Führung gewünscht: Franzosen suchen einen neuen Napoleon – wo werden sie ihn finden?
Von Rachel Marsden
Man kann über Napoleon Bonaparte sagen, was man will, aber es lässt sich nicht leugnen, dass er ein absolutes Alphatier war, das einem Franzosen noch immer seine Baskenmütze vom Kopf pusten kann. Ein Typ, der heutzutage in westlichen Führungspositionen schmerzlich vermisst wird. Das würde erklären, warum ihn und seine Taten laut einer neuen Umfrage, die just zu dem Zeitpunkt veröffentlicht wurde, als ein von Ridley Scott über ihn inszeniertes biographisches Werk in die Kinos kam, 74 Prozent der Franzosen positiv sehen.
Napoleon schlug eine Spur des Todes und der Zerstörung (nicht nur) durch Europa, indem er mit seiner Armee Millionen von Menschen auf der ganzen Welt abschlachtete – zu einer Zeit, als das Wetteifern mit dem Schwert um die Vergrößerung des jeweiligen Reiches in Mode war – und er war zufällig besonders gut darin. Aber er behauptete, all dies für Frankreich zu tun, wie fehlgeleitet und extrem es auch immer sein mochte. Das steht in krassem Gegensatz zu der heutigen Parade eigennütziger französischer Politiker, die sich wegen Amtsmissbrauchs vor Gericht verantworten müssen.
Napoleon erhob sich aus der Asche der Französischen Revolution auf der Seite des Volkes und eroberte dann in dessen Namen einen Großteil der Welt. Laut der Umfrage sehen 40 Prozent der Befragten seine größte Leistung in der Schaffung des napoleonischen Zivilgesetzbuches, um letztlich die Werte der Revolution zu verankern. Seine Beiträge für die akademische Welt waren ebenfalls von unschätzbarem Wert, da jedes Land, das ihn als potenzielle militärische Eroberung interessierte, Frankreich zu detaillierten wissenschaftlichen, soziologischen und archäologischen Studien führte, die noch heute als Referenz dienen.
Er wird häufig nach heutigen Maßstäben beurteilt, was offenkundig unfair ist. Sicher, wenn man Napoleon in die heutige Gesellschaft verpflanzen – ihn in ein typisches Großraumbüro stecken würde, dann würde er wahrscheinlich dort nicht so gut hineinpassen – mit seiner Vorliebe für globale Eroberungen und seinem Glauben, dass Frauen zu Hause bleiben sollten. Er würde in kürzester Zeit beim Sensibilitätstraining landen. Aber die Franzosen sind bereit, über seine vielen Schwächen hinwegzusehen, weil seine Leistungen so spektakulär sind. Er hat Frankreich im Alleingang an die Rampe der Weltbühne gehievt. Ja, vielleicht hätte er das nicht geschafft, wenn er die Sitten der "sozialen Gerechtigkeit" gehabt hätte, wie Bob aus der Buchhaltung oder Ihr Nachbar, der nie einen Abend mit seiner Frau verpasst. Aber diese ganze Debatte ist müßig – und dumm.
Jedes Mal, wenn jemand Frankreich auf der Landkarte sichtbar macht, wird er mit Popularität belohnt, wie verschiedene Umfragen zu den beliebtesten französischen Persönlichkeiten aller Zeiten zeigen. Napoleon steht durchweg an der Spitze, gefolgt von Persönlichkeiten wie Charles de Gaulle, Jeanne d'Arc und Marie Curie.
Was haben all diese Menschen gemeinsam? Klare Visionen und Mut im Angesicht von Widrigkeiten – Werte, mit denen die Franzosen persönlich in Verbindung gebracht werden wollen. Leider muss man ziemlich weit zurückgehen, um solche Inkarnationen zu finden.
Während Napoleon Frankreich in eine herausragende Stellung auf der Weltbühne brachte, war es wohl der ehemalige französische Präsident und General des Zweiten Weltkriegs Charles de Gaulle, der dem Land die Hoffnung verschaffte, dort bleiben zu können. De Gaulle führte nicht nur die französische Résistance während der Nazi-Besatzung an, sondern sorgte auch für die Unabhängigkeit Frankreichs in der Nachkriegszeit, indem er die Amerikaner aus dem Land warf, ihre Forderung nach permanenten Stützpunkten ablehnte und Frankreich dann auch noch aus der NATO manövrierte, um das endgültige Schicksal zu vermeiden, de facto unter militärischem Kommando der USA zu landen. Stets die französische Unabhängigkeit vor Augen, reiste de Gaulle 1944 nach Moskau, um Abkommen über gegenseitigen Beistand zu unterzeichnen, und sah in der Sowjetunion einen wichtigen Partner für die französische Unabhängigkeit im Rahmen einer Vision von Europa, die vom Atlantik bis zum Ural reichte.
