Meinung

"Desinformations"-Debatte: Die Inquisition hat schon einmal nichts genützt

In regelmäßigen Abständen wird das Thema wieder aufgewärmt, diesmal von Bertelsmann, und dann folgt die nächste Runde Zensur. Eigentlich wäre es besser, wenn die Herrschaften tiefer in die Geschichtsbücher schauen würden. In die Zeit vor etwa 500 Jahren.
"Desinformations"-Debatte: Die Inquisition hat schon einmal nichts genützt© Jost Amman, Public domain, via Wikimedia Commons

Von Dagmar Henn

Wie auch immer man es dreht und wendet, es wird kein Schuh aus der Erzählung von der "Desinformation". Auch im neuesten Anlauf, das Thema weiter voranzutreiben, nicht, der diesmal von der Bertelsmann Stiftung stammt – die selbstverständlich völlig unvoreingenommen ist, auch wenn Konzerntochter Arvato selbst im Zensurgeschäft aktiv ist.

Aber sei es, wie es sei, bei allem Bemühen, noch eine Umfrage auszuwerten und in die "richtige" Richtung zu interpretieren, um eben dieses Zensurgeschäft weiter zu fördern: Hinter all den Lücken und verzerrenden Wahrnehmungen steckt auch ein völliges Missverständnis dessen, was sich im Grunde gerade ereignet, und dass die Reaktionen seitens der westlichen Staaten massive Assoziationen zur Inquisition wecken, ist kein Zufall, sondern beruht auf einer objektiven Ähnlichkeit.

Gehen wir zurück an die Anfänge des 16. Jahrhunderts. Der um 1440 erfundene Buchdruck hatte sich bereits so weit verbreitet, dass Flugzettel, erste Vorformen von Zeitung, auftauchten, und dass die berühmten Ablasszettel in dieser Weise gedruckt werden konnten. Die Verbreitung der Lesefähigkeit hatte seit der Gründung der ersten Universitäten im 13. Jahrhundert einen gewaltigen Aufschwung genommen, auch wenn der Bedarf etwa an Sammlungen des Kirchenrechts im Umfeld dieser Universitäten noch durch handschriftliche, mit unzähligen Abkürzungen versehene Bücher gedeckt wurde, die auf Diktat geradezu in Schreibmanufakturen gefertigt wurden.

Die Auseinandersetzung um den Ablass, die damals von Martin Luther losgetreten wurde, traf auf eine Situation, in der die Zugänglichkeit von Information gerade einen gewaltigen Umbruch erlebte. Noch waren Bücher ziemlich teuer, das weit billigere Papier begann erst, das Pergament abzulösen, und ein Massenmarkt für Bücher entstand erst nach der Erfindung des Rotationsdrucks um 1830, aber die Veränderung war groß genug, dass sich zumindest ganze Gruppen die Lektüre eines Buches teilen konnten.

Lange vor Luther hatten schon andere die Bibel in ihre Landessprachen übersetzt, aber es war erst das Zusammentreffen mit dem Buchdruck, das eine wirklich explosive Wirkung entfaltete. Plötzlich war das Monopol der Kirche auf die Wahrheit gefallen; der zentrale Text, aus dem alles abgeleitet wurde, auch das damals viel gegenwärtigere Kirchenrecht, konnte noch nicht ganz von jedermann, aber doch von vielen selbst überprüft, selbst interpretiert werden.

Weil sich die Gesellschaft in diesem Moment auch in vielen anderen Aspekten im Umbruch befand, wurde diese abstrakte Auseinandersetzung wie zu einem Brennglas, das alles sammelte, was irgendwie dabei war, sich zu ändern, und die Frage der Deutungshoheit der Bibeltexte, die Frage um den Besitz der Wahrheit wurde zur Gestalt, in der sich all diese Konflikte bündelten.

Im katholischen Bereich (der erst dann zum katholischen wurde, als sich das Schisma stabilisiert hatte) sorgte das erst einmal für eine Erhöhung des ideologischen Drucks. Nicht nur im Sinne der Inquisition, die aktiv wurde, auch im Sinne einer Formierung der eigenen Seite – Reformation und Gegenreformation gaben dem Bildungswesen einen gewaltigen Schub, vor allem in dem einen Land, in dem beide über lange Zeit hinweg aufeinandertrafen, ohne von massiven Grenzen getrennt zu sein.

Es ist vielleicht vielen gar nicht so sehr bewusst, wie sehr das Internet die Zugänglichkeit von Information verändert hat. Klar, man nimmt auf der einen Seite wahr, dass die leichte Verfügbarkeit auch einer Oberflächlichkeit Vorschub leistet, weil die eigene Denkarbeit so leicht durch das Abfischen fremder Gedanken ersetzt werden kann. Aber auf der anderen Seite sind auch Prozesse im Umgang mit Informationen sichtbar geworden, die früher im Verborgenen stattfanden, und es sind unzählige Grenzen gefallen.

Als ich 1989 aus Brasilien zurückkam, lag dieses Land unendlich weit entfernt. Telefonate dorthin waren kaum bezahlbar, und selbst dortige Zeitungen waren nicht zu haben. Schon einen Überblick zu erhalten, was in der deutschen Presse über Brasilien berichtet wurde, kostete im Monat mindestens 150 D-Mark, weit außerhalb des Rahmens, was Privatpersonen damals für Medien ausgaben. Was in der deutschen Presse berichtet wurde, konnte man nur glauben oder nicht.

