Meinung

Heuchelei und Völkermord: Wen der Westen tatsächlich entkolonialisieren sollte

Westliche Medien geben Russlands vermeintlichen "imperialen Ambitionen" viel Raum. Gleichzeitig erhält Israel eine Freikarte und tut mit Palästina, was es will. Die medial entstehenden Zerrbilder sind grotesk – und sie irritieren.
Heuchelei und Völkermord: Wen der Westen tatsächlich entkolonialisieren sollteQuelle: AFP © Jack Guez

Von Tarik Cyril Amar

Die Heuchelei des von den USA geführten Westens hinsichtlich seiner Reaktionen auf Russland, einen geopolitischen Gegner auf der einen Seite, und auf Israel, einen geopolitischen Favoriten mit Sonderprivilegien auf der anderen Seite, ist dermaßen offensichtlich, dass dies sogar dem britischen Guardian aufgefallen ist. Während der Westen mit Rhetorik über "Regeln" und "Werte" um sich wirft, um seinen Stellvertreterkrieg gegen Russland in der Ukraine zu vernebeln, toleriert und unterstützt er Israels völkermörderischen Angriff auf die Palästinenser in Gaza. Dass selbst das oberste Gericht der Vereinten Nationen, der Internationale Gerichtshof, inzwischen einen Völkermord als plausible Wahrscheinlichkeit eingestuft hat, macht keinen wirklichen Unterschied.

Es handelt sich um ein Versagen, das über den Zynismus der politischen Eliten hinausgeht. Während des Krieges zwischen Russland und der Ukraine und de facto dem Westen konnten viele westliche Journalisten und Experten nicht genug davon bekommen, ihre rhetorische Härte zur Schau zu stellen. Während die stark in irregeführten Ukrainer für das Sterben verantwortlich waren, war verbaler Extremismus bei der Meinungsbrigade des Westens der letzte Schrei.

Nicht wenige versuchten, Moskau des Völkermords zu bezichtigen. Andere wiederum meinten, das Mindeste, was sie tun könnten, sei zu fordern, dass Russland aufhöre zu existieren. Diese Fantasie, einen geopolitischen Rivalen zu zerschlagen, kam meist als Aufruf zur "Entkolonialisierung Russlands" getarnt daher, das auch als "das letztes Imperium" verunglimpft wurde. Diese Bezeichnung war praktisch, weil sie drei modische, wenn auch alberne Ideen implizierte: Erstens die Behauptung, dass die moderne, postsowjetische Russische Föderation aus einem kolonisierenden Zentrum und einer kolonisierten Peripherie bestehe. Zweitens der Wunsch, dass Russland einfach implodieren muss, so wie alle Imperien zuvor implodiert sind, abgesehen davon, dass Russland kein Imperium ist. Und drittens, dass die Ukraine als Opfer des Imperialismus gleichwertig mit beispielsweise Belgisch-Kongo oder Vietnam behandelt werden muss.

Nichts davon ergibt Sinn. Russland ist eine Föderation, seine Bevölkerung besteht aus mehr als einer ethnischen Identität und es bestehen durchaus Ungleichgewichte. Wenn man aber glaubt, dass dies die Definition von Kolonialismus ist, dann denkt man am Besten einfach weiter und setzt den Hebel bei Großbritannien oder Frankreich an. Was das "letzte Imperium" angeht, so sollte man es vielleicht zuerst mit den USA aufnehmen. Schließlich ist dies die einzige Nation auf Erden, die sich offiziell als "unverzichtbar" betrachtet. Washington hegt die Überzeugung, dass der gesamte Globus sein gottgegebener Einflussbereich sei, während es die Ukraine aufzehrt und seine Vasallen in der EU in die wirtschaftliche Not bringt. Gleichzeitig unterstützen die USA einen anhaltenden Völkermord im Nahen Osten und bereiten sich auf einen großen Krieg in Asien vor, um dort ihre "Vormachtstellung" zu verteidigen.

