"Genie-Visa": Wie der Westen versucht, russische Nachwuchstalente anzuwerben
Von Dora Werner
Nach dem Beginn der russischen Militäroperation in der Ukraine ‒ oder genauer gesagt, einige Monate später, als klar wurde, dass die harten Sanktionen nicht wie erhofft wirken und Russland nicht so schnell besiegt werden kann ‒ wurden die meisten liberalen russischen Medien mit der gleichen Art von Veröffentlichungen überschwemmt. Sie waren fast wie aus einem Guss geschrieben und brachten eine einfache Idee auf den Punkt: Die westlichen Länder ‒ vor allem die USA, Großbritannien und Frankreich ‒ seien sehr an russischen Fachkräften interessiert und nun bereit, viel aktiver als je zuvor sogenannte "Talentvisa" auszustellen. Dem Leser wurde erklärt, welche Arten von Visa Russen beantragen können, und er erhielt detaillierte Anweisungen, wie dies zu tun ist. Es sah alles nach einer gezielten Kampagne aus, die darauf abzielte, das intellektuelle Kapital aus dem Land zu schaffen, so wie die ausländischen Unternehmen das finanzielle Kapital aussaugen wollten.
Und Ende April des Jahres 2022 verbreitete die US-Nachrichtenagentur Bloomberg folgende Meldung: Die Regierung von US-Präsident Joe Biden plant angeblich, hochqualifizierte russische Fachkräfte ins Land zu locken. Zu diesem Zweck sollen bestimmte Visabestimmungen in den Vereinigten Staaten aufgehoben werden, so die Agentur unter Berufung auf mit dieser Strategie vertraute Quellen.
Konkret ging es um Folgendes: Das Weiße Haus schlug dem US-Kongress vor, die Regel abzuschaffen, dass russische Spezialisten, die ein Arbeitsvisum beantragen, einen Arbeitgeber in den Vereinigten Staaten vorweisen müssen. Es soll nun "die Umsiedlung der besten russischen Spezialisten mit Erfahrung in den Bereichen Halbleiter, Raumfahrttechnologie, Cybersicherheit, fortgeschrittene Produktionsverfahren, fortgeschrittene Computertechnik, Nukleartechnik, künstliche Intelligenz, Raketentriebwerkstechnologie und anderen wissenschaftlichen Spezialgebieten in die Vereinigten Staaten erleichtern". Laut Bloomberg, das einen Beamten des Nationalen Sicherheitsrates zitierte, könnte dies Russlands Hightech-Ressourcen und Innovationsbasis schwächen und wäre für die US-Wirtschaft und ihre nationale Sicherheit sehr vorteilhaft.
Die regierungsnahe chinesische Zeitung Global Times machte auf diesen Bericht aufmerksam ‒ ihre Autoren erklärten damals, dass die USA versuchten, "Wladimir Putin durch Visa-Köder seine besten Wissenschaftler zu entziehen". Damals fragte sich die chinesische Zeitung, ob diese Strategie, die von den USA schon zu Zeiten der UdSSR ausprobiert wurde, wohl wieder funktionieren würde. Schließlich kamen die Autoren der Zeitung zu dem Schluss, dass Washington möglicherweise sowohl den Patriotismus der Russen als auch die Vergeltungspolitik Russlands unterschätzt, wodurch die Ideen der USA uninteressant gemacht werden könnten.
Und obwohl die chinesischen Journalisten in mancher Hinsicht Recht hatten ‒ der Zustrom russischer Fachkräfte in den Westen ist im Vergleich zu den Zeiten der Perestroika immer noch recht gering, und viele lehnen einen Umzug ins Ausland wegen des fast gleichen Gehaltsniveaus ab, so die Zeitung Iswestija – haben westliche Anwerber russischer Talente trotzdem einen gewissen Erfolg.
Nach Angaben des US-Außenministeriums erhielten russische Fachkräfte im Jahr 2022 doppelt so viele O-1-Dokumente (Visatypen) wie im Jahr zuvor, berichtet nun die Zeitung Kommersant. Im Vereinigten Königreich wurden nach Angaben des dortigen Innenministeriums im gleichen Zeitraum 5,5 Mal häufiger Global-Talent-Visa ausgestellt. Talentvisa wurden vor allem an Vertreter von Wissenschaft, Kunst, Kultur und digitalen Technologien vergeben, so die Zeitung.
Wie das russische Portal RBK berichtet, stieg die Zahl der von den USA an Russen erteilten O-1-Visa, der sogenannten Talentvisa, im dritten Jahr in Folge deutlich an. RBK schreibt:
"Das O-1-Nichteinwanderungsvisum ist, laut der Webseite der US-Einwanderungsbehörde, für Personen gedacht, die über herausragende Fähigkeiten in Wissenschaft, Kunst, Bildung, Wirtschaft oder Sport verfügen oder herausragende Leistungen in der Film- oder Fernsehbranche erbracht haben und in dieser Hinsicht national oder international anerkannt sind. Der Besitz eines solchen Visums berechtigt zur Arbeit in den Vereinigten Staaten. Eine Person, die dieses Visum beantragt, kann es auch für Begleitpersonen beantragen, die für die Arbeit benötigt werden. Die herausragenden Fähigkeiten und Leistungen des Visumantragstellers können durch Auszeichnungen bei international anerkannten Wettbewerben, Mitgliedschaft in bekannten Berufsverbänden und Veröffentlichungen in den Medien nachgewiesen werden."