Das ist inzwischen ganz anders. Wenn man wissen will, was in Brasilien geschieht, wandert man ein wenig herum auf den Portalen einiger Zeitungen und Nachrichtensender, und dann vielleicht noch auf der einen oder anderen Webseite, die eine andere Perspektive bietet, aber im Grunde ist all das für ein Fingerschnipsen verfügbar. Genauso ist es mit den "Rohformen" von Information, die vielen Medienberichten zugrunde liegen – Studien, Presseerklärungen, Interviews. Seit es die vielen Videos auf YouTube und TikTok gibt, ist sogar vieles von dem, was einmal Rohmaterial für Nachrichtensendungen war, direkt und unmittelbar zugänglich.

Natürlich, mittlerweile kann man auch vieles fälschen, was früher unvorstellbar war. Ton- und Bildaufzeichnungen können, müssen aber nicht die Wahrheit wiedergeben. Aber die individuelle Möglichkeit, Informationen zu überprüfen, hat einen ebenso gewaltigen Sprung gemacht, wie es bei den Lesern der Bibelübersetzung Luthers der Fall war, die plötzlich in die Lage versetzt wurden, ihre eigene Deutung etwa der Bergpredigt zu finden.

Wenn man Texte wie diese Studie der Bertelsmann Stiftung liest, kann man sich gut vorstellen, wie eine Runde von Dominikanerpredigern beieinander sitzt und darüber diskutiert, wie man der teuflischen Versuchung, selbst die Bibel lesen zu wollen, entgegenwirken könne. Und wie sie, in scholastischer Manier, versuchen, abzuwägen, ob eher mehr Predigten oder eher mehr Scheiterhaufen die Lösung wären. Ob es genüge, den Buchdruck einer strengen Kontrolle zu unterwerfen, oder ob nicht der Buchdruck selbst im Grunde des Teufels sei.

Wie in jener Runde von Dominikanerpredigern (die übrigens, nach den Standards ihrer Zeit, überaus gelehrige Leute waren) geschieht auch bei all den Stiftungen, die sich über das Problem der "Desinformation" auslassen, eines mit Sicherheit nicht – dass sie daran zweifeln, im Besitz der allein seligmachenden Wahrheit zu sein. Aber sie haben die Kontrolle über die Mechanismen verloren, die aus ihrer persönlichen Wahrheit oder der ihrer Organisation eine allgemeingültige machen.

Mit der Behauptung, "Desinformation" wolle die Gesellschaft spalten, haben sie übrigens gleichzeitig Recht und Unrecht, auch wenn schon die Annahme eines Willens den Anteil, der Prozess ist, übergeht. Die Ereignisse des 16. Jahrhunderts führten tatsächlich zu einer Spaltung, und was damals losgetreten wurde, endete erst mit dem Westfälischen Frieden 150 Jahre später, nach dreißig Jahren Krieg. Ja, Auseinandersetzungen um die Wahrheit können Gesellschaften nicht nur spalten, sie können sie geradezu zerfetzen, sobald es eine gesellschaftliche Krise gibt, die sich in ihnen ausdrücken kann.

Aber hätte sich diese Dynamik entwickeln können, wenn nicht alle Mittel in Stellung gebracht worden wären, um die eigene Position zu halten? Erstaunlich an der Auseinandersetzung um Luther ist nicht die Frage der Kontrolle über die Wahrheit, erstaunlich daran ist eher, dass sowohl davor als auch danach seitens der Kirche die meisten derartigen Konflikte durch Einverleibung geklärt wurden. Bei Franz von Assisi zum Beispiel, dessen theologische Sicht im Grunde eine ebenso große Sprengkraft besaß. Nicht allzu viel später auch bei Ignacio de Loyola, dem Gründer der Jesuiten, der wie Franz um ein Haar als Ketzer verbrannt, dann aber umarmt wurde.

Dass das mit Luther nicht funktionierte, hatte mehr mit der sozialen Auseinandersetzung zu tun, die mit hineinspielte und die 1525 im Bauernkrieg gipfelte. Wobei übrigens jener Teil, der in der heutigen Lage ernsthaft als Desinformation gelten kann, damals auch präsent war – die äußerst populären Flugblätter, die Vorläufer der heutigen Zeitungen, druckten gern Geschichten über Kopffüßler, Meteoriteneinschläge und Kälber mit zwei Köpfen. Verkaufte sich einfach gut.

Das Umfeld der heutigen Inquisitoren ist ebenso im Umbruch, nur dass der Maßstab deutlich größer ist; sie wollen jetzt ihre "Wahrheit" im Westen kontrollieren. Was aber gleichzeitig bedeutet, dass sie nicht nur die Veränderungen in der Welt drumherum verleugnen müssen ‒ sie müssen auch nach Kräften übersehen, dass der Auslöser der Auseinandersetzung ein technischer ist.

Die Lösung, die nach all den blutigen Kriegen gefunden wurde, bestand letztlich darin, nicht mehr Bücher zu verbieten, sondern mehr zu lesen. So wie eine wirkliche Bekämpfung der Wirkung von Medienlügen darin besteht, die Regeln im Umgang mit Informationen zu vermitteln, und nicht, "Faktenchecker" zu etablieren, die eben nichts anderes als eine aktuelle Version unserer Dominikanerpatres sind.

Der zivilisatorische Schritt, der aus der Blutspur dieses Ringens um die Wahrheit entsprang, lautet eben nicht "Meine Wahrheit ist wahrer als deine", sondern "Ich bin überzeugt, dass meine Wahrheit stimmt, aber ich kann mich auch irren". Es ist die zweite Hälfte dieses Satzes, die in den letzten Jahren vollkommen verloren gegangen ist. Vor allem im Wertewesten.

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