§ 140 StGB oder: Wie die deutsche Justiz zum Repressionsapparat verkommen konnte
Von Alexej Danckwardt
Eines sei vorausgeschickt: Ich bin nach 18 Jahren Tätigkeit als Rechtsanwalt mit Schwerpunkt in der Strafverteidigung heilfroh, die Robe an den Nagel gehängt zu haben und das Elend, das sich in deutschen Gerichtssälen abspielt, nicht mehr als persönliches Trauma wahrnehmen zu müssen. Mandanten, frühere und potenzielle, konfrontieren mich mit dem Vorwurf, ich sei in einer entscheidenden Phase desertiert, und ich kann sie verstehen. Doch der Insider weiß: Auch der beste Strafverteidiger kann in dieser Zeit nichts mehr ausrichten. Anders als früher zählen vor deutschen Strafgerichten das Argument, die juristische Herleitung und das beste Plädoyer nichts mehr.
Wie so vieles in Deutschland sehe ich auch das als eine Folge des Generationenwechsels, den das Land in den letzten Jahren erlebt hat. Die alte Generation von Richtern, mit der Deutschland bei allen Problemen, Widersprüchen und Fehlurteilen gerade noch als Rechtsstaat gelten konnte, ist vor einigen Jahren abgetreten, die nachrückenden Generationen sind in vielerlei Hinsicht ein Trauerspiel.
Die alte Richtergeneration, die bisher die Rechtsprechung in Inhalt und Ton bestimmte, hatte die bis in die 1970er-Jahre ausgefochtenen Kämpfe um zwischenzeitlich elementare Rechtsgrundsätze, um Bürgerrechte und Freiheiten noch gut in Erinnerung. Sie empfand sich deshalb eher als Widersacher des Staates – der Exekutive wie der Legislative allemal. Der Willkür der Verwaltung, den politisch motivierten Entgleisungen des Gesetzgebers entgegenzutreten, galt als oberste Tugend und Pflicht. Man sah sich als dem Recht verpflichtet, und den Staat sah man als Partei im Streit um das Recht, nicht als dessen Verkörperung.
Anders die Richter der jüngeren Generationen, die inzwischen nicht nur in den unteren Instanzen die Mehrheit stellen, sondern auch die obersten deutschen Gerichte bis hin zum Bundesverfassungsgericht unter ihre Kontrolle gebracht haben. Nicht nur, dass sie Opfer eines degenerierten Bildungssystems sind, sind sie zu allem Überfluss auch noch in 1990ern oder später gereift, als der deutsche Rechtsstaat auf dem Höhepunkt der Perfektion angekommen schien. Sie haben kaum persönliche Reibungspunkte mit "Vater Staat" und glauben tatsächlich, ihre Karriere im "besten Deutschland aller Zeiten" gemacht zu haben.
Sie empfinden sich deshalb als integraler Teil des Staates, nicht länger als seine Widersacher. Staat und Recht sind in ihren Augen eins, und darum schützen sie den Staatsapparat und die sogenannte Staatsräson. Und Letztere verwechseln sie auch noch mit dem medialen Mainstream, der kaum noch kontroverse Debatten kennt oder duldet. Alles, was vom Mainstream abweicht, ist staatszersetzend. Jeder, der es wagt zu widersprechen, ist Staatsfeind und damit auch persönlicher Feind der Richter. Im Grunde ist die gesamte Richterschaft inzwischen befangen, wenn es um "Staatszersetzendes" geht. Ruhmreiche Ausnahmen gibt es natürlich, aber sie sind eben Ausnahmen.
Die Tendenz wurde spätestens offenbar, als die Richter des Bundesverfassungsgerichts mit der Bundeskanzlerin dinierten und anschließend zugunsten ihrer COVID-19-Politik entschieden. Sie machten damit klar, dass sie nicht länger beabsichtigen, unsere Freiheitsrechte gegen die Willkür der Exekutive und der Legislative zu verteidigen. Seitdem ist der Rechtsstaat in Deutschland tot, und niemand sollte die Illusion haben, dass Karlsruhe das Recht verteidigen wird, etwas zu äußern, was dem Staat, den Medien und der Mehrheit missfällt.
Wenn mir jemand vor zehn Jahren gesagt hätte, dass man in Deutschland bald nicht mehr frei über zeitgeschichtliche Ereignisse globaler Bedeutung wird debattieren können, dass abweichende Ansichten und sogar das Demonstrieren eines einzigen Buchstabens einen auf die Anklagebank und ins Gefängnis führen werden, hätte ich ihn ausgelacht.
Wie rabiat der Mainstream sein kann, hatten wir allerdings damals bereits erlebt. Als die USA, Großbritannien und ihre "Koalition der Willigen" 2003 den Irak überfielen, stürmte eine große Meute von Inhabern der Lehrstühle für Völkerrecht an deutschen Hochschulen zur Verteidigung der Aggressoren herbei und erfand das "Recht auf präemptive Selbstverteidigung". Widerrufen wurde es bis heute nicht, man musste nur zähneknirschend eingestehen, dass die Voraussetzungen in faktischer Hinsicht nicht gegeben waren – der Irak hatte keine Massenvernichtungswaffen.
