"Bewegung in das erstarrte Land bringen" – Diether Dehm interviewt Hans-Georg Maaßen
Von Alexej Danckwardt
Es gibt ein Sprichwort in Deutschland: "Ist der Ruf erst ruiniert, lebt es sich ganz ungeniert." Es bedeutet, dass man nach Ablegung falscher Rücksichtnahme auf Urteile anderer viel freier agieren kann. Und manchmal damit auch etwas Mutiges und Richtiges tut.
Vielleicht hat sich der in der Linken, deren Mitglied er bislang ist, als "rechts" und "Querfront" diffamierte frühere Bundestagsabgeordnete, Liedermacher und Millionär Diether Dehm davon leiten lassen, als er einen anderen von der eigenen Partei Ausgestoßenen, das CDU-Mitglied und früheren Präsidenten des Bundesamtes für Verfassungsschutz, Hans-Georg Maaßen, zum Interview lud. Vielleicht auch nicht.
Nach dem beinahe 20-minütigen Vorspann zum eigentlichen Interview zu urteilen, in dem sich Dehm vorbeugend für die Einladung Maaßens rechtfertigt, scheint er selbst einen solchen Dialog für erklärungsbedürftig zu halten. Zu groß die Berührungsängste und Vorurteile gegen Maaßen unter dem ‒ im weitesten Sinne ‒ linken Publikum von Diether Dehm.
Dabei ist Maaßen ein CDU-Politiker und Staatsdiener, wie er noch in den 1990er-Jahren Norm und Ideal eines gemäßigten Konservativen und pflichtbewussten Beamten war. Warum man mit so jemandem nicht reden darf, versteht niemand, der das politische Leben vor 2005 bewusst miterlebt und nicht vergessen hat. Auch in dem Gespräch mit Dehm wird der staatstragende Kern des von Angela Merkel für das Aussprechen der Wahrheit zur Chemnitzer "Menschenjagd"-Lüge geschassten Topbeamten ‒ darauf geht das Interview natürlich auch ein ‒ deutlich.
Maaßen sieht sich selbst als überzeugten Verteidiger des Grundgesetzes. Ich habe bei 20 aufgehört zu zählen, wie oft der Begriff "freiheitlich-demokratische Grundordnung" in dem knapp 80-minütigen Interview fällt. Als Verfassungsfeinde gelten ihm diejenigen, die ebendiese "freiheitlich-demokratische Grundordnung" abschaffen oder beschädigen, ob gezielt oder aus Ignoranz, weil sie in "infantiler Naivität sagen, wichtiger als Demokratie und Menschenrechte ist der Klimaschutz".
Interviewer und Interviewter beklagen zusammen die "Verwirrung, was Begrifflichkeiten angeht". Dazu gehören Begriffe wie "links" und "rechts", die beide Gesprächspartner beispielhaft anführen, aber auch andere. Paradox ist dabei nur, dass Maaßen selbst in einem Höchstmaß an Verwirrung untergeht, wenn es um den Begriff des Sozialismus geht. Die Verwirrung gipfelt darin, dass er nun schon einen "Sozialismus der Kapitalisten" (wörtlich: "Milliardärssozialismus") herannahen sieht. Ein "kapitalistischer Sozialismus", das muss man sich tatsächlich auf der Zunge zergehen lassen, ist so ähnlich wie "glühende Kälte" oder "weißes Schwarz".
Sozialismus, so Maaßens "Definition", sei der "Entzug von Freiheiten und Monopolisierung durch eine Nomenklatura, egal ob Nomenklatura der Partei oder des Kapitals". Spätestens hier merkt man, dass Theorie und Wissenschaft seine Stärke nicht sind, und "Sozialismus" für ihn lediglich ein Kampfbegriff. Tatsächlich ist Sozialismus nämlich nicht weniger und kaum mehr als die Vergesellschaftung der Produktionsmittel, die dazu führt, dass diese nicht für die Bereicherung weniger, sondern für das Wohlergehen aller arbeiten. Kapitalisten, Milliardäre gar, können da weder entstehen noch Macht an sich reißen. Um die Nomenklatura an dem Aufbau totalitärer Macht zu hindern, hat man in der Theorie (und auch in der Praxis ‒ die Aufgabe der Macht durch SED und KPdSU ohne jedes Blutvergießen wollen wir auch nicht vergessen) ein weitaus leichteres Spiel, als mit dem Vorhaben, eine Diktatur des Kapitals zu beenden.
Aber sei es drum. In der Beschreibung des aktuellen Zustands des Kapitalismus, die USA gelten für Maaßen dabei als Schreckgespenst, an dem sich auch Deutschland heute orientiert und wohin es sich mit Volldampf entwickelt, hat er gar nicht mal so Unrecht. Die Monopole (Maaßen nennt Namen!), die sich dort entwickelt haben, wollen, so der CDU-Politiker, nicht lediglich "Geld verdienen", sie wollen auch die Macht an sich reißen, über andere bestimmen und anderen die Freiheiten nehmen.
