die deutsche Regierung hat Macron am deutlichsten widersprochen. Nicht nur Kanzler Scholz beeilte sich, sich von der Initiative von Macron zu distanzieren. Ein sichtlich empörter Boris Pistorius – glückloser Verteidigungsminister, der vor Kurzem durch die ungeheuer sorglose Indiskretion seiner eigenen Generäle bezüglich der Taurus-Raketen ins Straucheln gebracht wurde – hat gemeckert, dass es keinen Grund gibt, "über Bodentruppen oder mehr oder weniger Mut zu reden". Vielleicht noch überraschender ist, dass Polen, die Tschechische Republik sowie die Galionsfigur der NATO, Jens Stoltenberg, – und somit die USA – umgehend erklärt haben, dass sie nicht bereit sind, die Initiative von Macron zu unterstützen. Auch in der französischen Öffentlichkeit zeigt sich keine Begeisterung für diese napoleonische Eskalation. Eine Umfrage von Le Figaro hat hervorgebracht, dass 68 Prozent gegen eine offizielle Entsendung von Bodentruppen in die Ukraine sind.
Auf der anderen Seite hat Macron auch Unterstützung für seine Initiative gefunden. Selenskij ist nicht völlig isoliert, was erklärt, warum er sich zu diesem Thema zurückgehalten hat. Zudem zählt er in dieser Hinsicht nicht, seine Voreingenommenheit ist offensichtlich, und ungeachtet seiner üblichen Wahnvorstellungen hat er in dieser Angelegenheit nicht das Sagen. Obwohl die baltischen Staaten militärische Zwerge sind, sind sie leider in der Lage, einen gewissen Einfluss innerhalb der EU und der NATO auszuüben. Und wie zu erwarten war, haben sie sich auf die Seite des französischen Präsidenten gestellt, wobei Estland und Litauen die Führung übernommen haben.
Es bleibt unmöglich, mit Sicherheit zu verstehen, was wir derzeit beobachten. Um zunächst die weit hergeholte Hypothese vorwegzunehmen: Handelt es sich hier um einen koordinierten Bluff mit einer überraschenden Wendung? Einen komplizierten westlichen Versuch, gegenüber Russland gleichzeitig den guten und den schlechten Polizisten zu spielen, bei dem Macron die Drohungen ausstößt und die anderen signalisieren, dass Moskau sie als weniger extrem einstufen sollte – natürlich zu einem diplomatischen Preis? Wohl kaum. Zum einen wäre dieses Vorgehen dermaßen verrückt, dass selbst der Westen in seinem heutigen Zustand es wahrscheinlich nicht versuchen würde. Nein, der Riss, der sich in der westlichen Einheit auftut, ist real.
Was Macron selbst anbelangt, so tendiert sein Stil durch und durch zu cleverer, kontraproduktiver Gerissenheit. Wir können nicht genau vorhersagen, was Macron vorhat, und er weiß es vielleicht selbst auch nicht. Im Wesentlichen gibt es zwei Möglichkeiten. Entweder ist der französische Präsident jetzt zu einem hartnäckigen Eskalationsbefürworter geworden, der den Krieg in der Ukraine zu einem offenen Zusammenstoß zwischen Russland und der NATO ausweiten will, oder er ist ein Glücksspieler, der ein hohes Risiko eingeht, der blufft, um drei Ziele zu erreichen: Moskau einzuschüchtern und davon abzuhalten, seinen militärischen Vorteil in der Ukraine auszunutzen – was ein hoffnungsloses Vorhaben wäre; vor der Europawahl im Inland zu punkten, was bereits fehlgeschlagen ist und seine Relevanz innerhalb der EU und der NATO zu erhöhen, indem er sich einfach als "neuer Churchill" ausgibt. Und einige seiner Fans, darunter Selenskij, ein ergrauter Veteran des Churchill-Rollenspiels, haben diesen unabdingbaren, wenn auch abgestandenen Vergleich bereits gezogen.
