Die EU, die Führerscheine und die Gesellschaft
Von Dagmar Henn
Wenn man ein Musterbeispiel dafür sucht, wie politische Debatten und Entscheidungen in den Nebel geraten, ist die derzeitige Debatte über die geplanten neuen EU-Regelungen zum Führerschein ein geeignetes Objekt. Nicht, dass es der gravierendste Einschnitt in das Alltagsleben wäre, den die EU beabsichtigt – da kämen davor noch die angestrebten Verbote für Kunstdünger und der Generalangriff auf den Wohnungsbestand, auch als Klimaschutz bekannt.
Aber die Auseinandersetzung um die Führerscheinregeln ist aktuell, und sie verläuft genau so, wie das bei derartigen Debatten derzeit immer der Fall ist: am Thema vorbei.
Augenblicklich liegen in der Öffentlichkeit zwei Entwürfe vor, einer der EU-Kommission und einer aus der grünen Fraktion des Europaparlaments. Es ist nicht überraschend, dass der grüne Entwurf unlogisch und weitgehend unsinnig ist. Aber auch der Kommissionsentwurf geht an der Realität vorbei, und als Begründung dient wieder einmal das Bestreben, etwas auf null zu bringen. Proklamiertes Ziel der geplanten Reform ist nämlich, dass es im Verkehr keine Toten und Schwerverletzten mehr geben soll.
Das allerdings wäre selbst zu Zeiten von Ochsenfuhrwerken und Handkarren eine Illusion gewesen; schwere Verkehrsunfälle gab es schon im antiken Rom. Die einzige Möglichkeit, sie zu verhindern, ist gar kein Verkehr. Dazu müsste man allerdings in eine Gesellschaft der Jäger und Sammler zurückkehren.
Der grüne Vorschlag beinhaltet beispielsweise eine neue Gewichtsgrenze für Fahrzeuge; der Führerschein Klasse B, mit dem man ein gewöhnliches Fahrzeug führen kann, soll in zwei Gewichtsklassen unterteilt werden, und für die zweite soll es eine zweite Prüfung brauchen. Nach Bekanntwerden dieser Vorschläge haben sich reihenweise deutsche Politiker zu Wort gemeldet und darauf hingewiesen, dass gerade die so favorisierten Elektroautos durch ihre schweren Batterien fast alle in die neue Kategorie B+ fallen würden und daher von Fahranfängern nicht genutzt werden dürften.
Das ist ein richtiger Einwand, aber nur ein halber, denn das Problem geht weit tiefer. Wenn der Führerschein Klasse B nicht mehr bis 3,5 Tonnen gilt wie bisher, bräuchten etwa alle Paketzusteller, gleich von welcher Firma, einen Führerschein B+. Nun gibt es im gesamten Transportgewerbe derzeit einen Fahrermangel, vor allem bei LKW und Bussen. Der Grund dafür liegt, neben der miserablen Bezahlung, darin, dass der Führerschein selbst finanziert werden muss. Betriebe, die diese Kosten übernehmen, sind die Ausnahme, und die Arbeitsämter sind knauserig.
Wenn die Anforderungen für diese Fahrzeuge heraufgesetzt werden, hat das automatisch den gleichen Effekt. Wer investiert schon das Geld für eine weitere Führerscheinprüfung, wenn am Ende nur ein Niedriglohnjob herausspringt? Man könnte natürlich die Privatisierungen rückgängig machen und das Problem etwas dadurch verringern, dass es nur einen Zustelldienst gibt, aber danach sieht es nicht gerade aus. Das Ergebnis eines solchen Schritts wäre also schlicht eine weitere Lücke in der Logistik.
