Meinung

Demokratie: Wenn der Betrug nicht zieht, kommt der Putsch

Haben Wahlen schon mal etwas Entscheidendes bewirkt? Nicht zu den Lebzeiten des Autors. Doch kurze Zeit vor seiner Geburt hat die Selbstorganisation des Volkes in einem fernen Land einen Mann an die Spitze gespült, der es tatsächlich ernst meinte mit Reformen. Es gelang trotzdem nicht: Heute vor 50 Jahren zog jemand die Notbremse.
Demokratie: Wenn der Betrug nicht zieht, kommt der PutschQuelle: Sputnik © W. Keschischew

Von Anton Gentzen

Eines vorab: Die Rede ist nicht von dem Ideal einer Herrschaft des Volkes, das sich selbst ‒ über Referenden oder gewählte Vertreter ‒ regiert. Die Rede ist von der Realität des politischen Systems im Kapitalismus, wo ein Armer eben nicht dasselbe Gewicht hat wie ein Superreicher.

Ein Superreicher ist mit seinen Hunderten von Milliarden Euro oder Dollar in der Lage, Presse und Medien, Polittechnologen und Politiker zu kaufen, die dem Volk das Hirn waschen und es mit immer neuen Einfällen in die gewünschte Richtung treiben. Die Normalbürger sind auf Stimmabgabe ein Mal in vier oder fünf Jahren beschränkt und müssen dabei aufgrund von manipulierten Informationen aus einem sehr eingeschränkten Angebot wählen. Egal, wen und was sie wählen, den Kurs bestimmen die Superreichen.

Genau das müssen aktuell die Millionen Ukrainer erleben, die vor vier Jahren den Kurs in EU und NATO, Russophobie, Nationalismus und Krieg abgewählt hatten, und dennoch wieder das bekamen, was sie abwählten.

Erinnern wir uns: Von Mai 2014 bis Mai 2019 war Petro Poroschenko Präsident der Ukraine. Er wurde in nicht gerade freien Wahlen mit einem Friedensversprechen gewählt, eskalierte jedoch sofort nach Amtseinführung den Krieg im Donbass, sabotierte anschließend die Minsker Verträge und begann gegen Ende seiner Amtszeit Russisch aus Schulen und dem öffentlichen Leben zu vertreiben. Immerhin hielt er das Land fest auf westlichem Kurs, unterzeichnete das Assoziierungsabkommen mit der EU und erstritt sogar Visumfreiheit für die Ukrainer. Wenn einfache Ukrainer so sehr in die EU und NATO streben würden, wie es uns die westliche Propaganda suggeriert, hätten sie Poroschenko für eine zweite Amtszeit wiederwählen müssen.

Doch Poroschenko bekam bei den Wahlen 2019 eine deutliche Abfuhr. 73 Prozent der ukrainischen Wähler stimmten im zweiten Wahlgang nicht so sehr für Selenskij wie gegen Poroschenko. Sie entschieden sich für einen russischsprachigen Juden mit Geschäftsinteressen in Russland, dessen Sendungen bis dahin ausschließlich auf Russisch liefen und der im Wahlkampf versprach, um des Friedens willen mit dem Teufel selbst zu verhandeln.

Wie sonst kann dieses deutliche Votum verstanden werden als die Abwahl des prowestlichen, antirussischen Nationalismus und vor allem ein Auftrag, den Krieg im Donbass und die Konfrontation mit Russland zu beenden?

Doch nichts von dem Versprochenen hat Selenskij erfüllt, im Gegenteil: Er verschärfte den nationalistischen Kurs des abgewählten Vorgängers, intensivierte den Krieg gegen den Donbass noch mehr, sabotierte die Umsetzung der Minsker Verträge und verbot nacheinander alle oppositionellen Medien und Oppositionsparteien des Antimaidan-Spektrums. Die unter Poroschenko erlassenen Gesetze gegen die russische Sprache blieben unangetastet, russische Schulen blieben verboten und Repressionen gegen Russischsprachige wurden verschärft.

Statt des versprochenen Friedenskurses ließ Selenskij die NATO ins Land, rüstete massiv auf und drohte Russland sogar mit Atomwaffen. Im Februar 2022 reagierte Moskau darauf, und das Blut eines jeden seitdem getöteten Ukrainers klebt an Selenskijs Händen. 

Wie konnte es dazu kommen, dass die Wähler das genaue Gegenteil dessen bekamen, wofür sie stimmten?

Nun, das ukrainische Beispiel ist nur der neueste, bei weitem aber nicht der einzige Beweis dafür, dass Demokratie unter kapitalistischen Bedingungen nicht funktioniert. Es gibt unzählige propagandistische und polittechnologische Instrumente, mit denen die echten Machthaber ‒ in der Ukraine wie anderswo sind es Oligarchen ‒ das Denken und das Wahlverhalten des Stimmvolkes lenken, und immer neue werden laufend erfunden. Es gelingt immer wieder, dem Volk hübsch aufgemotzte Schauspieler vorzusetzen, die ihm vor der Wahl nach dem Maul reden. Nach der Wahl weichen diese Demagogen jedoch keinen Grad von dem von den Hintermännern vorbestimmten Kurs ab.

Man könnte es Pseudodemokratie nennen, in Wahrheit ist es eine geschickt getarnte Diktatur. Die Tarnung ist nötig, damit die Widerstände nicht zu groß werden. Direkte Gewalt ist mit mehr Kraftaufwand verbunden als Betrug ‒ der Betrüger hat ein leichteres Leben als ein Räuber oder ein Geiselnehmer.

Er muss nur immer weiter betrügen. Das Kalkül der wirklichen Machthaber besteht darin, dass wir in unserer Masse immer wieder und immer weiter auf ihre polittechnologischen Tricks hereinfallen, dass wir weiter für jeden Selenskij stimmen, den sie uns vorsetzen. 

Doch was, wenn es eines Tages schiefläuft? Was, wenn das Volk seinen wahren Feind erkennt, den Fernseher abschaltet, sich selbst organisiert und seine echten Vertreter nach oben führt? Oder wenn die sorgfältig ausgewählten Schauspieler rebellieren und mehr der Geschichte denn ihren Strippenziehern gegenüber Verantwortung spüren?

Auch darauf hat die Oligarchie eine Antwort: Das Spektakel der Pseudodemokratie wird, wenn es wirklich ans Eingemachte geht, sofort abgeblasen und das Publikum mit Gewehren aus dem Saal getrieben.

Wie in Chile vor 50 Jahren.

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