Auch wenn wir die dunkle Sphinx im Élysée-Palast oder, was das betrifft, die undurchsichtigen Machenschaften der Eliten der EU und der NATO nicht vollständig entschlüsseln können, können wir zwei Dinge sagen. Erstens: Was auch immer Macron zu tun gedenkt, es ist äußerst gefährlich. Russland würde Truppen der EU und der NATO in der Ukraine als legitime militärische Ziele behandeln – und es wäre völlig egal, ob sie unter der Flagge der NATO oder der ihrer jeweiligen nationalen Flaggen aufkreuzen. Russland hat außerdem bekräftigt, dass es der Ansicht ist, dass seine vitalen Interessen durch die Ukraine gefährdet sind und Atomwaffen eine Option sind, sollte Moskau eine ernsthafte Bedrohung für Russland erkennen. Diese Warnung könnte nicht deutlicher sein.
Zweitens liegt aufgrund des unbestreitbaren Sieges Russlands in der Ukraine ein Kernproblem des Westens, das jetzt akut wird: Die westlichen Eliten sind gespalten zwischen "Pragmatikern" und "Extremisten". Die Pragmatiker sind ebenso russophob und strategisch fehlgeleitet wie die Extremisten, aber sie scheuen den Dritten Weltkrieg. Doch diese Pragmatiker, die den hart gesottenen Befürwortern der Eskalation widerstehen und zumindest Glücksspieler unter Kontrolle bringen wollen, müssen sich mit einem lähmenden Widerspruch in ihrer eigenen Position und Botschaft auseinandersetzen: Sie teilen immer noch dasselbe wahnhafte Narrativ mit den Extremisten. Beide Gruppierungen bekräftigen immer wieder, dass Russland plant, das restliche Europa anzugreifen, sobald die Ukraine besiegt wurde, und es daher für den Westen lebenswichtig ist – oder laut Macron "existenziell" –, Russland in der Ukraine zu stoppen.
Dieses Narrativ ist absurd. Die Realität sieht genau umgekehrt aus: Der sicherste Weg, in einen Krieg mit Russland zu geraten, besteht darin, offen Truppen in die Ukraine zu schicken. Und was für die EU und die NATO existenziell ist, wäre, sich endlich von der amerikanischen "Führung" zu befreien. Während des Kalten Krieges konnte argumentiert werden, dass West-Europa die Unterstützung der USA benötigte. Nach dem Kalten Krieg war dies jedoch nicht mehr der Fall. Als Reaktion darauf hat Washington eine konsequente, verwaltungsübergreifende, überparteiliche, wenn auch oft grobe Strategie umgesetzt, um das zu vermeiden, was unvermeidlich hätte eintreten sollen: die Emanzipation Europas von der US-amerikanischen Vorherrschaft.
Sowohl die Osterweiterung der NATO, die wie vorhergesagt einen massiven Konflikt mit Russland ausgelöst hat, als auch der aktuelle Krieg in der Ukraine, den Washington über Jahrzehnte hartnäckig provozierte, war Teil der US-Strategie, um "Europa unten zu halten". Und die europäischen Eliten haben dabei mitgespielt, als gäbe es kein Morgen mehr – was für sie vielleicht nicht der Fall sein wird.
Wir befinden uns an einer potenziellen Belastungsgrenze, in einer Krise dieser langfristigen Entwicklung. Wenn die Pragmatiker in der EU und der NATO die Extremisten wirklich eindämmen wollen, die damit liebäugeln, einen offenen Krieg zwischen Russland und der NATO loszutreten, der zumindest Europa vernichten würde, dann müssen sie jetzt ihre Karten offenlegen und sich endlich vom gemeinsamen, ideologisch getriebenen und völlig unrealistischen Narrativ über eine existenzielle Bedrohung aus Moskau verabschieden.
Solange die Pragmatiker es nicht wagen, die Extremisten herauszufordern, wenn es um das grundsätzliche Verständnis der Ursachen der gegenwärtigen Katastrophe geht, werden die Extremisten immer den Vorteil der Beständigkeit haben: Ihre Politik ist töricht, überflüssig und äußerst riskant. Und doch folgen sie dem, was der Westen sich hat einreden lassen. Es ist höchste Zeit, den Bann der Selbsthypnose zu brechen und den Tatsachen ins Auge zu sehen.
Aus dem Englischen.
Tarik Cyril Amar ist Historiker an der Koç-Universität in Istanbul, befasst sich mit Russland, der Ukraine und Osteuropa, der Geschichte des Zweiten Weltkriegs, dem kulturellen Kalten Krieg und der Erinnerungspolitik. Man findet ihn auf X unter @tarikcyrilamar.
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