Der Anteil der 16- bis 25-Jährigen, die einen Führerschein besitzen, geht seit Jahren zurück, und das ist vielfach eine finanzielle Frage. Waren es 2010 noch 86 Prozent, waren es 2020 nur noch 79, zwei Jahre später nur noch 76 Prozent. Das bedeutet allerdings auch, dass sie für alle Tätigkeiten ausfallen, für die eine Fahrerlaubnis erforderlich wäre. Schon vor zehn Jahren war es ein Problem, dass gerade Ärmere oft keinen Führerschein hatten und damit sowohl Arbeitsstellen als auch Arbeitszeiten eingeschränkt waren. Die Tatsache, dass 2022 jeder Fünfte, also mehr als die Hälfte derjenigen, die bisher keinen Führerschein hatten, gern einen erwerben würde, ist ein Indiz für solche finanziellen Probleme.
In der gesamten Diskussion in Deutschland wird das Thema behandelt, als ginge es um eine private Vergünstigung. Ist doch nicht so schlimm, wenn Senioren eine Prüfung ablegen müssen, ob sie noch fahren können, und wenn die Gültigkeit ihrer Führerscheine begrenzt wird. Es gibt eine kleine Debatte über die möglichen Kosten, aber ohne wahrzunehmen, wie groß die Menge derjenigen in Deutschland (und anderen EU-Ländern) jetzt schon ist, die schlicht keinerlei zusätzliche Kosten mehr tragen können. Und vor allem, ohne wahrzunehmen, dass die volkswirtschaftliche Frage ganz anders aussieht.
Da ist nämlich die eigenständige Mobilität ein Faktor, der Kosten vermeidet. Sicher, in Deutschland leben viele Menschen in Großstädten. Aber in vielen Gegenden auf dem Land ist die nächste Apotheke, der nächste Arzt, die nächste Einkaufsmöglichkeit weit weg, und öffentlicher Nahverkehr so gut wie nicht existent (ganz abgesehen davon, dass man dann die Einkäufe auch noch weiter tragen können muss). Was passiert denn, wenn ein größerer Teil der Älteren den Führerschein verliert oder sich die Nachprüfung nicht leisten kann? Dann werden sie entweder nicht mehr versorgt, oder eine bezahlte Dienstleistung muss das erbringen, was diese Menschen jetzt noch selbst erledigen können. Die volkswirtschaftlichen Gesamtkosten liegen wesentlich höher als heute.
Oder der Vorschlag, Fahranfänger sollen nur noch höchstens 90 km/h fahren dürfen. Praktisch bedeutet das, sie hängen auf der Autobahn ununterbrochen zwischen den LKW fest. Und wehe, sie kommen auf die Idee, an einer Steigung überholen zu wollen. Wer es für eine gute Idee hält, Tausende von PKW mit einem Tempolimit von 90 km/h auf die Autobahnen zu schicken, hat sich noch nie damit beschäftigt, wie Staus entstehen. Auslöser dafür sind nämlich vor allem Geschwindigkeitsdifferenzen. Das heißt, wenn die von hinten kommenden Fahrzeuge eine weit höhere Geschwindigkeit haben und auf ein langsames Fahrzeug treffen, das überholt, entsteht eine Wellenbewegung, die einen spontanen Stau entstehen lassen kann. Man kann das oft bei Kleintransportern beobachten; dabei unterliegen diese Fahrzeuge bis 3,5 Tonnen keiner Geschwindigkeitsbegrenzung. Die Rückwirkung von Baustellen, bei denen die Fahrgeschwindigkeit immer abgesenkt wird, beruht auf demselben Prinzip.
Der Regelungsentwurf der Kommission will das Alter für den Erwerb des LKW-Führerscheins in bestimmten Bereichen, wie etwa bei der Feuerwehr, senken. Was allerdings nicht geändert wird, ist, dass die Führerscheine aufeinander aufbauen – ohne die Fahrerlaubnis für Personenfahrzeuge keine für Lastkraftwagen. Wenn man nun betrachtet, dass der Anteil der Jugendlichen mit der Fahrerlaubnis für PKW stetig zurückgeht, und unter sich verschlechternden wirtschaftlichen Bedingungen noch weiter zurückgehen dürfte, dann wird die Nachwuchslücke bei den LKW immer größer. Denn mindestens ein Viertel der möglichen LKW-Fahrer müsste erst den Führerschein für PKW machen.
