Meinung

Tod und Teufel: Prigoschin, Aiwanger und die Unschuldsvermutung

Prigoschin ist tot, davon muss man wohl inzwischen ausgehen. Aiwangers Bruder hat vor 35 Jahren ein Flugblatt verfasst, auch das ist anzunehmen. Richtig sicher ist nicht einmal das, aber die Urteile sind längst gefällt.
Tod und Teufel: Prigoschin, Aiwanger und die UnschuldsvermutungQuelle: www.globallookpress.com © Alexander Pohl/Keystone Press Agency

Von Tom J. Wellbrock

Kürzlich saß ich mit zwei guten Freunden zusammen. Unsere Freundschaft hat die letzten Jahre unbeschadet überstanden, auch wenn wir wahrlich nicht immer einer Meinung waren, im Gegenteil. Bei dem Gespräch kürzlich unterhielten wir uns zwischenzeitlich über den Tod von Prigoschin. Während einer von uns recht sicher war, dass dieser Tod auf Putins Konto geht, gab es auch andere Interpretationen. Sicher, Putin hatte gesagt, Verrat sei für ihn unverzeihlich, und der missratene Marsch Prigoschins auf Moskau kann als Verrat bezeichnet werden. Ob es automatisch ein Todesurteil bedeutet, wenn etwas "unverzeihlich" ist, sei dahingestellt, aber eine Option ist es definitiv.

Auf den Tisch kam auch das Argument, dass die USA gern die Franzosen aus Afrika raushätten. Ganz sicher gefallen den Amerikanern aber auch die russischen Aktivitäten in Afrika nicht. Und da kommt erneut Prigoschin ins Spiel. Ihn auszuschalten, könnte die Möglichkeiten der US-amerikanischen Einflussnahme in Afrika erhöhen. Wir sprachen auch über einen inszenierten Tod (das scheint nach allem, was inzwischen bekannt ist, kein Thema mehr zu sein), sogar einen im wahrsten Sinne des Wortes sterbenslangweiliger Unfall konnten wir in unserem Gespräch nicht ausschließen.

Kurzum: Wir taten das, was man tut, wenn man nicht genug weiß und unbedingt über ein Thema sprechen will, von dem man weiß, dass man nicht viel weiß: Wir spekulierten.

Flugzeug in den Tod

Annalena Baerbock – offiziell Deutschlands Außenministerin, inoffiziell die wandelnde Ahnungslosigkeit –, die irgendwas mit Völkerrecht zu tun hat, von dem niemand weiß, was genau das sein könnte, legte sich schnell fest: Putin war's, er hat Prigoschin umgebracht, muss so sein. Unzählige andere Politiker taten es ihr nach, die "Qualitätsmedien" hatten auch keine andere Erklärung parat als die, dass Putin es war (was übrigens nicht nur für unseriösen Journalismus, sondern auch für eine blutleere Fantasie spricht).

Wenn man sich unterschiedliche Szenarien anschaut, kann man tatsächlich zu dem Schluss kommen, dass Putins persönliche Schmerzgrenze mit Prigoschin erreicht war. Man kann aber auch auf zahlreiche andere Variationen kommen, wie etwa die einer Täterschaft der Amerikaner. Man könnte auch fragen, ob es so clever gewesen wäre, den bekanntesten Söldner der Welt ausgerechnet über Russland in die erbarmungslose Gesetzmäßigkeit der Gravitation zu zwingen. Was für Vorteile – außer der persönlichen Genugtuung – hätte Prigoschins Tod für Putin? Klar, all jene, die sowieso der Meinung sind, Putin sei ein emotionaler Autokrat, der nur durch seine Urinstinkte getrieben ist, können zu keiner anderen Täterschaft als der Putins kommen. Man könnte aber auch die Gegenfrage stellen, wie es um die journalistische Kompetenz bestellt ist. Denn zu ignorieren, dass Russlands Präsident ein pragmatischer, kühl entscheidender Mann ist, grenzt an eine ausgeprägte intellektuelle Verweigerungshaltung, die wir allerdings hierzulande tatsächlich häufig antreffen.

Der eigentliche Punkt ist der, dass zum jetzigen Zeitpunkt nicht (und womöglich niemals) herauskommen wird, wie Prigoschin tatsächlich zu Tode kam. Und damit kommen wir einmal mehr zum zweiten wichtigen Punkt: der Unschuldsvermutung.

Sie wurde getötet, ausradiert, eliminiert, schon das Wort findet nicht mehr statt. Vielmehr wird jedes Ereignis eingeordnet, bevor auch nur ansatzweise Aspekte bekanntgeworden sind, die wichtig wären, um eine solche Einordnung vorzunehmen. Die Motivation dahinter ist denkbar schlicht, jedes Ereignis wird für die politische Propaganda benutzt, die tatsächlichen Hintergründe sind uninteressant.

Das ist der Zweck von Propaganda. Sie in einem Satz mit dem Wort "Wahrheit" zu nennen, ist ein politisches Verbrechen, eine infantile Albernheit, eine leicht zu durchschauende Dummheit. Propaganda zeichnet sich eben nicht durch Klugheit aus, sondern durch Effizienz. Wohl auch deshalb zeigt sich unsere Außenministerin so begabt auf diesem Gebiet.

