Meinung

Nord Stream: Es ist an der Zeit, über Verrat zu reden

Die Bundesregierung ist vorab über den Anschlag auf Nord Stream informiert gewesen, meint der Informant in Seymour Hershs neuem Artikel. Aber selbst wenn dem nicht so gewesen wäre ‒ die politische Bedeutung dieses Anschlags sollte endlich mit dem richtigen Maßstab gemessen werden.
Nord Stream: Es ist an der Zeit, über Verrat zu redenQuelle: www.globallookpress.com © Alexander Flocke

Von Dagmar Henn

Der neueste Artikel von Seymour Hersh hat zwei Lücken geschlossen, die es bisher in der Geschichte des Nord Stream-Anschlags gab. Die Erste betrifft das Motiv seiner Quellen ‒ die Zweite ist weit schwerwiegender, sie betrifft die Rolle der Bundesregierung in der ganzen Geschichte.

Das Motiv ist nicht ganz unwichtig, weil seine Nachvollziehbarkeit die Glaubwürdigkeit berührt. Gerade bei Informationen, die von Nachrichtendiensten stammen, ist es wichtig, ausschließen zu können, selbst durch diese Informationen instrumentalisiert zu werden oder Falschinformationen zu erhalten. Dass denjenigen, die den Anschlag technisch vorbereiteten, ein völlig anderes Ziel vorgegaukelt wurde, als tatsächlich damit verfolgt werden sollte, ist ein Motiv, das die Glaubwürdigkeit der Aussagen erhöht – wenn Informationen aus Geheimdienstkreisen "durchgestochen" werden, erweist sich das oft als Folge interner Widersprüche. So war das bereits bei den Pentagon Papers.

Es ist gut vorstellbar, dass in den Reihen der CIA nicht alle erfreut sind, wenn die Vereinigten Staaten eine Kriegshandlung gegen einen ihrer engsten Verbündeten begehen. So zynisch das Nachrichtendienstgewerbe auch sein kann, darf man nie ausschließen, dass sich darunter Menschen befinden, die das, was sie tun, aus ehrlicher Überzeugung tun. Und die die Rhetorik, nach der die Staaten Westeuropas Verbündete sind und nicht das Gabelfrühstück, tatsächlich ernst nehmen.

Der Anschlag, so Hershs Quelle, erwies sich als "Teil einer politischen Agenda der Neocons, um Scholz und Deutschland […] daran zu hindern, kalte Füße zu bekommen und sie [die Pipelines] aufzudrehen".

Wobei der zitierte CIA-Mitarbeiter politisch durchaus ein Stück weit naiv ist, weil er trotz der manischen Aktivität von Nuland und Konsorten in der Ukraine bereits 2014 die Behauptung, es ginge bei der Vorbereitung des Anschlags darum, einen Krieg zu verhindern, geglaubt hat. Und Hersh seinerseits befasst sich auch nicht mit den deutlichen Kriegsvorbereitungen, die unter Anleitung dieser Truppe von Neocons Ende 2021/Anfang 2022 an der Donbassfront stattfanden. Aber das sei einmal dahingestellt. Spätestens das Eingreifen im März 2022, als Kiew in Istanbul tatsächlich Verhandlungen mit Russland führte, belegte unzweifelhaft, wer unbedingt einen Krieg in der Ukraine wollte.

Wenn man vorsichtig sein will, müsste man selbst Bundeskanzler Olaf Scholz zugestehen, dass er sich Anfang Februar 2022, als er die Drohung von US-Präsident Joe Biden gegen Nord Stream hinnahm, über die Absichten ähnlich hätte täuschen lassen können wie der besagte Mitarbeiter der CIA. Auch wenn die meisten Mitarbeiter eines Nachrichtendienstes nur einen Ausschnitt des ganzen Bildes sehen, ein Bundeskanzler aber zumindest Zugriff auf das Ganze hätte, also Details wie der ukrainische Aufmarsch im Donbass sich seiner Kenntnis nur dann entzogen hätten, wenn er sich geweigert hätte, vorliegende Informationen abzufragen oder zur Kenntnis zu nehmen. Sogar unter Hinzuziehung der Tatsache, dass die Minsker Abkommen von westlicher Seite, wie vielfach bestätigt, nur als Täuschung gemeint waren, und dass Olaf Scholz vermutlich bereits in seiner Zeit als Minister der Regierung Merkel in diesen Sachverhalt eingeweiht war, wäre es immer noch schwer, seinen Verrat zu diesem Zeitpunkt zweifelsfrei nachzuweisen.

Im September 2022, zum Zeitpunkt des Anschlags, sah das allerdings bereits völlig anders aus. Denn die Verhinderung der Istanbuler Verhandlungen hatte bereits stattgefunden, und es ließ sich aus den ersten Folgen der Sanktionen bereits erkennen, dass diese für die europäischen Wirtschaftszentren, allen voran Deutschland, weit schwerwiegendere Folgen haben würden als für Russland, das vorgebliche Ziel dieses Wirtschaftskrieges.

