Warum ich nicht mehr wählen gehe
Von Tom Wellbrock
Ich habe das Argument schon so oft gehört, dass ich mit dem Zählen aufgehört habe:
"Wer nicht wählt, gibt seine Stimme der stärksten Partei."
Das hat mich immer peinlich berührt, das schlechte Gewissen verhinderte stets, dass ich aufs Wählen verzichtete. Ok, dachte ich, bevor die CDU (oder welche Partei auch immer gerade auf der Regierungsbank saß) von meiner Nichtwahl profitiert, mache ich eben mein Kreuz bei der Partei "XY ungelöst". So fühlte ich mich als kritischer Mensch, als Demokrat und Bürger, der der moralischen Verpflichtung nachkommt, die repräsentative Demokratie nach Kräften zu unterstützen.
Und nun habe ich eine Entscheidung getroffen. Nun, eigentlich schon nach der letzten Bundestagswahl, aber jetzt möchte ich meine Beweggründe erläutern.
Die (un-)freie Wahl
Ich möchte kurz erklären, wie ich den Zweck von Wahlen definiere. Mit Wahlen bekommt man die Möglichkeit, sich zwischen unterschiedlichen Parteien und deren Wahlprogrammen entscheiden zu können. Zwischen dem Wahlprogramm und der praktizierten Politik klafft ein Abgrund, man muss als Wähler also damit rechnen, dass die Inhalte des Programms womöglich nach der Wahl keine Rolle mehr spielen. Das ist – solange es nicht ausufert – durchaus hinnehmbar.
Entscheidend für eine sinnvolle Wahl ist selbstverständlich die Unterschiedlichkeit der Parteien. Wenn diese lediglich verschiedene Abkürzungen und Farben haben, reicht das nicht für eine freie Entscheidung aus. Wenn die FDP beispielsweise für individuelle Freiheit und die Unterstützung von Unternehmen steht, die Partei Die LINKE als Klientel Arbeiter und Angestellte favorisiert und Bündnis 90/Die Grünen für konsequenten Umweltschutz stehen, habe ich als Wähler tatsächlich die Wahl, nach meiner Interessenlage mein Kreuz zu machen.
Nun ist aber die Unterschiedlichkeit faktisch nicht mehr gegeben. Man muss sich nur die Legislaturperioden unter der Führung von SPD und CDU/CSU ansehen und beide Parteikonstellationen heute miteinander vergleichen. Die sozialdemokratischen historischen Ansätze wie etwa die Ost-West-Entspannung der SPD sind gewaltsam in Luft aufgelöst worden, die Union als konservative, traditionelle Werte erhaltende Partei treibt sich in einer "Mitte" herum, die es nicht gibt und quält ihre Wähler mit einer Mischung aus neoliberalem Schockgebaren und reaktionärem Populistengeschwätz.
Die Grünen sind so sehr Umweltpartei wie ein Kampfjet, die LINKE kümmert sich so liebevoll um ihre Klientel wie ein Söldner, die CDU ist so christlich orientiert wie ein Braunbär.
Die genannten Tatsachen führen unweigerlich zu einer gewissen Rat- und Hilflosigkeit beim Wähler, dem die Grundlagen für seine Wahlentscheidung praktisch vollständig genommen worden sind.
Aufarbeitung in der repräsentativen Demokratie?
Um sich für die "richtige" Partei zu entscheiden, muss man also heute eine Menge Kompromisse eingehen. Wenn die sich anbietenden Parteien keine echten Alleinstellungsmerkmale mehr haben, muss man sich an anderen Dingen orientieren, zum Beispiel an Persönlichkeiten oder übergeordneten Programmatiken. Man könnte sich also für eine Partei entscheiden, die sich konsequent gegen Kriege und Waffenlieferungen ausspricht (allerdings ohne Gewähr, wie uns die Grünen eindrucksvoll demonstriert haben). Man könnte die Tierschutzpartei wählen, wohl wissend, dass man dadurch nichts erreicht, weder in Berlin noch im Tierheim.
Doch vor alledem steht eine ganz andere Frage: Werden Wahlen und die daraus resultierende Politik dem Prinzip der repräsentativen Demokratie gerecht?
Inzwischen muss ich mir diese Frage mit einem klaren "Nein" beantworten. In erster Linie, weil wir uns von der Demokratie als solcher entfernt haben. Seit während der Corona-Episode demokratiefeindliche Maßnahmen mit radikalen und völlig absurden Argumenten vorgetragen und realisiert wurden, hat es eine grundlegende Veränderung im Land gegeben. Zahlreiche an der Macht befindliche Personen haben ihr antidemokratisches Gesicht gezeigt, und je länger die "Pandemie" dauerte, desto faschistoider wurde die Praxis.