Der Vorwurf muss weiten Teilen der Bevölkerung gemacht werden, die einfach mitmachen, die meist noch weniger wissen als die Dummköpfe aus Politik und Medien, deren Job die propagandistische Effizienz ist. Man muss, so scheint es, den Menschen das Wort "Unschuldsvermutung" sinnbildlich offenbar mit einem Hammer direkt in die Gehirngänge rammen, in der Hoffnung, dass die Erkenntnis an der richtigen Stelle landet und dort ihre Aufgabe verrichten kann.

35 Jahre unbemerkt: Nazi Aiwanger

Apropos Unschuldsvermutung – wir müssen über Hubert Aiwanger sprechen, dem nach 35 Jahren zur Last gelegt wird, ein Flugblatt geschrieben, verteilt oder gemocht zu haben; der vielleicht auch nur seine Schreibmaschine zur Verfügung gestellt hat, um das Grauen in Worte zu fassen.

Auch hier könnte man zahlreiche Fragen stellen, die der Autor sich erspart, weil es um die Unschuldsvermutung geht. Von dieser ist erst einmal auszugehen. Aber Pustekuchen, wieder kommen Medien und Politik aus ihren Löchern gekrochen und fordern den Rücktritt Aiwangers. Wenn es sich denn als wahr herausstellen sollte, beeilen sich einige, hinterherzuschieben. Aber es ist klar, dass es nicht um das Flugblatt geht (auf das ich gleich noch zu sprechen komme). Sondern um einen aussichtsreichen Kandidaten der "Freien Wähler", der schon in Sachen Impfung nicht gut ankam und auch sonst immer wieder durch un-woken Kram auffällt, der auch noch auf Gegenliebe vieler Wähler stößt. Da wäre die Unschuldsvermutung nun wirklich unangebracht, würde sie doch keinerlei potenziellen Wahlerfolg bringen.

Der Autor dieses Textes äußert sich bewusst nicht zu den Vorwürfen, sondern möchte als Anregung einen Satz des Flugblattes zitieren, das Aiwanger nun zum Todesstoß gereicht werden soll:

"BEWERBER: Melden sich im Konzentrationslager Dachau zu einem Vorstellungsgespräch."

Das Flugblatt war ein Wettbewerb um den "größten Vaterlandsverräter", hier ein Screenshot:

Abgesehen davon, dass Aiwanger (oder wer auch immer der Verfasser dieser Zeilen war) zum Zeitpunkt der Veröffentlichung 17 Jahre alt war (was per se gegen rationales oder gar vernünftiges Verhalten spricht, es sei denn, man wurde vorher mit Pubertätsblockern auf Linie gebracht, dann wäre es vielleicht möglich, damals jedoch meines Wissens keine Option), fällt noch etwas anderes auf: Den "größten Vaterlandsverräter" erwarten "Preise" wie den Rutsch in einem Schornstein in Auschwitz, einen kostenlosen Genickschuss und einen Aufenthalt in den Ewigen Jagdgründen.

Man kann durchaus auch vom Gegenteil dessen ausgehen, was behauptet wird. Also nicht etwa von Antisemitismus und/oder Nazismus, sondern von einer bösen Satire, die sich an alle Nazis – in diesem Fall: Vaterlandsverräter – wendet. Denjenigen unter ihnen, die sich tatsächlich im Konzentrationslager bewerben, wünscht man sich heftige Strafen – getarnt als "Preise" eines "Wettbewerbs".

Hier soll nicht behauptet werden, dass die bitterböse satirische Interpretation des Flugblattes der damaligen Intention des oder der Verfasser entspricht. Es soll lediglich darauf hingewiesen werden, dass eine solche Interpretation eine Möglichkeit wäre. Wäre dem so, müsste Aiwanger (oder sein Bruder, oder wer auch immer diese Zeilen letztlich verfasst hat) eher als Held gefeiert werden, der sogar noch im Jahr 1988 als Widerstandskämpfer in Erscheinung trat.

Noch eine Bemerkung zur allgemeinen Empörung und der Forderung nach Aiwangers Rücktritt: Wir sprechen hier über das Jahr 1988, und wir sprechen über die politische Landschaft des Jahres 2023. Es liegt also eine nicht ganz unwesentliche Zeitspanne zwischen beiden Ereignissen. Nun sei das laute Denken gestattet, das sich um die Frage dreht, wie viele "verdiente" Nazis zu Beginn der Bundesrepublik Deutschland nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges in Amt und Würden gehoben wurden, um an einem freiheitlichen und demokratischen Deutschland mitzuwirken. Es waren eine ganze Menge, so viel ist mal sicher.

Und in welchem zahlenmäßigen Verhältnis mögen die waschechten ukrainischen Faschisten und Nazis wohl zu dem der sie unterstützenden deutschen Politiker stehen?

Man kann in diesem Themenfeld sicher eine Menge interessanter Fragen stellen.

Tom J. Wellbrock ist Journalist, Sprecher, Texter, Podcaster, Moderator und Mitherausgeber des Blogs neulandrebellen.

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