Mehr denn je braucht die Menschheit einen wahren Philosophen der Zivilisation
Von Pepe Escobar
Während der geopolitische Wahnsinn Ende 2023 aus dem Fokus verschwinden wird, suchen wir Trost mit einem kurzen Flug auf einem Zauberteppich entlang der Seidenstraße. Ich schreibe Ihnen diese Zeilen während meines Aufenthalts in einem nördlichen Abschnitt der alten Seidenstraße in Kasachstan, der sich vom Ili-Tal in Westchina über das Dsungarische Tor bis zu den wunderschönen Transili-Alatau-Bergen erstreckt, Ausläufern des großen Tian-Shan-Gebirges in der Nähe von Almaty. Dieser Teil der alten Seidenstraße führt in das Chu-Tal, in der Nähe des Issyk-Kul-See in Kirgisistan, und zweigt dann über die kasachischen Städte Schymkent und Otrar in Richtung Südwesten nach Samarkand im heutigen Usbekistan ab.
Die ersten Siedler in all diesen endlosen Breitengraden waren im Wesentlichen nomadische Skythen. Ihre Kurgane – kreisförmige Grabhügel – sind bis heute noch in der Landschaft im Südosten Kasachstans und im Norden von Kirgisistan anzutreffen.
Den Skythen folgten verschiedene wandernde Stämme der Turkvölker. Ende des frühen 10. Jahrhunderts blühten entlang der alten Seidenstraße Städte auf wie Otrar – das antike Farab – und Turkistan – das antike Yasy, ein wichtiges Handelszentrum der Großen Seidenstraße. Farab schenkte der Welt seinen berühmtesten Sohn, Abu Nasr al-Fārābī – ein islamischer Wissenschaftler und Philosoph, der von 872 bis 950 gelebt hat, der aber auch Mathematiker und Musiktheoretiker war. Al-Fārābī lebte und wirkte genau zu Beginn des goldenen Zeitalters der islamischen Zivilisation. Die mittelalterliche lateinische Welt kannte ihn als Magister Secundus, den zweitgrößten Philosophen nach Aristoteles. Heute wird er als Symbol der türkischen Welt verehrt und ist eine etablierte Inspiration des philosophischen Denkens in allen Ländern des Islam.
Al-Fārābī war einer der ganz wenigen Philosophen, die den Westen aus seinem schulischen Dornröschenschlaf erweckten. Er war nicht nur ein Pionier der Zivilisationsphilosophie – was sich in Büchern wie "Über die Philosophie der Politik" und "Tugendhafte Stadt" widerspiegelt, Höhepunkte der Erforschung griechischer und islamischer Konzepte über Ethik und politische Ordnung. Er war auch einer der Gründerväter der Politikwissenschaft.
Al-Fārābī war ein Nachkomme von Turkmenen, geboren und aufgewachsen entlang der Karawanen an der alten Seidenstraße, die nebst Gütern auch wichtige Aspekte der Zivilisation transportierten. Die Geschichte der Türken beginnt mit dem türkischen Khaghanat im 6. Jahrhundert. Die goldene Wiege der türkischen Zivilisation erstreckte sich vom Altai-Gebirge bis zu den Steppen Zentralasiens. Als Philosoph und weiser Gelehrter zeichnete sich al-Fārābī durch Theologie, Metaphysik, Ontologie, Logik, Ethik, politische Philosophie, Physik, Astronomie, Psychologie und Musiktheorie aus und vermittelte dadurch unschätzbares Wissen, von der Antike über das Mittelalter hinaus bis hin zur Moderne.
Ein Wechsel hin zum klassischen System
Turkistan/Yasy, nur 60 Kilometer nördlich von Otrar/Farab entfernt, am Rande der Wüste von Kysylkum, ist eine Universitätsstadt, die gleichzeitig das wichtigste islamische Wahrzeichen, Denkmal und die bedeutendste Pilgerstätte Kasachstans beheimatet: das faszinierende Gur-Emir-Mausoleum aus dem 14. Jahrhundert, das dem Sufi-Meister, Dichter und Gelehrten Hodscha Ahmad Yasawi gewidmet ist. Die antiken zentralasiatischen Muslime glaubten, dass drei Pilgerfahrten nach Turkistan das spirituelle Äquivalent zum Haddsch seien – zur Pilgerfahrt nach Mekka. Der tyrannische Eroberer Timur war dermaßen beeindruckt, dass er die Errichtung eines Mausoleums an der Stelle des ursprünglichen Grabes von Hodscha (Lehrer) Ahmad Yasawi anordnete.
Turkistan lebt im Geist sowohl von Ahmad Yasawi als auch von al-Fārābī. Rund um das Mausoleum wurde kürzlich eine komplett neue Stadt errichtet – größtenteils von türkischen Baufirmen. Auf dem Rückweg zu unserer Karawanserei – Rasthäuser entlang der alten Seidenstraße – befindet sich eine hochmoderne Bibliothek, die nach al-Fārābī benannt wurde. Darin findet man wertvolle Bücher, Exegesen und Texte in mehreren Sprachen des Philosophen und weisen Gelehrten.
Im Jahr 2021 wurde Turkistan auf einem Gipfel der Organisation der Turkstaaten (OTS) – Aserbaidschan, Kasachstan, Kirgisistan, Türkei, Usbekistan – zur spirituellen Hauptstadt der türkischen Welt erklärt. Sehr zur Freude von Sultan Erdoğan.
