Nikolai und der Blutzoll, den Deutschland fordert
Von Gert Ewen Ungar
Ich habe mich heute über einen Messengerdienst mit einem Bekannten unterhalten, den ich im vergangenen Jahr erst kennengelernt hatte. Ein Freund aus Russland fragte damals bei mir an, ob ich nicht jemandem aus der Ukraine Hilfestellung geben und vielleicht ein paar Nächte Unterschlupf gewähren könnte. Ich sagte zu.
So lernte ich Nikolai kennen. Nikolai stammt ursprünglich aus Donezk und hat dann viele Jahre in Odessa gewohnt. Er fühlt sich als Ukrainer obwohl er nur Russisch spricht. Er entschloss sich nach Ausbruch des Krieges zur Flucht nach Deutschland. Wir sprachen damals nicht offen darüber, aber es war klar: Nikolai hat sich dem Wehrdienst in der Ukraine entzogen. Er kam seiner Einberufung zuvor und floh ins Ausland. Er wollte in Deutschland Fuß fassen, in Berlin, um genauer zu sein. Da funktionierte allerdings nichts, wie das in Berlin nun mal so Standard ist. So zog er weiter in ein anderes Land der EU, fand dort Wohnung und Arbeit.
In diesen Zeiten biete ich Nikolai erneut Unterschlupf für ein paar Tage an, dieses Mal allerdings in Russland. Die Ukraine fordert von der EU die Auslieferung von Männern wie Nikolai, die sich dem Militärdienst entzogen haben. Laut Medienberichten kommen erste Länder der Aufforderung nach. Polen scheint auszuliefern.
Heute meldete der russische Verteidigungsminister Schoigu, dass die Ukraine seit Beginn der Gegenoffensive am 4. Juni über 66.000 Mann verloren habe. In Deutschland wird man diese Zahl schon allein deshalb in Zweifel ziehen, weil sie aus Russland stammt. Allerdings stimmen auch westliche Beobachter des Konflikts darin überein, dass die Verluste der Ukraine enorm sind. Für diese enormen Verluste spricht zudem die Tatsache, dass die Ukraine sich offen darum bemüht, auch auf jene Männer zurückzugreifen, die schwer erreichbar sind, Männer wie Nikolai. Dafür spricht auch, dass die Ukraine die Kriterien für die Einberufung ausgeweitet hat. Einberufen werden Männer nahezu aller Altersgruppen, sogar mit chronischen Erkrankungen. Selbst eine Infektion mit Hepatitis C oder HIV ist kein Ausschlusskriterium mehr.
Anhand dieser tristen Fakten wird ersichtlich, wie verfehlt die Ukraine-Politik der westlichen Länder, der EU und Deutschlands ist. In Deutschland dominiert derzeit die Frage um die Lieferung von Mittelstreckenraketen vom Typ Taurus die öffentliche Diskussion. Die Raketen werden – ähnlich wie damals die Kampfpanzer des Typs Leopard – als Gamechanger angepriesen, die sie ebenso wenig sein werden, wie es der Leopard war. Sie eskalieren den Konflikt, sie verlängern ihn, werden aber nicht dazu beitragen, dass die Ukraine diesen gewinnt, denn es fehlt ihr schlicht an Soldaten. Auch wenn es das moralische Empfinden deutscher Politiker und der Macher des Mainstreams stört, die Ukraine kann den Krieg nicht gewinnen – weder mit Leopard noch mit Taurus noch mit irgendeiner anderen deutschen Wunderwaffe. Jeder weitere Tag bedeutet absolut sinnloses Blutvergießen.
In einem Interview mit der Times berichten ukrainische Soldaten über ihre Bereitschaft zu sterben. Es ist kein heroischer Narzissmus, den sie dort zur Schau stellen, es ist der blanke Fatalismus. Die Männer haben sich in ihr Schicksal ergeben. Die ukrainischen Soldaten wissen, dass sie verheizt werden, sie wissen auch, wer dafür die Verantwortung trägt.
Es ist die 47. Mechanisierte Brigade, die von der Times interviewt wurde. Sie wurden in Deutschland am Leopard Kampfpanzer ausgebildet, sie wurden als die Retter der Demokratie und der ukrainischen Souveränität in den Himmel gejubelt und schlugen brutal in der Realität des Schlachtfeldes auf. Sie wissen, dass 90 Prozent von ihnen sterben werden – für ein Ereignis, das längst verloren ist, weil das Ereignis ihnen eben keine Überlebenschance lässt. Das ist die Realität des Krieges, vor der man in Deutschland noch immer die Augen verschließt und sich stattdessen in moralischer Hybris übt.
Die deutschen Medien suggerieren ihren Zuschauern, dass die Ukraine relevante Geländegewinne machen würde. Das ist nicht der Fall. Die Gewinne sind minimal, der Blutzoll, den diese PR-Erfolge fordern, ist immens hoch. Die Ukraine wird verheizt. Eine andere Deutung des Geschehens ist nicht mehr möglich. Auf dem Schlachtfeld im Donbass zeigt sich, zu welchem Zynismus der Westen, zu welcher Menschenverachtung deutsche Politik fähig ist. Es ist von tiefer Unmoral, was Deutschland tut.
Die Frage lautet nicht, ob Deutschland Marschflugkörper liefern soll oder nicht, die der Situation einzig angemessene Frage lautet, wie man so schnell wie möglich aus der Logik des Krieges und der Eskalation wieder herauskommt, denn die Konsequenzen werden auch für Deutschland immer deutlicher absehbar katastrophal. Mit der Absage an Verhandlungen und dem Willen, der Ukraine zu einem Sieg über Russland zu verhelfen, den die Ukraine nicht erringen kann, trägt Deutschland die Mitverantwortung für das Schlachten im Donbass. Die kompromisslose Haltung Deutschlands, was Verhandlungen und die Suche nach einer diplomatischen Lösung angeht, wird bezüglich der Frage, wer für die hohen Verluste der Ukraine die Verantwortung trägt, zukünftig eine Rolle spielen.
Absehbar ist, dass Deutschland dann nicht in der Rolle des Hegemons sein wird, der an kein Gesetz gebunden ist. Die deutsche Außenministerin wird nicht damit davonkommen – wie ihr großes Vorbild Madeleine Albright, in einem Fernsehinterview in die Ecke gedrängt – einfach zu behaupten, dass der hunderttausendfache Tod ukrainischer Männer den Preis wert war, und das war ’s.
Deutschland wird schon aufgrund seiner Geschichte in besonderer Weise zur Rechenschaft gezogen. Das Land trägt die Verantwortung für den Ersten und den Zweiten Weltkrieg. Mit seiner Ukraine-Politik trägt Deutschland zur Entstehung des Konflikts bei, eskaliert und verlängert ihn und bürdet dabei alle Kosten der Ukraine auf. Die Ukraine bezahlt in Blut und mit der Zerstörung ihres Landes auch für den Willen Deutschlands, die Ukraine möge einen Sieg über Russland erringen.
Das ist die Geschichte, die man nach dem Ende des Konflikts über Deutschland erzählen wird. Wenig rühmlich und ganz ähnlich wie nach 1918 und 1945. Man sollte sich in Deutschland darauf einstellen. Ich persönlich hoffe sehr, dass Nikolai nicht Opfer dieser deutschen Politik wird und er sich wieder rechtzeitig entzieht. Meine Tür steht ihm offen, habe ich ihm heute gesagt.
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