Moldawien erlässt sich selbst Schulden für Russlands Erdgas – lässt Moskau sich das lange gefallen?
Von Geworg Mirsajan
Moldawien hat Schulden erlassen. Also, seine eigenen Schulden gegenüber Gazprom. Darüber unterrichtete die Präsidentin Moldawiens Maia Sandu, hier zitiert von der russischsprachigen moldawischen Wedomosti:
"Noch ist das dem breiten Publikum unbekannt, aber in der kommenden Woche wird unsere Regierung erklären, dass wir eine internationale Gesellschaft mit der Wirtschaftsprüfung beauftragt haben, bei der keinerlei Schulden unsererseits gegenüber Gazprom in Höhe von etwa 800 Millionen US-Dollar festgestellt wurden. Man wollte uns im Jahre 2021 betrügen."
Um Sandus Flegelei-Niveaus jenseits von Gut und Böse gewahr zu werden, muss man sich nochmals vor Augen führen, was genau sich im besagten Jahr 2021 ereignete. Damals kam es zu einer Streitigkeit zwischen Russland und Moldawien. Es ging um Erdgas. Der Vertrag über die Lieferung von Erdgas an Chișinău stand vor dem Ende seiner Laufzeit. Dies war kurz vor der Wintersaison; und Gazprom weigerte sich, einen neuen Vertrag abzuschließen, bevor Moldawien seine Schulden aus dem alten, auslaufenden getilgt hätte. Diese Schulden betrugen in etwa 750 Millionen US-Dollar. Allerdings weigerte sich Moldawien partout, diese Verbindlichkeiten zu begleichen, weil ihm schlicht das Geld fehlte. Ohne das Gas aus Russland wäre die Bevölkerung jedoch im Winter erfroren.
Russlands Führung hatte Mitleid mit dem moldawischen Volk und ging schließlich einen Kompromiss ein. Beschlossen wurde ein neuer Vertrag, und die Schulden gemäß dem auslaufenden wurden Gegenstand einer Wirtschaftsprüfung, die Mitte 2022 abgeschlossen sein sollte.
Das offizielle Moskau ebenso wie Gazprom scheinen sich der bombenfesten Stichhaltigkeit ihrer Argumente sicher gewesen zu sein: An der Hand hatten sie alle Kostenvoranschläge, Rechnungen und Dokumente, und da ginge normalerweise ein jeder Wirtschaftsprüfer mit ihnen in der Sache d'accord, dass 2 plus 2 gleich 4 sind. Man hatte Belege dafür, dass an Moldawien ein bestimmtes Volumen an Erdgas geliefert wurde, die dafür überwiesenen Summen jedoch nicht alle Lieferungen deckten. Doch die Verantwortlichen auf russischer Seite hatten allem Anschein nach vergessen, dass man es mit Schwindlern zu tun hatte.
Und dass sich seinerzeit die Mediatoren am Stockholmer Schiedsgericht einfach auf der Grundlage, dass die Ukraine sich "in einer komplizierten wirtschaftlichen Lage befindet" weigern würden, jegliche dokumentarisch festgehaltenen Schulden – damals ging es eben noch um Schulden Kiews – anzuerkennen, ließ man in Moskau wohl auch außer Acht. Ebenso wenig wie man sich daran erinnerte, dass jene Schulden zum Erstaunen aller Spezialisten einschließlich einer ganzen Reihe ukrainischer Experten, die lediglich mit einer Minderung der Schuldensumme gerechnet hatten, gleich im Ganzen abgeschrieben wurden.
Allen Indizien nach wurde in etwa das gleiche Szenario auch jetzt umgesetzt. Chișinău beauftragte mit der Prüfung seiner Schulden Auditingfirmen aus Großbritannien und Norwegen – beides Firmen, die im Vertrag mit Gazprom nicht vorgesehen waren. Und diese beiden Firmen haben, so sagte es Sandu, Chișinău die Schulden abgeschrieben.