Aber die inhärente Absurdität dieser eindeutig politisch und eigentlich propagandistisch motivierten Anschuldigungen in Richtung Russland ist nicht wirklich ihr interessantester Aspekt, zumal es einfach zu offensichtlich ist. Das tatsächlich Faszinierende ist etwas anderes und hat erst vor kurzem begonnen. Wir sind nun im fünften Monat, in dem wir rund um die Uhr und in Echtzeit Zeugen von Israels Völkermord an den Palästinensern in Gaza werden. Das ist das Ergebnis der Struktur des Staates Israel und seiner zionistischen DNA: Die Struktur einer klassischen europäischen Siedlerkolonie, deren Existenz in ihrer gegenwärtigen Form auf der Vertreibung einer indigenen Bevölkerungsgruppe beruht.

Doch wo sind jetzt die mutigen Stimmen, die mutig genug sind, lautstark herauszuschreien, was jeder politische Führer und Redakteur im Westen schon immer über Russland hören wollte? Wo sind sie jetzt? Wo sind ihre Forderungen nach einer "Entkolonialisierung Palästinas", also nach der Befreiung der Palästinenser von israelischer Unterdrückung und massenmörderischer Gewalt? Wo sind ihre Forderungen, die "letzte Siedlerkolonie" zu zerschlagen?

Man soll sich nicht täuschen lassen: Das Ende Israels, so wie es jetzt existiert, als ein Staat, der auf anhaltender Gewalt basiert und permanent ungestraft gegen die Regeln und Bestimmungen der UN verstößt, erfordert oder impliziert keine wahllose Massengewalt gegen Israelis. Es bedeutet lediglich, dass dieser Staat genau die imperialistischen Verbrechen begeht, die westliche sogenannte Experten wiederholt Russland vorwerfen. Wo bleibt die Sorge um Palästina, ein Land, das eindeutig ein echtes Opfer imperialistischer Gewalt seitens Israels und des Westens ist? Wo sind die Rufe, den palästinensischen Widerstand mit den besten Waffen aus den Arsenalen der NATO auszustatten, dutzende Milliarden von Euro und US-Dollar an die Palästinenser zu überweisen, damit sie ihren Kampf gegen die israelische Aggression fortsetzen können? Nichts davon. Mit sehr wenigen Ausnahmen ist das Schweigen der westlichen Intellektuellen ohrenbetäubend.

Nun, der Kontrast zur vorangegangenen Schwülstigkeit ist krass, ja geradezu grotesk. Nehmen wir zum Beispiel einen Kommentar der Washington Post vom 5. April 2022: "Was in der Ukraine passiert, ist Völkermord. Punkt." Der Artikel wurde von Eugene Finkel verfasst, einem Politikwissenschaftler, der ursprünglich aus Lemberg in der Ukraine stammt und an der Johns Hopkins University arbeitet. In seinem Meinungsartikel hat er dargelegt, was der Titel erwarten lässt: Finkel hatte keinen Zweifel daran, dass er in der Lage war, einen glasklaren Fall von Völkermord zu erkennen. Aber auch in Bezug auf Gaza hat er nicht geschwiegen. Am 16. November 2023 berichtete er in einem Leitartikel in der Los Angeles Times von "einem Gelage aus Gewalt, Gräueltaten, willkürlichen Angriffen, Bombenanschlägen und Geiselnahmen, das zu Behauptungen über einen möglichen Völkermord oder völkermörderisches Verhalten durch die Kriegsparteien geführt hat".

