Wer sind die Guten, wer die Bösen: Gaza führt aus der Welt der Täuschung
Von Dagmar Henn
Ich rede von den Bildern aus Gaza, und dem, was sie auslösen werden. Es ist ein klein wenig wie eine Wiederholung des Szenarios Mitte der 1960er. In der Bundesrepublik war damals alles in der Atmosphäre der Adenauer-Regierung erstarrt, die die Nazi-Elite wieder an die alten Plätze gehievt hatte und das Land mit einer kruden Mischung aus durchdringendem Antikommunismus und einer Art Reader's-Digest-Konservatismus überzog. Der Feind saß im Osten, und im Westen die Guten.
Dann gab es zwei Ereignisse, die die Vorstellungen, wer der Gute und wer der Böse sei, zumindest für die jüngere Generation zerbrachen – erst der Auschwitzprozess, der ins Gedächtnis rief, dass da etwas gewesen war, und dann, weitaus wirksamer, die Bilder des amerikanischen Krieges in Vietnam. Die eine ganz instinktive menschliche Reaktion auslösten, den Wunsch, das, was da geschah, anzuhalten. Und auf einer ganz instinktiven, persönlichen Ebene die Botschaft vermittelten: Wir sind nicht die Guten.
Damals, ehe das Fernsehen, das immer noch ein vergleichsweise neues Medium war, völlig domestiziert wurde, besaßen diese Bilder eine ungeheure Wucht. Sogar in Schwarz-Weiß. Vielleicht sogar umso mehr, weil sie meist aus der Perspektive der Täter gefilmt wurden, und man sich beim Betrachten daher als Komplize fühlen musste, während die eigene Regierung, ob in den USA oder in Deutschland, Täter oder Komplize war.
Auch damals war es die Kontrolle über die wahrgenommene Wirklichkeit, die dieser Konfrontation mit der verleugneten Realität ihre Wucht verlieh. Ein Moment, dessen Qualität sich vielleicht am besten in der Legende vom Prinzen Siddharta findet, dem späteren Buddha. Dieser soll, in einem Palast aufgewachsen und von allem Übel abgeschirmt, sich heimlich hinausgeschlichen haben und dabei drei Dingen begegnet sein, die er bisher nicht kannte: der Krankheit, dem Alter und dem Tod. Diese Begegnung entsetzte ihn so tief, dass er sich auf die Suche nach Weisheit machte und zuletzt zum Buddha wurde, "dem Erwachten".
Es sind in beiden Fällen die Verbrechen der "eigenen" Seite, die plötzlich die Wahrnehmung verändern. Es ist die Arroganz einer Macht, die mit überbordender Gewalt gegen Unbewaffnete vorgeht. Der israelische Krieg im Gazastreifen ist wie ein Vietnamkrieg im Zeitraffer: noch mehr Bomben, noch mehr Brutalität, die Aufnahmen sind in Farbe, und manchmal sogar live. Und sie zeigen alles, was im medialen Alltag vermieden wird, der wie die Dienerschaft Siddhartas alles tut, um kein reales Leid in das künstliche Paradies eindringen zu lassen.
Ein künstliches Paradies, das, im Gegensatz zum Adenauer-Westen, das Versprechen des Wohlstands nicht mehr einzulösen vermag; als wäre das Dach des Palasts bereits löchrig, und nur über dem schlafenden Prinzen würden Wächter eine Plane aufspannen, damit ihn die Tropfen nicht wecken. Ein künstliches Paradies, das sich immer noch für den Nabel der Welt hält, oder, wie die US-Neocons es formulieren, die "leuchtende Stadt auf dem Hügel", eine säkularisierte Variante des himmlischen Jerusalems der Kreuzritter. Einer der Gründe, warum eine politische Mode nach der anderen inszeniert wird und eine scheinbare Befreiung nach der anderen dargeboten werden muss, ist der Drang, ja, die Notwendigkeit, diesen Anspruch zu bestätigen, etwas vorauszuhaben, wenn es schon nicht mehr das Wohlergehen der breiten Mehrheit ist.
Eine Adenauer-Ära auf einem LSD-Trip, in dem sich alles, was im Original dieser Phase noch als Befreiung imaginiert wurde, sich in eine neue Art der Kette verwandelt. Alles ist gut, schön und bestens. Und dann brechen diese Bilder herein, die zeigen, der Kaiser ist nicht nur nackt, er ist zudem von Kopf bis Fuß mit Blut besudelt.
Die Empörung über den US-Krieg in Vietnam löste eine Woge politischer Aktivität aus, die wieder einzufangen und in Konformität umzuwandeln Jahrzehnte in Anspruch nahm. Ich habe nur die letzten Ausläufer dieser Erschütterung erlebt, sie prägte eine ganze Generation. Weil es nicht bei diesem Augenblick des Entsetzens blieb.