Das "Niveau" der Flegelei ist natürlich ein schier maßloses. Doch gleichzeitig ist dies auch maximal zynisch und pragmatisch: Chișinău befindet (nein, es glaubt nicht, sondern es befindet aufrichtig!), dass es sich solche Flegelei leisten kann.
Erstens hat Moldawien so oder so kein Geld zum Begleichen dieser Schulden. Geld fehlte im Jahr 2021, es fehlt im Jahr 2023, und es wird auch im Jahr 2025 gänzlich fehlen. Moldawiens weise proeuropäische Führung hält das Land im Status des ärmsten Lands in Europa.
Zweitens folgt Sandu dem Fahrwasser allgemeinwestlicher Trends. Nach Beginn von Russlands militärischer Spezialoperation in der Ukraine froren nordamerikanische und europäische Staaten russische Konten und Aktiva ein, und dortige Konzerne weigerten sich, ihre vertraglichen Pflichten gegenüber Moskau zu erfüllen. Da hat das offizielle Chișinău eben beschlossen, es ihnen gleichzutun.
Wohl wahr, es würde ja scheinen, dass ein hier als Vergleichsbeispiel angenommenes Deutschland einerseits und Moldawien andererseits nicht einmal Jupiter und der Stier sind, sondern gar Cthulhu und ein Chihuahua, und dass Moldawien kaum verziehen würde, was man sich im Zweifel etwa von Deutschland noch gefallen ließe. Doch auch hier kalkulierte Sandu alles genau ein: Sie verstand nicht zuletzt, dass die Möglichkeiten Gazproms einzeln genommen und jene Russlands im Ganzen, hierauf zu antworten, ziemlich eingeschränkt sind.
Viele russische Experten rufen jetzt dazu auf, als Reaktion auf die moldawische Flegelei Chișinău einfach das Gas abzudrehen. Doch da ist gleichsam der Wurm drin. Seit Dezember 2022 bekommt Moldawien für den eigenen Gebrauch kein russisches Erdgas unmittelbar aus Russland geliefert. Stattdessen wird das gesamte Erdgas aus Russland, das Moskau oder Gazprom abdrehen könnten, an das de facto unabhängige Transnistrien geleitet. Moldawien selbst verfeuert Gas vom moldawischen Konzern Energocom, das über graue Schemen zum Wucherpreis in Europa und unter Bestechung der örtlichen Eliten eingekauft wird. Ganz nach demselben Schema eben, wie auch die Ukraine dies seinerzeit anstellte. Klar, das ist schon dasselbe russische Gas – nur den Hahn zudrehen kann Moskau dafür nicht, weil es dieses Gas eben nicht unmittelbar an Chișinău liefert. Und Transnistrien das Gas abdrehen? Transnistrien, dessen Hunderttausende Bürger auch Bürger Russlands sind, wird natürlich niemand in Moskau das Erdgas entziehen wollen.
Gut, eine mögliche Antwort an Chișinău wäre natürlich, Transnistrien davon zu überzeugen, Moldawien keine Elektrizität mehr zu liefern, die Transnistrien auch mithilfe des russischen Erdgases erzeugt. Ganz asymmetrisch.
Chișinău stünde dann wahrhaftig vor einem Problem, weil die Stromleitungen aus Rumänien nach Moldawien nicht vor dem Jahr 2025 betriebsbereit sein werden. Doch auch ein solcher Schritt ist riskant. Sandu wird dann von einer Bedrohung für die nationale Sicherheit sprechen können, und das würde ihr die Begründung liefern, eine militärische Operation zur Wiederherstellung der Verfassungsordnung in Transnistrien zu organisieren. Solch eine Operation läuft nur deswegen noch nicht, weil der Großteil der moldawischen politischen Elite für einen solchen Krieg keine Begründung sieht, die das offensichtliche Risiko von Kalibr-Einschlägen im Stadtzentrum von Chișinău rechtfertigen würde. Doch ein Leben ohne Strom und Licht kann die Menschen davon überzeugen, ein solches Risiko einzugehen.