Selbst unter Zurechnung aller möglicherweise entlastenden Faktoren, selbst wenn man übergeht, dass spätestens nach Istanbul noch die naivste deutsche Regierung in Kenntnis der Nord Stream betreffenden Pläne mit allen Mitteln hätte versuchen müssen, den Anschlag zu verhindern. Das Allermindeste wäre dann nach dem erfolgten Anschlag eine entsprechende Reaktion gewesen, die im Grunde mit einer Auflösung jedes Bündnisses mit den Vereinigten Staaten von Amerika und einer Entfernung der US-Truppen von deutschem Boden noch geradezu zaghaft gewesen wäre. Denn schließlich stellt eine solche Handlung, ein Angriff auf eine zentrale Einrichtung der Infrastruktur, eine Kriegserklärung dar, und der ökonomische Schaden, der dadurch angerichtet wurde und den Hersh geradezu genüsslich mit 286 Milliarden US-Dollar beziffert, ist gewaltig und wäre mit konventionellen Waffen gar nicht einfach zu erzielen. Die wirtschaftlichen Folgen sind so massiv und so langfristig, dass man sich schon der Wirkung eines Einsatzes von Atombomben annähert.

Das ist kein Golf-von-Tonkin-Zwischenfall. Zugegeben, es war eine Handlung, die zumindest unmittelbar keine Menschenleben kostete ‒ mittelbar aber durchaus, und wie gravierend die weiteren Folgen sein mögen, wenn noch jahrelang eine Regierung in Deutschland besteht, die den US-freundlichen Kurs fortsetzt, ist noch nicht abzusehen. Wir reden von einer Handlung, die wenigstens in die Kategorie Pearl Harbor fällt und die geradezu verniedlicht wird, wenn man sie einen Terrorakt nennt. Und was tut Olaf Scholz? Er grinst weiter.

Nun mag es sein, dass er persönlich erpresst wurde. Oder auch weitere Mitglieder seines Kabinetts. Aber auch dann hätte es einen Ausweg gegeben – den Rücktritt. Dass er auf diesen Anschlag nicht mindestens mit einem Rücktritt reagierte, dass ihm der persönliche Vorteil wichtiger war als das Schicksal seines Landes, beweist nicht nur, dass ihm jegliche Qualifikation abgeht, die Regierung eines Landes zu leiten, sondern auch, dass dasselbe für so ziemlich jede positive Charaktereigenschaft gilt. Und es gibt nur einen Begriff, um die willige Kooperation bei einer derart gravierenden Schädigung des eigenen Landes zu beschreiben: Verrat.

Nicht, dass das in der deutschen Geschichte noch nicht vorgekommen wäre. Adenauer hat die deutsche Einheit verraten ‒ er hatte ja bereits 1935 die angebotene Zusammenarbeit mit dem kommunistischen Widerstand mit der Bemerkung abgelehnt, mit den Nazis ließen sich noch gute Geschäfte machen, und die Westorientierung bot die besseren Geschäfte. Helmut Kohl sorgte dafür, dass die Entwicklung 1989 in einer Annexion mündete und nicht in einer Wiedervereinigung.

Aber selbst diese beiden folgten zumindest nachvollziehbaren ökonomischen Interessen und machten sich nicht daran, der eigenen Bevölkerung die Existenzgrundlage zu entziehen. Scholz ist nicht nur ein Verräter, er ist ein Verräter einer ganz neuen Qualität.

Sicher spielt dabei eine Rolle, dass der grüne Koalitionspartner äußerst zwielichtig ist, sobald man einen Blick auf den Parteigeheimdienst oder auf die realen Folgen vermeintlich guter Projekte wirft. Und dass die gründlichst eingenordete veröffentlichte Meinung der Leitmedien die erforderliche rasche Wendung gegen die USA sehr erschwert hätte. Aber das mindert nicht die persönliche Schuld von Bundeskanzler Olaf Scholz.

Wenn man die Zielsetzung, die Hersh beschreibt, genau betrachtet, ergibt sie sogar, dass sie nur mit einem Verräter an der Spitze der deutschen Regierung überhaupt möglich ist. Denn wenn die Kriegstreiber in Washington nicht genau gewusst hätten, dass keinerlei deutsche Reaktion zu erwarten ist, hätten sie den Anschlag unterlassen, denn dann hätte er die gegenteilige Wirkung gehabt. Eine Bundesregierung, deren Verrat nicht garantiert ist, hätte nicht nur das Bündnis mit den USA aufkündigen, sondern gleichzeitig ein Bündnis mit Russland eingehen können, was bei nüchterner Berechnung sogar erforderlich gewesen wäre, um gegen die Nuklearmacht USA, die schließlich einen Krieg begonnen hat, bestehen zu können.

Nur weil mindestens mit hoher Wahrscheinlichkeit damit gerechnet werden konnte, dass Scholz den Akt hinnimmt und dass seine Regierung alles tun wird, die Qualität dieses Vorgangs vor der eigenen Bevölkerung maximal herunterzuspielen, hat dieser Anschlag stattfinden können.

Es ist wirklich nötig, über diesen Verrat zu sprechen.

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