Den Gegnern waren damals schon die massenwirksamen Tribünen verwehrt, Kritiker der Aggressoren und ihrer Lakaien in der Völkerrechtslehre waren ausgegrenzt, geächtet und konnten nur in studentischen Monatsblättern publizieren.
Aber sie konnten publizieren und wurden nicht bestraft. Wie auch die Befürworter des völkerrechtswidrigen Angriffskrieges gegen den Irak nicht belangt wurden. Zu Recht nicht, denn so widerwärtig wissenschaftliche, journalistische und publizistische Prostitution auch ist, auch sie ist von Art. 5 GG – der Meinungs-, Rede- und Pressfreiheit und der Freiheit der Wissenschaft – gedeckt. Die Gesellschaft muss mit sich selbst ausmachen, wie sie mit richtigen Mindermeinungen und blutrünstigen Mehrheitsmeinungen umgeht, die Finger der Strafjustiz haben in diesen Debatten nichts zu suchen.
Fast zwei Jahrzehnte später ist es Russland, das sich auf das "Recht auf präemptive Selbstverteidigung" beruft. Wie ich meine, mit weitaus besseren Argumenten als im Falle der USA und ihrer "Koalition der Willigen". Wie Wladimir Selenskij die atomare Aufrüstung der Ukraine angedroht und der Saal in München dazu frenetisch Beifall geklatscht hat, habe ich mit meinen eigenen Ohren gehört. Und auch die Biolabore gab es tatsächlich, die Frage ist lediglich, was dort getrieben wurde. Von einem "Plan B", der unverhohlen die militärische Rückeroberung des Donbass und der Krim meinte, sprach im offiziellen Kiew jedermann, offen und unverblümt. Ganz zu schweigen davon, dass die Ukraine Russland direkt in der Leber steckt und nicht wie der Irak von den USA durch Ozeane und Tausende von Kilometern getrennt ist.
Und nun ist plötzlich alles ganz anders in Deutschland: Nicht nur, dass die Völkerrechtler hierzulande das "Recht auf präemptive Selbstverteidigung" vergessen haben und der Wissenschaftliche Dienst des Deutschen Bundestages seine Ausarbeitungen dazu schwer auffindbar in den Tiefen der Server versteckt hat. Das ist zwar verlogen, wäre aber allein noch halb so schlimm. Schlimmer ist, dass jede Äußerung der abweichenden Meinung, dieses Mal pro "Recht auf präemptive Selbstverteidigung", Selbstbestimmungsrecht des Donbass und dessen Recht auf – nicht präemptive, sondern ganz und gar klassische, naturgegebene – Selbstverteidigung, den Sprechenden ohne Verzug vor den Kadi führt. Für das einen Absatz zuvor Geschriebene käme ich für drei Jahre ins Gefängnis, wenn die deutsche Justiz meiner habhaft würde.
Das ist kein Hirngespinst und keine Paranoia, das ist bereits Praxis deutscher Gerichte. In Hamburg sitzt ein Mann seit dem 4. August 2022 für die Verwendung des Z-Symbols in Untersuchungshaft. Das Oberlandesgericht Hamburg billigte dies und die Eröffnung des Hauptverfahrens vor dem Landgericht mit Beschluss vom 31. Januar 2023, was auf eine besonders hohe erwartete Freiheitsstrafe deutet. In Nordrhein-Westfalen erhielt ein Kommunist Ende Juli einen Strafbefehl, in dem er zu einer Geldstrafe von 3.500 Euro verurteilt wurde, weil er in einer geschlossenen Facebookgruppe in einem Satz andeutete, dass das Vorgehen Russlands von Artikel 51 der UN-Charta gerechtfertigt sein könnte. Über weitere Fälle dieser Art hat RT DE berichtet.
Das alles ist nichts anderes als richterliche Willkür und Rechtsbeugung. Denn § 140 StGB war – ob mit oder ohne Artikel 5 Grundgesetz – niemals dafür gedacht, Debatten über zeitgeschichtliche Ereignisse von allgemeiner und in diesem Fall sogar globaler Bedeutung zu unterbinden. § 140 StGB hat den Zweck, erstens die Gefühle von Opfern schwerer Straftaten und ihrer Angehörigen zu schützen, wenn öffentlich erklärt wird, es sei gut und richtig, was ihnen widerfahren ist. § 140 StGB hat zweitens den Zweck zu verhindern, dass eine gesellschaftliche Stimmung entsteht, die die Begehung weiterer Straftaten fördert.