Wie hat al-Fārābī seinerzeit gedacht und wie kann er heute noch ein vorbildlicher Lehrer für uns alle sein? Es geht um Eklektizismus. Al-Fārābī versuchte, die aristotelische Philosophie – seinen Kanon – mit Platon in Einklang zu bringen, interpretierte gleichzeitig die hellenistische Philosophie neu und baute ein neues System islamischen Denkens auf. Er war ein beständiger Lerner, was den Kern seiner Reise bildete, die ihn vor über tausend Jahren von den Steppen des Kernlandes zu den Kulturhauptstädten der islamischen Welt führte: Bagdad, Aleppo, Damaskus und Kairo. Nach und nach machte sich al-Fārābī mit dem kulturellen Wissensschatz der universellen Zivilisation vertraut und trank direkt aus der Quelle der Menschheit, in Mesopotamien und im Becken des Tigris und des Euphrats.
Al-Fārābī kann als der Inbegriff des Zivilisationsphilosophen definiert werden. Das bedeutet, dass er als Herold und maßgeblichen Gründervater des Humanismus zu betrachten ist, da er sich bemühte, in all seinen Werken die Grundlage für den universellen Gedanken der Zivilisation zu legen. Das war ein Wendepunkt im Vergleich zum klassischen System: ein Versuch, die Wissenschaften neu zu klassifizieren, sodass sie auch die islamischen Wissenschaften einbeziehen, anstatt an der damaligen Standardklassifizierung, dem Trivium-Quadrivium, festzuhalten, die vom antiken Griechenland über Rom später ins Christentum gelangte. Dank al-Fārābī erlangte die Zivilisationsphilosophie erstmals eine entscheidende Stellung in einem neuen wissenschaftlichen Rahmen.
Das Logiksystem von al-Fārābī wurde auch zur Hauptgrundlage der im 17. Jahrhundert entwickelten Methodologie und zu einem der Schlüsselfaktoren für die Entstehung der modernen Wissenschaft. Al-Fārābī beeinflusste das westliche Denken fast ebenso stark wie das islamische. Der Philosoph Averroes beispielsweise verbreitete die Erkenntnisse von al-Fārābī nicht nur im damals muslimisch geprägten Spanien, sondern diese Erkenntnisse überquerten auch die Pyrenäen und drangen bis tief in das Innere Europas. Die Tradition des islamischen Denkens in ihrer Gesamtheit ist eine Erweiterung der von al-Fārābī untersuchten Theorien. Zu Zeiten von al-Fārābī wurde der Begriff "Zivilisation" natürlich nicht im selben Sinne verwendet, wie er heute verwendet wird. Doch praktisch jedes Gebiet im Bereich der "Zivilisation", kurz verstanden als die Essenz und Summe höherer Aktivitäten der Menschheit, wurde von al-Fārābī gründlich untersucht.
Das Leben und Denken von al-Fārābī ist das absolute Gegenteil des verdrehten Konzepts des "Kampfs der Kulturen", das möglicherweise mithilfe der Philosophie und dem Politikverständnis von al-Fārābī konstruiert, dann aber von den üblichen Verdächtigen mit dem Ziel missbraucht wurde, um die Postmoderne in ein Blutbad zu verwandeln. Deshalb müssen wir heute mehr denn je das von al-Fārābī entwickelte Konzept der Zivilisation verstehen, das weit über den klassischen westlichen Kolonialismus und der sogenannten "Bürde des weißen Mannes" hinausgeht.
Al-Fārābī sollte als Inbegriff des Philosophen einer Zivilisation beachtet werden, die unter der Schirmherrschaft von Wahrheit, Tugend und Mitgefühl aufgebaut wurde, insbesondere jetzt, wo das Blutbad durch eine Flut von Trugschlüssen ausgelöst wurde – der Krieg gegen den Terrorismus, der Große Nahe Osten, das Abraham-Abkommen. Der außer Kontrolle geratene Zionismus verwüstet die Steppen unserer Seelen, wie eine marodierende Armee der Verdammten.
Dieser Text erschien in englischer Sprache bei Strategic Culture.
Pepe Escobar ist ein unabhängiger geopolitischer Analyst und Autor. Sein neuestes Buch heißt "Raging Twenties" (Die wütenden Zwanziger). Man kann ihm auf Telegram und auf X folgen.
Mehr zum Thema – Zeitalter der kriegerischen Täuschung: Der Deepfake als Leitmotiv des 21. Jahrhunderts
RT DE bemüht sich um ein breites Meinungsspektrum. Gastbeiträge und Meinungsartikel müssen nicht die Sichtweise der Redaktion widerspiegeln.
Durch die Sperrung von RT zielt die EU darauf ab, eine kritische, nicht prowestliche Informationsquelle zum Schweigen zu bringen. Und dies nicht nur hinsichtlich des Ukraine-Kriegs. Der Zugang zu unserer Website wurde erschwert, mehrere Soziale Medien haben unsere Accounts blockiert. Es liegt nun an uns allen, ob in Deutschland und der EU auch weiterhin ein Journalismus jenseits der Mainstream-Narrative betrieben werden kann. Wenn Euch unsere Artikel gefallen, teilt sie gern überall, wo Ihr aktiv seid. Das ist möglich, denn die EU hat weder unsere Arbeit noch das Lesen und Teilen unserer Artikel verboten. Anmerkung: Allerdings hat Österreich mit der Änderung des "Audiovisuellen Mediendienst-Gesetzes" am 13. April diesbezüglich eine Änderung eingeführt, die möglicherweise auch Privatpersonen betrifft. Deswegen bitten wir Euch bis zur Klärung des Sachverhalts, in Österreich unsere Beiträge vorerst nicht in den Sozialen Medien zu teilen.