Haben Sie den Unterschied erkannt? Während Finkel in Bezug auf Russland vorschnell zu den weit hergeholten Schlussfolgerungen kam, zu denen er kommen wollte, achtete er im zweiten Fall darauf, nur von "Behauptungen" zu sprechen, nachdem hier Israel involviert ist – und natürlich spricht er sich sowohl für die israelischen Täter als auch die palästinensischen Opfer aus. Und doch hat Israel mit der Strategie, eine ethnische Säuberung zu erzwingen, eindeutig und absichtlich Zivilisten ins Visier genommen. Die von Israel angewandten Methoden der Kriegsführung wie zum Beispiel die systematische Hungerblockade, die öffentlich praktizierte Misshandlung von Zivilisten, darunter Kindern und Frauen, die Zerstörung der gesamten medizinischen Infrastruktur und die systematische Ermordung und Misshandlung von medizinischem Personal, die systematische Massentötung durch Bombenangriffe aus der Luft – all das findet in den russischen Kämpfen in der Ukraine keine Parallele. Und im Fall von Israel kann es keinen Zweifel an der "Absicht" geben, die ein Schlüsselfaktor für den Nachweis eines Völkermords ist.

Wenn Finkel auch nur annähernd ehrlich und unvoreingenommen wäre, müsste er zumindest seine Position anpassen: Der Fall des israelischen Völkermords in Gaza ist glasklar, hingegen gibt es keine Gründe, Russland ein solches Verbrechen in der Ukraine vorzuwerfen.

Zum Thema Entkolonialisierung äußerte sich auch ein gewisser Janusz Bugajski, Senior Kollege bei der Jamestown Stiftung in Washington und Autor von "Failed State: A Guide to Russia’s Rupture" (Gescheiteter Staat: Eine Anleitung zum Zerfall Russlands). Bugajski ist ein glühender Befürworter des Zerfalls Russlands und forderte die politischen Entscheidungsträger des Westens auf, sich auf den Zusammenbruch Moskaus vorzubereiten und dann "Kapital daraus zu schlagen". Es überrascht nicht, dass auch er sich auch am Chor über das "auseinanderfallende Imperium" erfreut hat. Seine Fähigkeit, Fakten und Vorhersagen lächerlich falsch zu verstehen, ist eine Sache. Aber Polen, dessen glorreiche strategische Zukunft das nächstes Buch von Bugajski vorhersagen wird, sollte sich ernsthafte Sorgen machen.

Wie steht es also mit der Sicht von Bugajski auf den Völkermord im Gazastreifen aus? Ganz einfach: Der geschieht wegen Moskau. Nicht über den israelischen Völkermord sollen wir nachdenken, sondern über die Behauptung von Bugajski, dass Russland irgendwie von dieser Krise profitiert. In dem, was tatsächlich vor Ort geschieht, kann Bugajski nur "Israels Vergeltung gegen Gaza zur Beseitigung der terroristischen Bedrohung" erkennen. Völkermord? Welcher Völkermord? Um fair zu sein: Bugajski hat bemerkt, dass die USA wegen ihrer Unterstützung Israels einer "internationalen Verurteilung" ausgesetzt sind. Aber auch diese Tatsache kann er mental nur als einen weiteren "Erfolg" für das schändliche Moskau betrachten.

Ich könnte noch weitere Beispiele anführen. Aber das Kernproblem sollte mittlerweile klar sein: Zu viele westliche Intellektuelle verraten die erste Pflicht ihres Berufs, sich zumindest um Ehrlichkeit zu bemühen. Der fast zwanghafte Drang, sich selbst, seine Positionen und seinen Ruf als Waffe gegen Russland einzusetzen, hat jeden Respekt vor Fakten und Standards überwunden. Das allein schon ist ein trauriges Bild des ethischen Verfalls. Aber ihre Reaktion oder das völlige Fehlen einer solchen auf den israelischen Völkermord in Gaza ist wesentlich schlimmer. An diesem Punkt – also jetzt – zeigt die offensichtliche Missachtung der palästinensischen Opfer und ihrer Bedürfnisse und Rechte, dass sie nicht nur voreingenommene Karrieristen und Ideologen sind, sondern auch Gewissenlose ohne Mitgefühl.

Aus dem Englischen.

Tarik Cyril Amar ist Historiker an der Koç-Universität in Istanbul, befasst sich mit Russland, der Ukraine und Osteuropa, der Geschichte des Zweiten Weltkriegs, dem kulturellen Kalten Krieg und der Erinnerungspolitik. Man findet ihn auf X unter @tarikcyrilamar.

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