Auch das britische Global-Talent-Visa ist ähnlich konzipiert ‒ es wird ab dem Jahr 2020 ausgestellt und richtet sich an Bewerber aus den Bereichen Wissenschaft und Forschung, Kunst und Kultur sowie digitale Technologien. Zu den Kriterien für den Erhalt des Visums gehört eine internationale Auszeichnung oder ein Nachweis über den Erfolg des Bewerbers, einschließlich Veröffentlichungen in der internationalen Presse.
Neben den USA und Großbritannien wird auch in Frankreich ein "Talentpass" für vier Jahre ausgestellt. Der Aufenthalt im Land kann verlängert und die Staatsbürgerschaft kann in Zukunft erworben werden.
Betrachtet man jedoch die Berichte über Fachleute, die in den letzten Monaten mit einem solchen Visum in die USA und nach Großbritannien gezogen sind, so stellt sich heraus, dass es nicht darum geht, dass die Russen aktiver bei der Beantragung eines solchen Visums geworden sind. Der Punkt ist, dass die westlichen Länder die Erteilung solcher Visa immer seltener verweigern und die Kriterien für die Erteilung deutlich weniger streng geworden sind.
Vor dreißig Jahren, als man von einem "Brain drain"-Effekt gesprochen hatte, sah die Situation noch ganz anders aus. Nach Angaben des russischen Portals Diletant verließen allein zu Beginn der großen Auswanderungswelle russischer Intellektueller im Jahr 1990 Hunderttausende von Spezialisten das Land, und das war erst der Anfang:
"Die westlichen Länder erkannten schnell das Potenzial Russlands als Lieferant von wissenschaftlichem und beruflichem Personal und nahmen diese Menschen bereitwillig auf. Mehr als 85 Prozent der emigrierten Wissenschaftler ließen sich zwischen den Jahren 1992 und 1996 in Deutschland, den Vereinigten Staaten und Israel nieder."
"Aus dem Land gingen die jungen, unternehmungslustigen Menschen, die bereit waren, sich im Ausland anzupassen und sich in die Welt der Wissenschaft zu integrieren. Zusätzlich zu den Wissenschaftlern kommen noch Ingenieure und hochqualifizierte Arbeitskräfte in verschiedenen Bereichen hinzu."
Doch wenn während der Perestroika der Strom der Fachleute strikt in eine Richtung ging ‒ von Russland in den Westen ‒, hat sich die Situation jetzt geändert, ebenso wie das Kräfteverhältnis in der Welt. Die Fachkräfte gehen nicht nur in den Westen, sondern auch von dort nach Russland. Man denke nur an berühmte italienische Köche, amerikanische Musiker oder deutsche Geschäftsleute, die gern in Russland arbeiten und leben. Aber noch besser als solche Plots gefällt mir die Geschichte, wie Jewgeni Schukow, ein führender BMW-Designer, nach 20 Jahren im Ausland nach Russland zurückkehrte, aus Angst, wegen seiner anderslautenden Ansichten verfolgt zu werden.
Der junge, ehrgeizige Industriedesigner reiste Anfang des Jahres 2002 ins Ausland ‒ zunächst nach Italien. Dann wurde er eingeladen, bei BMW in der Abteilung BMW Motorrad zu arbeiten. Schukow entwarf schließlich das berühmte BMW Motorrad CE 04. Er lebte viele Jahre in München, heiratete eine Deutsche, beschloss dann aber, wieder nach Russland zurückzukehren. In einem Interview mit der Zeitung Komsomolskaja Prawda sagte er:
"Die Erkenntnis, dass es notwendig ist, nach Russland zurückzukehren, kam durch die Ereignisse des Jahres 2014. Schon vorher und erst recht nach dem Maidan wurde in den Medien alles aus einem antirussischen Blickwinkel dargestellt. Über die ermordeten Kinder im Donbass oder die Verbrennungen in Odessa wurde nicht gesprochen. Und obwohl es in Deutschland nicht üblich ist, am Arbeitsplatz über Politik zu sprechen, gab es auch Unbehagen in der Kommunikation. Man hatte das Gefühl, dass die Leute die Situation anders verstanden als man selbst, dass sie von sehr einseitigen Fernsehbildern beeinflusst wurden."
Er war schockiert über die zunehmende Einschränkung der Bürgerrechte und der Meinungsfreiheit in Deutschland, den erzwungenen Sexualkundeunterricht für Kinder in der Schule, die Russophobie und die Grausamkeiten der Kinder- und Jugendhilfe. Während der Pandemie begann Schukow, sich auf die Übersiedlung nach Russland vorzubereiten, und im Jahr 2022 wurde ihm klar, dass er sich beeilen musste.
Er zog mit seiner Familie nach Russland und arbeitet jetzt im Werk von "Russkaja Mechanika", einem der größten Hersteller von Schneemobilen und Quads in Russland. Er lud auch einen seiner ehemaligen Kollegen ein, in Russland zu arbeiten ‒ und dieser kam auch. Schukow kreiert, wie er sagt, "seinen eigenen, russischen Designstil" und bringt russische Maschinen auf ein neues Niveau. Um dann schließlich BMW zu übertreffen.
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