Dann tritt wieder der Romantiker und Verteidiger der "goldenen" BRD zutage:
"Es gibt zwischen dem Kapitalismus, der Diktatur des Kapitals und der Diktatur des Proletariats einen dritten Weg, und das ist der Weg des Grundgesetzes",
spricht Maaßen und ergänzt, Kapitalismus sei nicht dasselbe wie die (soziale) Marktwirtschaft.
Dehm bietet übrigens in diesen Fragen wenig Paroli. Entweder ist er selbst ein schwacher Theoretiker oder es ist taktisches Kalkül, wir kommen gleich dazu, warum. Aber zumindest entgegnen, dass das Wichtigste an Karl Marx die Erkenntnis ist, dass der Kapitalismus immer den Weg von der "harmlosen" Marktwirtschaft zum brutalen Kapitalismus der Monopole geht, dass das, was wir in den USA und zunehmend auch in Deutschland sehen, keine Entgleisung, kein Betriebsunfall, sondern das höchste Gesetz der kapitalistischen Akkumulation ist, hätte Dehm schon können.
Doch genug um den heißen Brei herumgeredet, in der zweiten Hälfte des Interviews platzt die Bombe: Ja, hier wird tatsächlich ein Bündnis angestrebt, ein Bündnis des Teils der Linken, für den Dehm steht, und des Teils der Rechten, die Maaßen aktivieren will.
Den Begriff "Querfront" scheut man nicht mehr, man hat den Spieß umgedreht und aus dem Kampfbegriff eine Losung, aus dem Vorwurf einen Plan gemacht. "Ist der Ruf erst ruiniert, lebt es sich ganz ungeniert." Das ist mutig und hat durchaus eine psychologisch befreiende Wirkung. Der Begriff "Volksfront" wäre dennoch passender gewesen und hätte zutreffende historische Parallelen: Es geht jetzt wieder darum, einen Faschismus, diesmal einen grün angemalten, zu schlagen und Kriegsgefahr, die Gefahr nämlich, dass Deutschland in den sich zusammenbrauenden Weltkrieg hineingezogen wird, abzuwenden.
Die gemeinsame Grundlage eines solchen Bündnisses, verkündet Maaßen, müsse, dreimal darf der Leser raten, die freiheitlich-demokratische Grundordnung sein.
Dehm erinnert an dieser Stelle daran, dass der Begriff "Querfront" nur eine einzige reale Ausprägung in der deutschen Geschichte gehabt hätte, als nämlich General Kurt von Schleicher kurz vor Hitlers Machtergreifung versuchte, mit den sogenannten "Sozialisten" in der NSDAP, der SPD und anderen Weimarer Parteien unter Ausschluss der Kommunisten eine Anti-Hitler-Querfront zu bilden.
Ausgerechnet an dieser Stelle offenbart Maaßen noch einmal Ignoranz, diesmal in historischen Fragen: Kommunisten würden in einem Boot mit den Nazis sitzen, meint er. Das ist Unsinn und geschichtswidrig wie sonst kaum etwas. Nicht nur waren Kommunisten die ersten Opfer der Nazis, es waren dann auch Kommunisten, die den Nazismus – fürs Erste zumindest – besiegt haben, im Mai 1945.
Es gibt noch etwas anderes, was gemeinsame Grundlage aller gesunden Kräfte im Land werden könnte. Beide, Dehm und Maaßen, betonen die Übereinstimmung bei diesem Thema. Es ist die Ukraine-Frage. Maaßen dazu:
"Es ist nicht unser Krieg. Deutschland muss sich nach den Erfahrungen des 20. Jahrhunderts aus jedem Krieg heraushalten. Uns ist es immer gut gegangen, wenn wir ein gutes Verhältnis zu Russland hatten."
Und dann wünscht er sich eine Außenministerin, die nach Moskau fährt und einen Waffenstillstand aushandelt, was in deutschem Interesse wäre.
Nun wollen sie also zusammen "Bewegung in das erstarrte und zerrissene Land bringen". Wird es gelingen? Das Interview verdient es in jedem Fall, gesehen zu werden. Da wird auf die eine oder andere Weise tatsächlich Geschichte geschrieben: Eine Geschichte des Erfolgs oder eine solche des weiteren Scheiterns, das wird sich noch erweisen. Hier noch einmal der Link auf die Aufzeichnung des Gesprächs.
Bitte nicht missverstehen: Bei aller hier geäußerten Kritik an einzelnen Aussagen ist es erfreulich, dass solche Gespräche wieder stattfinden. Wir haben selbst in vielen Artikeln Dialog über Partei- und Ländergrenzen angemahnt, wir forderten, dass Andersdenkende sich frei äußern und Gehör finden müssen, und wollten auch kontroverse Debatten sehen. Jetzt, wo zwei verdiente Männer mutig diesen Schritt wagten, können wir nicht anders, als es zu begrüßen.
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