Wie in der Geschichte des Siddharta, der sich auf eine jahrelange Suche machte, ist es die Erfahrung eigener Ohnmacht, die zum Handeln führt. Der Schmerz, den das Mitgefühl auslöst. So sehr die Bilder aus Vietnam bei mir im Grunde das Fundament legten, wo die Grenze zwischen Gut und Böse verläuft, die Einstiegslektion zum Imperialismus waren ‒ es waren die Bilder des 2. Mai 2014 in Odessa, die mir deutlicher vor Augen führten, was diese Momente bedeuten. Denn es gibt neben der Ohnmacht, die es quälend macht, diese Bilder zu betrachten, noch ein Gefühl der Verpflichtung, das aus eben dieser Ohnmacht entspringt, und das, so paradox ist der Mensch, geradezu dazu nötigt, nicht wegzusehen, nicht in das falsche Paradies zurückzukehren. Die Ohnmacht erzeugt den Wunsch, nicht mehr ohnmächtig zu sein, und die Verpflichtung verleiht die Ausdauer; die Bilder aus Vietnam lösten nicht nur enorme Proteste aus, sie führten auch dazu, dass sich Hunderttausende tiefer mit politischen Fragen beschäftigten.
Vielleicht ist es ja so, dass zwischendrin immer irgendwie eine Generation verloren geht. Diejenigen, die das ganze Paket gekauft haben, von Klima über LGXYZ bis zu "Putin ist böse", die Anhänger des Wertewestens eben. Die dazwischen, die es sich im Palast gemütlich gemacht haben und jeden Zweifel verdrängen können, solange es der Dienerschaft noch gelingt, den Verfall zu kaschieren.
Ein Verfall, der viel damit zu tun hat, dass sich die Welt draußen gerade ändert, die alte Macht schwindet und es für viele Nationen des Planeten bald keine Bedeutung mehr haben wird, was in diesem Wertewesten geschieht. Der Beitrag, den die Menschen des Westens leisten könnten, ist heute unwichtiger, als er es zu Zeiten des Vietnamkriegs war; das ändert aber nichts an der Notwendigkeit für die Menschen im Westen selbst, die Täuschung hinter sich zu lassen.
Damals wirkte das Aufeinandertreffen dieser zwei Wirklichkeiten wie ein Kampf zwischen den Generationen, auch wenn es das nicht war. Aber auch heute könnte es wieder diese Gestalt annehmen, gerade weil die heutigen Vertreter in Regierung und Medien eher noch eins drauflegen, jede abweichende Sicht noch gründlicher abzuschotten versuchen, und damit die Konfrontation verschärfen. Was die langfristige Wirkung verstärkt, weil für diejenigen, die den Blick auf das wirkliche Leben geworfen haben, das andere desto mehr zur Lüge wird.
Damit wird nicht nur die aktuelle Erzählung fragil, auch die vergangene. Wer, der all die Aufnahmen aus Gaza gesehen hat, könnte noch Butscha glauben? Vor wenigen Monaten waren es wenige, die genug derartige Bilder gesehen haben, um auf den ersten Blick zu zweifeln. Aber jetzt? Wer die verzweifelten Eltern gesehen hat, die ihre toten Kinder im Arm halten, wer jede Phase des Abschieds und des Schmerzes verfolgt hat, an einem der tausenden Beispiele, der weiß, dass nie, niemals und nirgends nach mehreren Tagen der Ruhe unbedeckte Tote auf der Straße liegen. Schon gar nicht, wenn es die eigenen sind. Es sind Handlungen, die viele menschliche Kulturen miteinander teilen: den Toten die Augen zu schließen und sie zu bedecken, und wenn es nur der Kopf ist.
Ja, die Bilder aus dem Gazastreifen werden die Lügen erschweren. Aber sie tun auch etwas anderes, was die Menschheit braucht wie die Luft zum Atmen: Sie erwecken das echte Mitgefühl im Herzen der Finsternis wieder zum Leben. Das immer von Schrecken und Schmerz begleitet ist, wie in der Legende vom Buddha. Von Ent-Täuschung und Ohnmacht, die sich dann bei einigen in die Kraft verwandeln, die wirkliches politisches Handeln antreibt. Zu dem es neben der Erkenntnis der eigenen Lage eben auch dieses Mitgefühls bedarf, das die Grundlage ist, sich mit anderen zusammenzuschließen. Dieser Schmerz ist der Preis, der für die Wahrheit zu entrichten ist.