Vor allem, zumal sie ja nicht selber in den Krieg ziehen müssten: Kiew wartet doch nur auf eine Möglichkeit, an der russischen Bevölkerung in Transnistrien Genozid zu verüben und so Moskau zu zwingen, militärisch irgendwie zu diesem Territorium durchzubrechen. Das Letztgenannte wiederum ist für Russland ohne eine vorherige Operation zur Befreiung Odessas und des Gebiets Odessa oder wenigstens einen Einmarsch dort unmöglich – und für eine solche Operation wurden bislang keine Grundlagen geschaffen.
Gerade darum müssen sowohl Gazprom als auch Russland entweder irgendwelche vor- und umsichtigen Reaktionspläne ausarbeiten wie etwa zur Konfiszierung moldawischen Eigentums. Natürlich nur, falls man welches in Russland findet. Oder man muss sich mit Gerichtsverfahren gegen Chișinău zufriedengeben. Vorerst. Jedenfalls so lange, bis Russland Odessa befreit und sich einen Landzugang zu Transnistrien sichert. Danach wird Moskau Sandu alle Rechnungen auf einen Schlag vorlegen. Für Erdgas – und für alles andere auch.
Übersetzt aus dem Russischen.
Geworg Mirsajan ist außerordentlicher Professor an der Finanzuniversität der Regierung der Russischen Föderation, Politikwissenschaftler und eine Persönlichkeit des öffentlichen Lebens. Geboren wurde er 1984 in Taschkent. Er machte seinen Abschluss an der Staatlichen Universität in Kuban und promovierte in Politikwissenschaft mit dem Schwerpunkt USA. Er war von 2005 bis 2016 Forscher am Institut für die Vereinigten Staaten und Kanada an der Russischen Akademie der Wissenschaften.
Mehr zum Thema – Deutet ein hartes Vorgehen gegen die NATO-Opposition in Moldawien auf einen neuen Konflikt hin?
RT DE bemüht sich um ein breites Meinungsspektrum. Gastbeiträge und Meinungsartikel müssen nicht die Sichtweise der Redaktion widerspiegeln.
Durch die Sperrung von RT zielt die EU darauf ab, eine kritische, nicht prowestliche Informationsquelle zum Schweigen zu bringen. Und dies nicht nur hinsichtlich des Ukraine-Kriegs. Der Zugang zu unserer Website wurde erschwert, mehrere Soziale Medien haben unsere Accounts blockiert. Es liegt nun an uns allen, ob in Deutschland und der EU auch weiterhin ein Journalismus jenseits der Mainstream-Narrative betrieben werden kann. Wenn Euch unsere Artikel gefallen, teilt sie gern überall, wo Ihr aktiv seid. Das ist möglich, denn die EU hat weder unsere Arbeit noch das Lesen und Teilen unserer Artikel verboten. Anmerkung: Allerdings hat Österreich mit der Änderung des "Audiovisuellen Mediendienst-Gesetzes" am 13. April diesbezüglich eine Änderung eingeführt, die möglicherweise auch Privatpersonen betrifft. Deswegen bitten wir Euch bis zur Klärung des Sachverhalts, in Österreich unsere Beiträge vorerst nicht in den Sozialen Medien zu teilen.
Am 24. Februar kündigte der russische Präsident Wladimir Putin an, gemeinsam mit den Streitkräften der Donbass-Republiken eine militärische Spezialoperation in der Ukraine zu starten, um die dortige Bevölkerung zu schützen. Die Ziele seien, die Ukraine zu entmilitarisieren und zu entnazifizieren. Die Ukraine spricht von einem Angriffskrieg. Noch am selben Tag rief der ukrainische Präsident Wladimir Selenskij im ganzen Land den Kriegszustand aus.
Der Westen verurteilte den Angriff, reagierte mit neuen Waffenlieferungen, versprach Hilfe beim Wiederaufbau und verhängte Sanktionen gegen Russland.
Auf beiden Seiten des Konfliktes sind zahlreiche Soldaten und Zivilisten getötet worden. Moskau und Kiew haben sich gegenseitig verschiedener Kriegsverbrechen beschuldigt. Tausende Ukrainer sind mittlerweile aus ihrer Heimat geflohen.