Wer jetzt den Einwand bringt, die vermeintlich angestrebte ökologische Wirtschaft würde den Bedarf der Logistik verringern, der irrt. Denn das Wegbrechen ganzer Industriezweige dank der Energiepolitik und der Sanktionen führt nicht zu weniger, sondern zu mehr Transportaufwand, weil die Strecke, über die Vorprodukte einer Lieferkette transportiert werden müssen, wächst. Übersetzt heißt das, das Resultat könnte kein geringerer, sondern ein höherer Bedarf an Fahrern sein. Oder aber ein weiterer Ausfall von Produktion.
Es ist das Problem einer komplexen Gesellschaft, dass eben keines der Rädchen für sich allein steht und jede Veränderung Folgewirkungen hat. Weshalb die Debatte über jede Änderung, die sich auf die gesamte Infrastruktur auswirken könnte, auch eben diese berücksichtigen müsste.
Stattdessen wird fast jede gesellschaftliche Fragestellung als private behandelt. Und mehr noch – die Empörung, die der grüne Vorschlag für weitere Verschärfung ausgelöst hat, wird gar für den Vorwurf genutzt, die Empörung über die privaten Folgen drohe mit dem "Ende der demokratischen Verständigung", weil der "grüne Verbotswahnsinn" gegeißelt würde. "Wer sich empört, stellt sich moralisch über die Gegenseite, der will nicht reden, sondern konstruiert ein Feindbild."
Das Letzte ist eine zutreffende Diagnose, die man sich so einmal bezogen auf Klimaschutz und die stützenden Medien oder gar die gerade wieder dräuenden Corona-Maßnahmen wünschen würde. Die Privatisierung gesellschaftlicher Probleme, das völlige Fehlen einer Wahrnehmung von Zusammenhängen geht aber weiter. Man muss es fast schon als Fortschritt verbuchen, dass zumindest die Sache mit dem Gewicht von Elektroautos noch thematisiert wird.
Ein "künstlicher Sturm im Wasserglas" sei die momentane Empörung über die Vorschläge, meinte eine bayrische Europaabgeordnete der Grünen, schließlich sei das ganze Vorhaben erst am Anfang des parlamentarischen Prozesses. Allerdings legt die Erfahrung nahe, dass sich solche Vorhaben im Verlauf dieses Verfahrens selten verbessern.
Es kommt einem vor, als wäre der berüchtigte Satz von Maggie Thatcher, "there is no such thing as society", so etwas wie eine Gesellschaft gibt es nicht, inzwischen als feste Begrenzung des Denkens installiert. Das Ergebnis ist eine Art Domino-Experiment – an einer Stelle nach der anderen wird ausprobiert, wie viel man zum Einsturz bringen kann, wenn man eine volkswirtschaftlich unsinnige Veränderung vornimmt. Gerade bei Maßnahmen, die die ärmeren Teile der Bevölkerung treffen, tut man so, als hätte das keinerlei Konsequenzen. Oftmals haben sie sie aber doch, weil die Armen eben nicht nur arm sind, sondern auch Arbeitskräfte, Konsumenten, Kranke, Eltern... Es ist schlicht eine Illusion, dass man einen Teil der Bevölkerung ignorieren kann und dass das keine Folgen für das Gesamte hätte.
Dass die Vorschläge der EU und, mehr noch, die grüne Verschärfung Empörung auslösen, ist verständlich. Man hätte sich diese Empörung auch bei Dingen wie dem Karbonzoll gewünscht. Aber wichtiger noch wäre eine Rückkehr zu einer Sicht, die das Zusammenspiel der unterschiedlichen Faktoren in einer komplexen Gesellschaft zumindest wahrnimmt. Selbst scheinbar sekundäre Themen wie eine Reform des Führerscheinrechts lassen erkennen, dass das in der Struktur EU wohl kaum möglich sein wird.
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