Nichts aus der Geschichte gelernt: Deutsche Gewerkschaft stimmt wieder für einen Weltkrieg
Von Anton Gentzen
Das, was Susan Bonath vor einer Woche befürchtet hat, ist geschehen: Der Bundeskongress der Vereinigten Dienstleistungsgewerkschaft (Verdi) hat am Freitag den Leitantrag E084 des Vorstandes mit dem irreführenden Titel "Perspektiven für Frieden, Sicherheit und Abrüstung in einer Welt im Umbruch" mit einer überragenden Mehrheit von fast 80 Prozent der Delegiertenstimmen angenommen. Der "Widerstand der Mitglieder", dem Bonath noch Aussichten auf Erfolg zurechnete, entpuppte sich als das Aufbegehren einer verhältnismäßig kleinen Minderheit. Die Mehrheit brachte das Gewerkschaftsschiff – wie vom Vorstand gewünscht – auf klaren Kriegskurs.
Warum der Titel des Antrages irreführend ist? Nun, tatsächlich geht es dort – Orwell lässt grüßen – um das genaue Gegenteil von Frieden, Sicherheit und Abrüstung. Der angenommene Antrag stimmt ausdrücklich dem Konfrontations- und Kriegskurs der Bundesregierung, der EU und der NATO zu sowie den Deutschland und Europa mehr als Russland schädigenden Sanktionen und den Waffenlieferungen an die Ukraine und fordert gar noch mehr von alledem:
"Die Entscheidung der Europäischen Union wie auch der Bundesregierung, den russischen Angriff auf die Ukraine nicht unbeantwortet zu lassen und der angegriffenen Ukraine auf vielfältige Weise zu helfen wie auch Sanktionen zu verhängen, die der russischen Führung die Fortsetzung des Angriffskrieges erschweren und russische Oligarchen treffen sollen, die das Kriegsregime stützen, war und ist grundsätzlich richtig. Die Sanktionen müssen dabei zielgenau sein, ihre Einhaltung konsequent überwacht, die Wirksamkeit überprüft und evaluiert und sie müssen gegebenenfalls angepasst werden."
"Anpassung" meint hier gegebenenfalls auch Ausweitung. Eher Ausweitung denn Rücknahme von Sanktionen, die ihr verkündetes Ziel allesamt verfehlen.
Und zu den Waffenlieferungen hat sich Verdi nunmehr so festgelegt:
"Die Ukraine bei ihrer Verteidigung gegen die russischen Angriffe und ihrem Bemühen, um Wiederherstellung territorialer Integrität auch mit militärischem Material wie Waffen aus den Reihen der NATO-Mitglieder zu unterstützen, ist völkerrechtlich zulässig und eine Unterstützung der Angegriffenen, die es ihnen ermöglicht, sich weiter zu verteidigen."
Dass die Belieferung der einen Kriegspartei mit Waffen, die immer intensiver für Angriffe auf russisches Territorium und Zivilisten verwendet werden, die Gefahr des Ausbruchs eines Weltkrieges mit direkter deutscher Beteiligung in sich birgt, verkennen auch die Verfasser des Leitantrags nicht. Die Bundesregierung, heißt es in ihm direkt nach der soeben zitierten Passage, solle sich hüten, selbst zu einer Kriegspartei in diesem Konflikt zu werden. Doch wo ist die Linie, die massive Waffenlieferungen von direkter Kriegsbeteiligung trennt und wer legt den Verlauf dieser Linie fest? In Wahrheit ist Deutschland bereits Konfliktpartei, der Schritt zur Kriegspartei ist da ein sehr kleiner.
Die Frage, die sich einem einfachen Gewerkschaftsmitglied angesichts der kriegerischen Töne seiner Gewerkschaft als Erstes stellt, ist: "Wozu dieser Kotau vor der Bundesregierung, vor EU und NATO?" Bringt er Vorteile bei der Erfüllung der Kernaufgaben einer Gewerkschaft – dem Kampf um höhere Löhne und Gehälter, um bessere Arbeitsbedingungen?
Es ist nicht das erste Mal in der deutschen Geschichte, dass Gewerkschaften ohne größere Not den engen Schulterschluss mit der deutschen Regierung und dem deutschen Imperialismus üben. Der Blick in die Geschichte lohnt, wenn man sich die Frage beantworten will, ob der Kriegskurs der Gewerkschaftsbosse die "Arbeitgeber" bei künftigen Tarifverhandlungen spendabler stimmen oder dem Arbeiter und Angestellten sonst Vorteile bringen wird.