Für beides muss das Verbrechen als Verbrechen gelobt oder sonst gutgeheißen werden. Die Leugnung, dass eine Tat überhaupt begangen wurde, das Anführen rechtlich vorgesehener Rechtfertigungsgründe, die Debatte darüber, wie schwer die Schuld wiegt, reichen dafür jedenfalls so lange nicht aus, bis alle tatsächlichen und rechtlichen Fragen gerichtlich in letzter Instanz ausgeurteilt sind. Meines Erachtens fällt auch danach eine sachliche Debatte darüber, ob nicht ein Justizfehler vorliegt, nicht unter den Tatbestand des Billigens, im Falle des aktuell laufenden Krieges jedenfalls hat der einzig dazu berufene Internationale Gerichtshof noch nicht einmal entschieden.
Zu erklären, es sei gut und richtig, dass das mutmaßliche Tatopfer von Wetterfrosch und Talkshowhost K. vergewaltigt wurde, ist tatbestandlich Billigen einer Straftat. Zu sagen, man denke, dass K. die Frau gar nicht vergewaltigt habe und die Frau wahrscheinlich lüge, ist kein Billigen. Zu schreiben, es sei wunderbar, dass Person A Person B tötete, ist Billigen. Zu meinen, A habe in Notwehr gehandelt, weil B – wie Zeugen gesehen haben – in dem Augenblick des tödlichen Schusses seine geladene Pistole auf A richtete, ist sachliche Diskussion von Rechtfertigungsgründen und damit kein Billigen einer rechtswidrigen Straftat. Und zwar völlig unabhängig davon, was Staatsanwalt und Richter ihrerseits über das jeweilige Geschehen denken oder was "in Wahrheit" geschehen ist.
Hinzu kommt, dass seit der Einführung des Grundgesetzes Richter verpflichtet sind, jede Strafnorm des Strafgesetzbuches so auszulegen, dass sie im Einklang mit ihm, in diesem Fall mit Artikel 5 steht. Und Artikel 5 GG schützt nun mal das Recht auf kontroverse Debatten über zeitgeschichtliche Ereignisse allgemeiner Bedeutung. Können das die Richter in Hamburg und Düsseldorf sowie überall sonst in der Bundesrepublik vergessen haben? Nein, sie wissen das, und sie handeln bewusst gegen den Auftrag des Grundgesetzes.
Was den leidigen Buchstaben Z angeht, so hätten die Richter am OLG Hamburg schlicht eine der wenigen höchstrichterlichen Entscheidungen zu § 140 StGB lesen müssen. Im Jahr 1969 hatte sich der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofes (1 StR 161/68) damit zu beschäftigen, ob ein Buch, das dem deutschen – teilweise terroristischen – Widerstand in Südtirol gewidmet war, den Tatbestand des Billigens von Straftaten erfüllt. Er sprach die angeklagten Verleger im Ergebnis frei.
Interessant für die gegenwärtige Welle der Strafverfolgung wegen des Z-Symbols ist, was der BGH damals zu der Deutlichkeit der zustimmenden Erklärung ausführte: Diese muss aus sich heraus verständlich sein, so, dass die Zustimmung zur Straftat "als solche unmittelbar, ohne Deuteln, erkannt wird". Und das ist im Falle eines einzigen Buchstabens schlichtweg unmöglich. Um von einem Buchstaben, in diesem Fall Z, auf eine ganze Erklärung zu kommen, müssen kilometerweite Umwege gegangen werden über die Feststellung dessen, wer, wann, wo und wie oft den Buchstaben wofür genau verwendet hat. Das ist nicht nur "Deuteln", das ist ein mehrbändiges deutelndes Gutachten.
Braucht man es noch deutlicher? Der BGH erklärte in jenem Urteil:
"Es fehlt daher an einer Billigung im Sinne dieser Strafvorschrift, wenn eine indifferente oder gar anders lautende Kundgebung erst durch außerhalb der Erklärung liegende Umstände, also erst im Wege des Rückschlusses, als zustimmende Kundgebung gewertet werden könnte."
Will es jemand wirklich wagen zu behaupten, dass all das, was in den Buchstaben Z hineininterpretiert wird, von irgendwo anders her kommt, als aus außerhalb der Erklärung liegenden Umständen? Konkret aus der Praxis der Verwendung des Buchstabens auf Fahrzeugen der russischen Armee?
Die Sorge der Bundesrichter damals war, dass im Falle ausufernder Auslegung, der sie einen Riegel vorschoben, § 140 StGB nicht mehr dem Bestimmtheitsgebot des Grundgesetzes entsprechen wird und die Rechtsunterworfenen gar nicht mehr wissen können, was verboten und was erlaubt ist. Sie würden sich wundern, wenn sie wüssten, was das Bundesverfassungsgericht im 21. Jahrhundert so alles an Unbestimmtem, Grundgesetzwidrigem, Willkürlichem, Freiheitsberaubendem und Rechtsbeugendem durchwinkt.
Wir leben eben in einem anderen Deutschland, mit anderen Richtern und einem anderen Begriff von Recht und Anstand als 1969. Gut und gerne?
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