Die Selbstverbrennung des US-Piloten Aaron Bushnell vor der israelischen Botschaft in Washington zeigt, wie tief dieser Schmerz gehen kann. Und wie unverzichtbar es ist, ihm eine Richtung zu geben, einen Weg zu finden, der ihn in Handlung umsetzt. Aber so ist es auf den widersprüchlichen Pfaden der Geschichte – der gleiche Moment, der die unerträgliche Verzweiflung eines Einzelnen in die Erinnerung einbrennt, ist gleichzeitig ein Hoffnungszeichen, dass wieder eine junge Generation aus Menschlichkeit und Mitgefühl politisch heranwächst, nicht aus Karriereplanung und Opportunismus; eine Generation, die bereit ist, das wahre Gesicht des Wertewestens zu erkennen, und die den Kampf im Herzen der Finsternis wieder aufzunehmen vermag.
Mit Sicherheit wird versucht werden, auch diese Bilder zu unterdrücken. Das Problem ist nur – die Schlimmsten stammen gar nicht aus palästinensischen, arabischen oder sonstigen nicht-westlichen Quellen, sondern aus israelischen. Es sind die israelischen Soldaten, die über gedemütigte Zivilisten jubeln, die Senatoren, die einfach alle töten wollen, die den letzten Flecken Schminke aus der Fratze wischen. Es gibt keine Abschottung vor einem Übel, das mitten aus der eigenen Gesellschaft entspringt. Gleich, wie gut man die Medien unter Kontrolle hat. Wie unabänderlich die Politiker die gleichen Phrasen wiederholen.
Eines der bekanntesten Bilder aus der Zeit des Vietnamkriegs ist die Selbstverbrennung eines buddhistischen Mönchs in der südvietnamesischen Hauptstadt Saigon. Das geschah lange vor den großen Protesten im Westen, schon im Jahr 1963, aber jeder, der später auf die Straße ging, wusste davon. Die französischen Kolonialherren waren Katholiken, ihre amerikanischen Nachfolger ebenfalls Christen, natürlich wurde das zum antikolonialen Symbol (woran eine Debatte, ob das so gemeint gewesen sei, wie sie in westlichen Medien gern geführt wird, nichts ändert; ob und wie ein Symbol wirkt, liegt beim Empfänger, nicht beim Sender). Was wir heute erleben, ist wie eine musikalische Variation über Vietnam.
Wenn sich bei jenen, die jetzt diese Bilder sehen, Schmerz und Ohnmacht in Zorn umsetzen, dann steht ihnen noch die zweite Lektion bevor, die Brecht so zusammengefasst hat: "Auch der Hass gegen die Niedrigkeit verzerrt die Züge. Auch der Zorn über das Unrecht macht die Stimme heiser." Es ist nicht leicht, aber unverzichtbar, die eigene Menschlichkeit zu bewahren, gleich, welchem Schrecken man gegenübersteht.
Die Menschen, die dadurch geformt werden, durch quälendes Mitgefühl und gezügelten Zorn, sind diejenigen, die die Welt braucht. Die auch der Westen brauchen wird, um in eine Welt der Gleichen eintreten zu können. Wenn jetzt in der EU darüber debattiert wird, die Mauer noch etwas höher zu ziehen, die von der Welt da draußen abschottet, ist das vergebene Liebesmüh, die entscheidende Bresche ist schon längst geschlagen, und es war die eigene Arroganz, die es getan hat, denn keines dieser Bilder wäre je entstanden, wenn nicht die Kernländer des Westens, voran die USA, überzeugt gewesen wären, es mache nichts, wenn Israel mal eben einige zehntausend Palästinenser auslöscht.
Es mag ein wenig dauern, aber ab jetzt wird eine dieser Lügen nach der anderen fallen; nicht notwendigerweise für alle, die sich auf den Weg gemacht haben, aber für genug, um dem Pendel Schwung in die andere Richtung zu geben. Vielleicht sogar genug, um die ganze Astroturfing-Landschaft hinwegzufegen. Genug, um auch jene politischen Traditionen wiederzubeleben, deren Auslöschung nach dem Ende der DDR mit so viel Aufwand betrieben wurde.
Es gibt ein schönes Zitat von Jean Jaurès, dem 1914 ermordeten französischen Sozialisten, das in abgewandelter Form sehr bekannt ist:
"Wir, die wir nicht stillstehen, die wir für ein neues Ideal kämpfen, wir sind die wahren Erben der Herde unserer Vorfahren: Wir haben daraus ihre Flamme geholt, ihr habt nur die Asche bewahrt."
Diese unter Schmerzen geborene Menschlichkeit ist die Fackel, die benötigt wird, um die Menschheit aus dem Dunkel zu führen. Vielleicht wurde sie jetzt weitergereicht.
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