Im kommenden Jahr wird die Menschheit des 110. Jahrestags des Beginns des Ersten Weltkriegs gedenken. Wieder werden wir uns im Rückblick auf die Ereignisse des Jahres 1914 fragen, wie es so weit kommen konnte: wie der bis dahin blutigste Krieg, mit Millionen Opfern, mit aus lächerlichen Gründen und mit unklaren Zielen vergossenem Blut von Soldaten und Zivilisten beginnen konnte. Ein Krieg, den "niemand wollte" und an dessen Ausbruch noch wenige Wochen zuvor kaum jemand glaubte.
Dass die deutsche Sozialdemokratie damals binnen weniger Tage auf "patriotischen" Kriegskurs schwenkte und damit Verrat an den Idealen der internationalen Solidarität übte, dürfte jedem bekannt sein. Nur wenige, der bekannteste unter ihnen sicherlich Karl Liebknecht, fanden sich in der SPD anno 1914, die dem kaiserlichen Aufruf zum "Burgfrieden" widerstanden und den sinnlosen Krieg als solchen brandmarkten. Die absolute Mehrheit der sozialdemokratischen Reichstagsabgeordneten stimmte für die Kriegskredite und ermöglichte damit das millionenfache Blutvergießen.
Weniger bekannt ist die Rolle der deutschen Gewerkschaften in jenem Sündenfall. Dabei sind diese beinahe noch schneller umgefallen als die SPD. Noch am 1. August 1914, dem Tag der deutschen Mobilmachung, hatte die Generalkommission der Freien Gewerkschaften einen Friedensappell veröffentlicht, aber bereits am folgenden Tag stellte ihre Vorständekonferenz fest:
"Alle Bemühungen der organisierten Arbeiterschaft, den Frieden aufrechtzuerhalten, den mörderischen Krieg zu bannen, sind vergeblich gewesen."
In einer Ausarbeitung des DGB zu seiner Geschichte im Ersten Weltkrieg heißt es dazu:
"Tatsächlich identifizieren sich Freie Gewerkschaften und SPD inzwischen mit dem Wilhelminischen Kaiserreich. Voller Stolz blicken sie auf die organisatorischen und sozialpolitischen Erfolge, die sie errungen haben. Beide sehen es daher als ihre patriotische Pflicht an, den Krieg zu unterstützen. Sie akzeptieren den Burgfrieden vom 2. August 1914 und stellen ab sofort alle innenpolitischen Konflikte zurück."
Am 17. August 1914 beschlossen die Freien Gewerkschaften offiziell, auf alle Lohnkämpfe zu verzichten. Sie hofften durch das Wohlverhalten, ihre Organisation über die Kriegszeit retten und weitere soziale Reformen erkaufen zu können.
Einige Teile der damals zersplitterten Gewerkschaftslandschaft versteigerten sich in jenen Jahren gar dazu, den Krieg zu romantisieren. Beispielsweise heißt es im Jahrbuch 1915 der Christlichen Gewerkschaften, der Krieg sei "der Feuerofen, der die Menschheit von Schlacken und Fehlern reinigt". Er bedrohe zwar "die äußere Kultur und das äußere Glück" des Menschen, "den inneren Menschen aber hat er veredelt und emporgehoben". Theodor Brauer, der führende Theoretiker der Christlichen Gewerkschaften, pries den Krieg "mit seinen Begleiterscheinungen" als "eine grandiose, in ihrer Art überwältigende Bestätigung der Grundsätze der christlichen Arbeiterbewegung".
Das mögen extreme Äußerungen, untypisch für die Gewerkschaftsbewegung insgesamt sein, in der Unterstützung der deutschen Kriegsführung, in dem Verzicht auf Arbeitskampf und den Aufrufen für immer größere Arbeitsleistungen fürs gleiche Entgelt waren sich alle Gewerkschaften weitgehend einig. Erste Absetzungsbewegungen gab es erst im dritten Jahr des Massenmordens, 1916, als die Reichsregierung das Versprechen neuer Sozialreformen verschleppte und einige Gewerkschaften daraufhin mit der Aufkündigung des "Burgfriedens" drohten.