Ich wäre sogar ob dieser erschreckenden Entwicklungen als Mensch tolerant genug, um zu verzeihen, Entschuldigungsbitten anzunehmen und optimistisch in die Zukunft zu blicken, Voraussetzung dafür wäre aber eine Aufarbeitung, die diesen Namen verdient. Prämisse wäre also eine präzise Analyse darüber, wo durch wen welche undemokratischen Praktiken anzutreffen waren. Im nächsten Schritt stünde die Frage im Raum, wie damit umzugehen sei, wer also eine Chance bekommt, wieder in echte demokratische Prozesse eingebunden zu werden, wer glaubwürdig genug sei und in Wort und Tat zeigt, dass er bereut und wieder auf den Pfad der Demokratie zurückfinden will.
Das würde naturgemäß auch dazu führen, dass bestimmte Personen – je nach Schwere ihrer Taten – diese zweite Chance nicht bekommen. Ich werde hier keine Namen nennen, es würde nichts bringen, aber es gibt diese Personen, Personen, die durch Taten oder auch Worte Unverzeihliches an den Tag gelegt haben.
Es findet keine Aufarbeitung statt, was war, bleibt nebulös und wird totgeschwiegen. Dabei steckten wir während der Corona-Episode in einer tiefen demokratischen Krise. Eine solche Krise in der erlebten Form zu ignorieren und mit dem alten Personal weiter am Entstehen der nächsten handgemachten Krisen zu arbeiten, ist unhaltbar, unakzeptabel.
Parteien oder Systeme wählen?
Weiter oben habe ich auf die Unterscheidbarkeit von Parteien hingewiesen, die ein unverzichtbares Merkmal einer Demokratie ist. Sie ist kaum noch feststellbar und war somit für mich ein Grund, lange über Wahlen nachzudenken.
Kommen wir auf das Zitat von oben zurück:
"Wer nicht wählt, gibt seine Stimme der stärksten Partei."
Was aber, wenn die "stärkste Partei" austauschbar ist? Was, wenn die Parteien inhaltlich so gleichförmig geworden sind, dass es egal ist, welche von ihnen die stärkste oder schwächste ist? Was ist mit der Tatsache anzufangen, dass die Grünen, die jetzt dabei sind, weltweiten Unfrieden zu stiften, bei der Bundestagswahl 2021 gerade einmal 14,8 Prozent der Stimmen erhalten haben? Dann bricht das Argument in sich zusammen.
Für mich stellt sich nicht mehr die Frage, welche Partei ich wähle, sondern welches System. Das System in Deutschland ist zu einer Ein-Parteien-Konstruktion geworden, die zwar Vielfalt und Wahlmöglichkeiten proklamiert, aber das Gegenteil umsetzt. Fast alle Parteien haben sich einander angeglichen und verstecken dies nicht einmal mehr. Wäre ich eine non-binäre Person, hätte ich die freie Auswahl unter den mit Regenbogenfarben beschmierten Parteien, die mich alle lieben, zumindest so lange, bis der politische Wind sich dreht und mich alle hassen. Als jemand, der andere Sorgen hat als über Geschlechtsumwandlungen, Pubertätsblocker oder meine Lebensgestaltung als ein vier Monate alter Fuchs nachzudenken, habe ich faktisch keine freie Wahl mehr.
Der Unterschied zwischen den meisten Wählern und mir besteht in der subjektiven Empfindung, dass mein Gang an die Wahlurne nicht bedeuten würde, einer bestimmten Partei Vorrang einzuräumen, sondern das inzwischen komplett korrupte und undemokratische System zu unterstützen. Mit meinem Kreuz – egal, wo ich es mache – bejahe ich die Art der Politik und die Weise, wie Demokratie von der Politik definiert wird, nämlich als undemokratisches Instrument der Machtausübung.
Um überzeugt und guten Gewissens wählen zu können, müsste ich ein grundlegendes Vertrauen in das System der praktizierten Politik haben. Doch dieses Vertrauen ist mir abhandengekommen, es ist einfach verschwunden, "weg regiert" worden, und so wäre es ein Verrat an mir selbst, würde ich zur Wahl gehen, obwohl ich doch weiß, dass ich das gesamte System für korrumpiert und korrupt halte. Ich würde mich an einem Verfahren beteiligen, an dessen Ehrlichkeit, Wirksamkeit und Rechtsstaatlichkeit ich nicht glaube. Meine Stimme einer Partei zu geben, bedeutet also, das politische System zu unterstützen und als richtig anzusehen. Da mir das nicht möglich ist, wäre das Wählen unaufrichtig und falsch.
Noch eine abschließende Bemerkung: Immer wieder höre ich, ich dürfe mich nicht beschweren, wenn ich nicht zur Wahl gehe. Das wäre dann also nur das den Wählern vorbehaltene Recht. Da weder die Wähler noch ich als Nichtwähler etwas bewirken, würde ich allerdings vorschlagen, dass das Recht, sich zu beschweren, allen zugestanden werden sollte.
Es wäre vielleicht ein Kompromiss, auf den wir uns einigen könnten.
Tom J. Wellbrock ist Journalist, Sprecher, Texter, Podcaster, Moderator und Mitherausgeber des Blogs neulandrebellen.
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