De Gaulle leitete auch staatlich geförderte Kernenergieprojekte ein, die letztlich so erfolgreich waren, dass sie Frankreich in der gegenwärtigen Energiekrise der Europäischen Union gerettet haben (ebenso bedenke man, dass der derzeitige Präsident Emmanuel Macron kurz davor stand, die gesamte Industrie zugunsten des Trends "grüner" Energiefantasien zu vernichten – derselben, die Deutschland erkennen wird, wenn es seinen Wirtschaftsmotor nicht mit Wind und Sonne antreiben kann, nachdem seine Pipelines Nord Stream für russisches Gas auf "mysteriöse" Weise in die Luft gesprengt wurden).
Jeanne d'Arc war ein junges Bauernmädchen, das die Franzosen zum Sieg über die Engländer führte und dann nicht bereute, wer sie war und was sie getan hatte, als sie in Rouen auf dem Scheiterhaufen verbrannt wurde – weil sie buchstäblich wilde Visionen vom französischen Sieg hatte und die dann in die Tat umsetzte.
Die eingebürgerte Polin Marie Curie war eine weitere Französin, die aus der konventionellen Rolle der Frau in der Gesellschaft heraustrat, 1903 den Nobelpreis für Physik und 1911 den für Chemie erhielt, für ihre bahnbrechenden Forschungen an der Seite ihres Mannes Pierre Curie über Radioaktivität, einschließlich der Entdeckung der Elemente Radium und Polonium. Die Leistungen dieser beiden brachten Frankreich auf die intellektuelle Weltkarte. Mehr als ein Jahrhundert später, im Jahr 2019, strichen übermütige französische Beamte das Pflichtfach Mathematik aus den letzten beiden Jahren des gymnasialen Lehrplans. Das war eine so große Katastrophe für die mathematische Kompetenz und eine solche Gefahr für die französische Wettbewerbsfähigkeit auf dem globalen Spielfeld, dass die Kurse im September 2023 wieder eingeführt werden mussten.
Darin liegt der Unterschied zwischen denjenigen, die von den Franzosen immer noch bewundert werden – obwohl sie schon lange vom Erdboden verschwunden sind – und denjenigen, die seither ohne großes Ansehen an die Macht oder zu Prominenz gekommen und wieder gegangen sind. Es mangelt an unerschütterlicher Führung – an Weitsicht, Klarheit und Entschlossenheit.
Auch Macron hat sie nicht – obwohl er ein bekennender Bewunderer von de Gaulle ist. Es scheint, dass sich jeder französische Politiker für eine Wiedergeburt von de Gaulle hält, aber nur sehr wenige haben die Kraft, an einem Kurs festzuhalten, der in erster Linie dem französischen Volk und der eigenen Nation dient. Stattdessen treiben sie ein doppeltes Spiel und spielen von der Mitte aus auf beiden Seiten des Feldes, versuchen sie, ihren EU-Oberen zu dienen – indem sie sich nämlich bei der nicht gewählten Präsidentin der Europäischen Kommission Ursula von der Leyen anbiedern – oder versuchen, ihre Interessen mit denen in Washington in Einklang zu bringen, indem sie die westliche Solidarität über die souveränen nationalen Interessen stellen. Stellen Sie sich vor, Napoleon hätte das getan – er hätte damit Frankreichs Ambitionen den Launen seiner Verbündeten und deren eigener Agenda untergeordnet.
Es überrascht nicht, dass die jüngste Umfrage von IFOP-Fiducial ergab, dass die beiden aktuellen politischen Persönlichkeiten, die Napoleon am ähnlichsten sind, die rechte Oppositionsführerin Marine Le Pen und der ehemalige Mitte-Rechts-Präsident Nicolas Sarkozy sind. Es ist kaum ein Zufall, dass beide in letzter Zeit dafür kritisiert wurden, dass sie sich gegen den Status quo des französischen und westlichen Establishments ausgesprochen haben, der blindlings der antirussischen US-Außenpolitik in Bezug auf die Ukraine folgt. Beide befürworten sofortige Friedensverhandlungen zwischen Russland und der Ukraine und ein Ende der Feindseligkeiten, anstatt weiterhin Geld für "Hilfe" auszugeben, um einen Konflikt am Laufen zu halten, der unter dem Strich von Nachteil für Frankreich und die EU als Ganzes ist.
Napoleon kam mit dem Rückhalt seines Volkes an die Macht, nachdem es buchstäblich das gesamte korrupte Establishment geköpft hatte. Das heutige Establishment hat mehr als genug Stricke geknüpft, um sich letztendlich selbst zu erhängen. Man kommt nicht umhin, die Parallelen zu erkennen. Die Frage ist nur, wann das französische Volk den Mut haben wird, wieder einmal einen visionären Führer gegen das Establishment zu wählen, auf den es eines Tages zurückblicken und erkennen könnte, dass es den unbedingt gebraucht hat. Bis dahin werden sie sich weiterhin nach großen Zeiten und Figuren jener Größe sehnen und diese romantisieren.
Übersetzt aus dem Englischen.
Rachel Marsden ist eine Kolumnistin, politische Strategin und Moderatorin eines unabhängig produzierten französischsprachigen Programms, das auf Sputnik France ausgestrahlt wird. Ihre Webseite findet man unter rachelmarsden.com.
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