Das Kalkül, von Regierung und Arbeitgebern durch all das Verrenken Entgegenkommen zumindest bei den existenziellen Anliegen der Arbeiter und Angestellten zu erlangen, ging indes nicht auf. Den Gewerkschaftsbossen brachte er Anerkennung, Orden und Aussichten auf lukrativere Posten, dem einfachen Arbeiter brachte der "Burgfriede" nichts außer Not, Leiden, Schweiß und vor allem Tod auf den Schlachtfeldern des gewerkschaftlich und sozialdemokratisch abgesegneten Weltkrieges.
Wieder die schon zitierte Ausarbeitung zur deutschen Gewerkschaftsgeschichte:
"Der auch von den Gewerkschaften oft beschworene 'Geist des Schützengrabens' erweist sich rasch als Illusion. Angesichts der Niederlagen an den Fronten, der Versorgungsengpässe und Wucherpreise auf dem Schwarzen Markt zeigt die deutsche 'Volksgemeinschaft' ihr anderes Gesicht. Gleichzeitig lässt das von den Gewerkschaften ersehnte Entgegenkommen der Arbeitgeber, speziell der Groß- und Rüstungsindustrie, auf sich warten. Diese beharren darauf, dass allein sie im Unternehmen das Sagen haben."
Die Früchte der Politik von damals sind bekannt: vor der kriegsbedingten Massenverelendung rettete nicht einmal die zwischenzeitliche Eroberung der Brotkammer Ukraine (welch Parallelen zu heute!) das Deutsche Reich, die Revolution brach aus, der Krieg ging verloren, die Sozialdemokratie verriet die Revolution, auf Hyperinflation und trügerische Stabilität der Weimarer Zeit folgte eine schlimme Wirtschaftskrise, Hitler kam an die Macht, Teile der Gewerkschaften übten sich in Widerstand, größere Teile fügten sich jedoch auch diesem Führer, ein noch schlimmerer Krieg forderte noch mehr Tote, bis die Rote Armee Berlin eroberte. Eine Verkettung von sich gegenseitig bedingenden Ereignissen und letztlich alles eine Folge des Verrats der SPD und der Gewerkschaften an der deutschen und der weltweiten Arbeiterklasse und ihren wirklichen Interessen.
Der Preis allein des Ersten Weltkrieges waren weltweit 17 Millionen Menschenleben, darunter 2 Millionen deutsche Gefallene, rekrutiert hauptsächlich aus dem einfachen Volk, den von ihren politischen und gewerkschaftlichen Führern verratenen Arbeitern und Bauern. Im Zweiten Weltkrieg kamen noch einmal 60 Millionen Kriegstote weltweit dazu.
Sozialdemokratie und Gewerkschaften hätten den Ersten Weltkrieg ohne größere Anstrengung verhindern können: Ein Massenstreik hätte die Industrie lahmgelegt und jede Kriegsführung unmöglich gemacht. Damals wie heute diente und dient der angebliche "großrussische Imperialismus", den Begriff bringt der Verdi-Beschluss vom Freitag tatsächlich, zur Rechtfertigung des Kriegskurses und des Verrats der Prinzipien. Den eigenen Imperialismus, den kaiserlichen damals, den der EU und der NATO heute, übersieht man dabei geflissentlich.
Dabei war es der Expansionskurs von EU und NATO, der die Probleme in und um die Ukraine überhaupt erst erzeugte. Um zu verstehen, warum Russland die EU schwer und die NATO in seinem weichen Bauch, der die Ukraine nun mal ist, gar nicht dulden kann, genügt mir ein Blick auf die Landkarte. Was EU, NATO und Deutschland dort zu suchen haben, ist nur mit räuberischen, imperialistischen Ambitionen zu erklären. Wie ein Raubtier seine gefangene Beute verteidigt, so verhalten sich EU, NATO und Deutschland im Ukraine-Konflikt. Ob Russland dabei auch ein Raubtier ist (das ist es nach meiner Überzeugung nicht), ist letztlich nachrangig. Gegen den eigenen Imperialismus haben Linke, Sozialdemokraten und Gewerkschafter zu kämpfen, nicht gegen einen tatsächlichen oder vermeintlichen fremden. Anderenfalls werden sie eben zu "Burgfriedlern" und "Landesverteidigern". Wie 1914. Wie Verdi seit Freitag.
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